
- Eine deutsche Lebenslüge
Friedrich Merz hat beim Schaulaufen für den CDU-Parteivorsitz während der dritten Regionalkonferenz die Frage aufgeworfen, ob das Asylrecht in seiner jetzigen Form beibehalten werden kann. Empörte Reaktionen sind ihm sicher. Dabei war es höchste Zeit, das Thema auf den Tisch zu bringen
Es ist schon seltsam: Je häufiger von manchen CDU-Granden verkündet wird, das Thema Migration interessiere die meisten Bürger überhaupt nicht mehr, umso intensiver scheint sich die Union genau damit zu beschäftigen. Der aktuelle Streit über den UN-Migrationspakt zeigt mehr als deutlich: Was die Leute umtreibt, lässt sich nicht von oben dekretieren. Und die CDU entwickelt sich dieser Tage in geradezu atemraubenden Tempo von einer Merkel-Partei zu einer Volkspartei – weil nämlich zunehmend offen auch über heikle Dinge wie Flucht, Asyl oder Wanderungsbewegungen im allgemeinen debattiert wird. Es ist, als habe im Unionshaus jemand die Fenster ganz weit aufgerissen, um den duckmäuserischen Mief der Merkel-Jahre endlich auszulüften.
Jetzt hat Friedrich Merz beim Schaulaufen für den Parteivorsitz sogar das größtmögliche Fass überhaupt geöffnet: Auf der Regionalkonferenz gestern im thüringischen Seebach stellte er – fast könnte man sagen en passant – das Grundrecht auf Asyl in Frage: Deutschland sei „das einzige Land auf der Welt, in dem ein Individualrecht auf Asyl in der Verfassung verankert ist“. Wenn man aber eine europäische Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik ernsthaft wolle, müsse auch offen darüber geredet werden, ob dieses Asylgrundrecht „in dieser Form fortbestehen“ könne. Merz weiß, dass er damit einen Shitstorm heraufbeschworen hat, gegen den sich Hurrikan Florence wie ein mildes Lüftchen ausnehmen dürfte. Denn es geht um ein deutsches Tabu.