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Lucie Suchá

Türkische Männer-Selbsthilfegruppe - „Angst wäre die falsche Reaktion“

Wie helfen sich Türken in Berlin-Neukölln mit ihren zahlreichen Problemen selbst? Was erwarten sie vom NSU-Prozess? Lucie Suchá, tschechische Gastjournalistin bei Cicero Online, besuchte eine Selbsthilfegruppe

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Suchá, Lucie

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Es klingt irgendwie komisch. Ein türkisches Gespräch, in das sich ab und zu ein deutsches Wort einschleicht: „Harz IV“, „Jobzentrum“, „Gutachten“. Die Männer sitzen in einem kleinen Raum in Berlin-Neukölln, nicht weit entfernt von einem Haus mit der riesigen Aufschrift: „Kein Mensch ist illegal“. Vor dem Fenster läuft ein Polizeieinsatz: Die Beamten verhören einen kräftig gebauten Glatzkopf in schwarzem Kapuzensweatshirt.

[[{"fid":"53443","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":146,"width":220,"style":"width: 220px; height: 146px; margin: 10px 5px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Die Männer drinnen haben andere Sorgen: „Ich habe heute gelesen, dass ein Drittel aller Kinder von Harz IV betroffen ist“ eröffnet Kazim Erdogan, Psychologe, das Gespräch. Erdogan ist für sein ehrenamtliches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden. Er hat diese Treffen vor sechs Jahren ins Leben gerufen und führt sie bis heute: die Vätergruppe in Neukölln.

„Die einzige Arbeit, die ich finden kann, ist eine, bei der ich acht Stunden am Tag arbeite und weniger als Harz IV bekomme,“ klagt einer der Teilnehmer auf Türkisch. Kazim Erdogan erklärt: „Manche sprechen schon gut Deutsch, aber viele auch nur wenig. Ich möchte, dass es alle gut verstehen.“

In diesem Raum tauchen die verschiedensten Geschichten auf. Da wird von Männern berichtet, die morgens aus dem Haus gehen, um erst am Abend zurückzukommen – nur um ihre Kinder Glauben zu machen, dass sie eine Arbeit hätten. Um sich nicht die Blöße zu geben, dass sie nicht fähig seien, ihre Familie selbst zu ernähren. Einer erzählt davon, wie sich deutsche Beamte benehmen, die von ihren Vorurteilen getrieben würden. Mustafa wiederum erklärt, wie schwierig es sei, einen Job zu finden, obwohl er die vergangenen 17 Jahre gearbeitert hat – bis seine Fabrik allen Angestellten kündigte.

Alle diese Menschen leben in Berlin. Sie alle kommen regelmäßig zu Erdogan, der selbst auch aus der Türkei stammt. Bald wird er sein vierzigjähriges Jubiläum hier in Deutschland feiern. „Am Anfang wollte ich hier studieren und nach vier Jahren zurückkehren. Aber dann hat sich alles irgendwie verlängert,“ erzählt er.

Mittlerweile gibt es schon sechs seiner Vätergruppen in Berlin, diese hier in Neukölln aber war die erste. Unter dem Namen Erdogan aber kennen ihn wohl die wenigsten in seinem Viertel. „Erdogan? Meinen Sie den Kalif von Neukölln?“ fragt mich der Mann, der mir gleich zu Beginn die Tür öffnet. Kalif also, der Herrscher.

„Er hat mir viel geholfen. Als er das letzte Mal aus dem Jobzentrum kam, brachte er uns einen Haufen praktischer Informationen mit,“ lobt Mustafa. Bald will der  Kalif einen der Beamten aus dem Jobzentrum auch in ihre Sitzung einladen.

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Erdogans Hauptanliegen aber ist ein anderes: Er bringt türkischen Männern bei, wie sie Väter nach westlichem Vorbild werden können. „Wir leben in einer vaterlosen Gesellschaft, es gibt keine Männer, keine Väter, die sich für die Erziehung interessieren,“ erklärt er. „Die Männer gehen lieber ins Männercafé und spielen Karten, als sich um ihre Kinder zu kümmern.“

Die Probleme, die türkische Männer haben, sind häufig die gleichen wie im Rest der Gesellschaft: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit, Kommunikationslosigkeit, Probleme mit der Sprache, mit Trennungen, mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt.

