Antisemitismus in Deutschland - „Es hat sich etwas Fundamentales verändert“

Der Bundestag hat heute der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Aber was ist mit dem heutigen Antisemitismus? Maram Stern, Sohn von Schoa-Überlebenden, spricht im Interview über die Demos gegen rechts und die Frage, warum nach dem 7. Oktober der Judenhass auch in bürgerlichen Kreisen wieder salonfähig ist.

Pro-Palästina-Demo in Berlin, ausgerechnet am Internationalen Holocaust-Gedenktag / dpa
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Maram Stern, geboren 1955 in Berlin, ist geschäftsführender Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses und lebt in Brüssel. 

Herr Stern, in Deutschland gehen mehrere hunderttausend Menschen auf die Straßen und demonstrieren gegen Rechtsextremismus oder auch „gegen rechts“. Wie blicken Sie auf die Demonstrationen?

Ich weiß nicht, wieso es in diesem Ausmaß plötzlich passiert, aber zunächst bin ich beeindruckt und finde dieses Zeichen sehr gut. Dass so viele bei so einem ungemütlichen winterlichen Wetter auf die Straße gehen, um „gegen rechts“ zu demonstrieren, ist ein gutes Signal. Ich weiß, wie schwer es ist, Leute auf die Straße zu bekommen, dafür habe ich selbst genügend Demonstrationen organisiert. Es ist auch in meinem Interesse als Jude dieses Landes, dass man nicht zulässt, dass die Rechtsextremen an die Macht kommen.

Was treibt die Menschen Ihrer Meinung nach auf die Plätze und Straßen?

Es ist die berechtigte Angst vor einen wachsenden Rechtspopulismus in Deutschland, die sich in den Demonstrationen ausdrückt. Aber gewiss ist „gegen rechts“ eine sehr vereinfachende Formel. Es ist erschreckend, wenn ich bei den Kundgebungen Palästinenserflaggen sehe und Plakate, die antisemitische Inhalte haben. 

Am 7. Oktober haben Hamas-Terroristen Israel überfallen, was hat sich seitdem verändert?

Für mich muss ich sagen, am 7. Oktober hat sich alles verändert. Innerhalb von Stunden wurde Israel weltweit vom Opfer zum Täter umgedeutet. In vielen westlichen Gesellschaften wurde Israel wieder zum Gegner. Der 7. Oktober hat eine neue Polarisierung gebracht und dem Antisemitismus weltweit neuen Aufschwung gegeben. Obwohl es einen Angriff auf Juden gegeben hatte, obwohl Juden in einem nicht mehr gekannten Ausmaß ermordet wurden, weil sie Juden waren. Ich arbeite seit fast 30 Jahren für den Jüdischen Weltkongress; das, was der 7. Oktober bewirkt hat, habe ich noch nicht erlebt.

War auf den Demos „gegen rechts“ dieser Anstieg von Antisemitismus ausreichend Thema?

Wir müssen das zunächst schon unterscheiden. Es gibt jetzt durch die Auseinandersetzung mit der AfD diesen starken Impuls, gegen Rechtspopulismus auf die Straße zugehen – im Sinne des „Wehret den Anfängen“. Und hier ist es gut, dass Deutschland zeigt, wir sind kein rassistisches Land, welches sich pauschal gegen Ausländer oder einzelne Gruppen wendet. Zugleich ist der erschreckende Anstieg von antisemitischen Straftaten, wie wir sie jetzt gemeldet bekommen, im Bewusstsein der meisten Deutschen noch nicht ausreichend angekommen.  

Sie haben gesagt, der 7. Oktober habe alles verändert. Wie bewerten Sie das Agieren der Bundesaußenministerin und der Bundesregierung seitdem?

Maram Stern / dpa

Ich wünschte mir, dass die Bundesregierung deutlicher an der Seite Israels steht. Aber anders als in anderen europäischen Ländern ist das deutsche Verständnis für Israel schon stärker ausgeprägt. In Belgien, Irland, Luxemburg nehme ich ein Unverständnis und teilweise auch Feindseligkeit gegenüber Israel wahr. Diese dortige Solidarisierung mit Palästina ist eingebettet in diesen großen postkolonialen Diskurs. Tatsächlich ist seit dem 7. Oktober diese Sichtweise geradezu schick geworden. Die Politik reagiert auf diesen neuen anti-israelischen und anti-jüdischen Trend. Politiker wollen Wahlen gewinnen, und es scheint, dass man in einigen europäischen Ländern mit Antisemitismus wieder Wahlen gewinnen kann. 

Sie überblicken die Entwicklungen weltweit. Inwieweit ist dieser Diskurs „Israel als Kolonialmacht“ und „Israel als Apartheidstaat“ auf dem Vormarsch?

Es sind diese Lügen und diese antisemitische Propaganda, die auf dem Vormarsch sind. Aber der Grund für die Ausbreitung ist, dass Antisemitismus wieder nützlich geworden ist. Er bringt Aufmerksamkeit, Wählerstimmen oder einfach nur eine mobilisierte abgelenkte Masse. Das sind die Gründe, warum zum Beispiel der türkische Präsident Erdogan plötzlich wieder so massiv gegen Israel agitiert. Es hilft ihm. Das Verhalten des französischen Präsidenten Macron ist nur erklärlich vor dem Hintergrund von sieben Millionen muslimischen Wählerstimmen. Und nur so ist auch die Entwicklung beispielsweise in Indonesien zu erklären. Die meisten wissen dort nicht, wo Israel liegt und wo Palästina liegt, aber die meisten palästinensischen Fahnen weltweit werden in Indonesien verkauft.

Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm kritisiert die Identitätspolitik, ordnet aber auch den Zionismus als eine Art Identitätspolitik ein, weil er Menschen nach Juden und Nichtjuden sortiere. Das sei gegen die Universalität der Menschenrechte. Hat er Recht? 

Um das zu beantworten, bin ich eigentlich nicht objektiv genug. Aber die Kritik am Zionismus scheint mir aus der Zeit gefallen. Warum kommt sie wieder so hoch? Warum ist sie wieder populär? Eigentlich gibt es heute keinen Zionismus mehr, Zionismus gab es noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute gibt es einen jüdischen Staat, eine liberale westliche Demokratie. Für jeden Juden auf der Welt ist die Existenz des Staates Israel wichtig, weil es eine Art Lebensversicherung ist. Obwohl ich persönlich kein Israeli bin, ist trotzdem Israel in meinem Herzen und in meinem Blut. 

 

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Was ist der Zusammenhang von Antisemitismus und Israelkritik?

Der Zusammenhang beginnt bei einer mangelnden Differenzierung. Ich werde inzwischen in Europa oft nicht mehr als Jude gesehen, sondern als Israeli. Als Jude werde ich als Vertreter Israels gesehen, das bin ich trotz aller Verbundenheit aber nicht. Was passiert in deinem Land, werde ich gefragt. Ich sage dann, es gibt Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, denn mein Land ist Deutschland. Die Frage nach „meinem Land“ ist schon ein Teil von Antisemitismus.

Wie ordnen Sie die Narrative von „rassistischen Siedlern“ ein, die Palästinensern das Land wegnehmen würden?

Es gibt Probleme in Israel, wie in eigentlich allen Ländern der Welt. Es gibt Verrückte überall, auch in der Politik. Doch im Falle Israels werden solche Probleme und Streitfragen zu einer Keule gegen Juden gemacht. Das ist das Erschreckende, das passiert.  

Sie haben mal gesagt, das Gedenken an den Holocaust verhindere dessen Wiederholung nicht. Was hilft heute gegen Antisemitismus? 

Wenn ich das wüsste, würde ich es schon tun. Ehrlich gesagt bin ich ratlos, und ich frage mich jeden Tag, was wir tun können. Warum kommen alte Stereotype wieder hoch? Warum sagen Leute, Juden hätten Corona verursacht, weil sich damit Geld verdienen lasse? Warum sagen Leute, die Juden haben die Online-Apotheken erfunden, um unsere Apotheken kaputt zu machen? Woher kommt so etwas? Ich weiß es nicht.

Wie erleben Sie diese Wiederkehr des Antisemitismus? 

Judenfeindlichkeit wird im wahrsten Sinne des Wortes wieder salonfähig. Heute trauen sich wieder mehr Leute, auch im privaten Umfeld, Judenwitze zu machen. Heute können sie im Berlin im Café Einstein gegen Juden reden, und der Gesprächspartner steht nicht auf, sondern bleibt sitzen. Antisemitismus verbreitet sich aber auch über die sozialen Medien, er ist dort sozusagen Alltag geworden.   

Es gibt in Deutschland den linken und rechten Antisemitismus, und es gibt den islamistischen Antisemitismus. Wie unterscheiden sich diese Phänomene? 

Der sogenannte zugewanderte Antisemitismus ist ein erklärbares Phänomen. Durch die politisch-ideologische Prägung der Migranten und ihrer Milieus kommt er nach Europa. Er wird dort auch relevant, weil er Wählerstimmen mobilisieren kann. Ich will dieses Problem keineswegs kleinreden. Aber deutlich unerklärlicher ist für mich das Wiedererwachen eines, wenn man so will, bürgerlichen Antisemitismus. Wieso ist ein normaler Bürger von Belgien, der nicht muslimischer Herkunft ist, plötzlich wieder gegen die Juden? Wieso sind da in den Köpfen der Leute wieder diese Ideen, dass Juden reicher sind? Woher kommt das? Dafür gibt es keine Erklärung. 

Der Berliner Kultursenator Joe Chialo wollte mit seiner Antisemitismusklausel deutlich machen, dass die deutsche Hauptstadt keine Kunst fördert, die antisemitisch ist. Jetzt hat er Regelung zurückgezogen. Wie bewerten Sie das?

Ich bedauere das sehr, weil es meiner Meinung nach in keinem gesellschaftlichen Bereich Platz für irgendwelche antisemitische Propaganda oder antisemitische Zeichen geben sollte. Antisemitismus muss um jeden Preis bekämpft werden, auch dort wo er unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit versteckt wird. Die Documenta in Kassel war doch ein Signal. Dass die Kulturstaatsministerin Claudia Roth sich bis heute nicht entschuldigt hat, finde ich schade. 

Hat die deutsche Politik hinreichend erkannt, dass der schlafende Antisemitismus nach dem 7. Oktober erneut erwacht ist? 

Ich bin überzeugt, dass genau das die Bundesregierung noch nicht ausreichend erkannt hat, dass sich etwas Fundamentales verändert hat und der Antisemitismus sich verstärkt ausbreitet. Der Beauftragte gegen Antisemitismus, Felix Klein, leistet allerdings gute Arbeit.

Das Gespräch führte Volker Resing.

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