„Bis zu 80 Prozent der Ehen, die in der Türkei geschlossen werden und bei denen der Partner dann hierher gebracht wird, enden mit Scheidung. Die Probleme entstehen, wenn man aus demselben Land kommt, aber unter unterschiedlichen Bedingungen sozialisiert wurde.“ Jedes Jahr gibt es in etwa 30.000 solcher Eheschließungen mit einem Partner, der in der Türkei lebt, sagt Erdogan.

Dann kann es auch zur Gewalt kommen. Die Zahl der Ehrenmorde registriert die Polizei nicht. Die Fälle aber sind bekannt. Jener von Aylin Korkmaz zum Beispiel, einer Frau aus Baden-Baden, die sich von ihrem Mann trennen wollte. Er versuchte daraufhin, sie mit 27 Messerstichen zu töten.

Kazim Erdogan kennt diese Frau. Und er kennt andere ähnliche Fälle. „Es ist schwer, wenn man große Hoffnungen in die Ehe steckt und diese dann scheitern. Wenn man darauf nicht vorbereitet ist, ist das schwer auszuhalten. Genau dafür brauchen wir diese Gruppen. Wir müssen alles unter die Lupe nehmen. Wir müssen den Leuten klar machen, dass man sich auch scheiden lassen kann. Genau so, wie man geheiratet hat. Auch wenn es schlimm ist. Es ist kein Weltuntergang.“

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In den vergangenen Jahren hat Erdogan vielen seiner Landsleute etwas beigebracht. Aber auch er habe etwas gelernt, fügt er hinzu: Selbst, wenn die Menschen, die ihm gegenübersitzen, etwas Schlimmes angestellt haben, wenn sie zum Beispiel ihre Frau geschlagen haben, versuche er, ihre positiven Seiten zu sehen. Dann könne man viel mehr erreichen.

Das klingt geradezu christlich. Und so erscheinen die Ergebnisse des Religionsmonitors von der Bertelsmann Stiftung in diesem Raum in einem ganz neuen Licht: Mehr als die Hälfte der Deutschen halte den Islam für eine Bedrohung, heißt es da. Das passt nicht hierher, wo sich eine Männergruppe gegründet hat, die Moscheen, Kitas und Schulen besucht, mit anderen Vätern über Gewalt spricht, um etwas grundlegend zu verändern. Bizarr wirken die Ergebnisse der Umfrage auch, wenn man hier aus dem Fenster schaut: An das Fenster hinter den teetrinkenden Männern gelehnt, sitzt ein weiterer Mann in Lederjacke, ein großes Emblem ist auf seinem Rücken zu sehen: gekreuzte Schwerter und ein Dreizack. Den kahlrasierten Kopf nach rechts gewandt, beobachtet er den noch laufenden Polizeieinsatz vor der Tür.

Mit Blick nach draußen und dem Wissen um den anlaufenden NSU-Prozess drängt sich eine ganz andere Frage auf: Haben sie hier Angst vor Rechtsextremisten? „Der Prozess hat für Unsicherheit, für Wirbel gesorgt, aber richtig Angst haben wir nicht. Warum auch? Ich lebe hier seit 40 Jahren. Angst wäre die falsche Reaktion“, erklärt Erdogan.

Auf dem Tisch stapeln sich die kleinen leeren Teegläser. Erdogan rät den Männern, wegen ihrer Harz-IV-Probleme mit den Kindern zu sprechen. „Erklären Sie, dass Sie nicht daran Schuld sind. Und dass Sie selber nicht glücklich sind mit der Situation. Und sagen Sie ihnen, dass sie in der Schule viel mehr lernen müssen, dass sie aktiv werden müssen, wenn sie etwas werden möchten.“

Den Polizisten auf der Straße ist mittlerweile die Geduld ausgegangen. Sie legen den Glatzkopf in Handschellen und bringen ihn zum Polizeiwagen. Warum? Diese Frage wird die Polizei auf eine Anfrage von Cicero Online nicht beantworten. Der Wagen braust davon und auch der andere Mann vom Fenstersims verschwindet. Die Männer von der türkischen Vätergruppe machen sich auf den Heimweg zu ihren Familien. Willkommen in Neukölln.

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