Vor der Parlamentswahl in Polen - Vergiftete Atmosphäre

Am 15.  Oktober wählen die Polen ein neues Parlament – und die Rivalen gehen mit härtesten Bandagen aufeinander los. Denn in der Auseinandersetzung zwischen dem nationalpopulistischen und dem proeuropäischen Lager geht es nicht nur um Politik.

Nazi-Vergleiche dürfen natürlich nicht fehlen: Von der Opposition organisierte Demo im Juni in Warschau / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

So erreichen Sie Thomas Urban:

Anzeige

Schon vor Wochen hat Jarosław Kaczynski ein Fernsehduell mit Oppositionsführer Donald Tusk kategorisch ausgeschlossen. Er nimmt nun zum Endspurt des Wahlkampfs in Kauf, dass ein Teil der Medien ihn als Feigling verspottet. Doch umschifft er so das Risiko, gegen den ihm persönlich verhassten Tusk in den Augen des Publikums den Kürzeren zu ziehen und womöglich wegen eines verunglückten TV-Auftritts den Sieg bei den Parlamentswahlen am 15. Oktober zu verspielen. Der Zweikampf um die Macht hat nämlich in Polen traditionell einen hohen, fast mythischen Stellenwert, Geschichtsbücher und klassische Literatur zeugen davon.

Die polnischen Medien malen das Bild einer Richtungs-, gar einer Schicksalswahl: Die seit acht Jahren regierende nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) Kaczynskis warnt vor einem endgültigen „Verlust der Souveränität Polens“, falls die von Tusk geführte Bürgerkoalition (KO) gewinnen sollte. Dieser sei ein „Knecht der Deutschen“, die die von der „LGBT-Ideologie verseuchten“ EU-Institutionen dominierten, Kaczynski sprach gar vom „Vierten Reich der Deutschen“. Das proeuropäische Mitte-Rechts-Lager um Tusk wiederum warnt vor der weiteren Demontage des Rechtsstaats, der Ausspähung der Bürger durch die Behörden, einem wirtschaftlichen Abstieg, der außenpolitischen Isolierung Polens sowie der Beschneidung der Rechte von Frauen im Falle eines PiS-Sieges. Linke Gruppierungen fürchten überdies Repressalien gegen sexuelle Minderheiten.

Tusks Geheimwaffe im Fernsehduell

Kaczynski hat nicht vergessen, dass sein TV-Duell mit Tusk 2007 nicht wenig dazu beigetragen hat, dass die kurze Doppelherrschaft der Zwillinge abrupt endete: Lech Kaczynski hatte 2005 überraschend die Präsidentenwahlen gewonnen, Jarosław hatte sich 2006 von der PiS-Mehrheit im Sejm zum Premierminister wählen lassen. Einst waren Tusk und die Zwillinge politische Weggefährten gewesen, in den 1980er Jahren gehörten sie in der Volksrepublik Polen zu den Aktivisten der verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc. Doch ihre Wege trennten sich bald nach der Wende von 1989: Tusk stieß zu den Befürwortern der letztlich überaus erfolgreichen marktorientierten Radikalreformen, er gründete später die rechtsliberale Bürgerplattform (PO). Die Kaczynski-Zwillinge hingegen propagierten den fürsorglichen Sozialstaat sowie die Pflege von Traditionen und setzten sich damit als Führer des nationalistischen Lagers durch. 

In den Umfragen bis zu jenem Fernsehabend vor den Wahlen im Herbst 2007 hatte die PiS knapp vorn gelegen, doch dann brachte der Herausforderer den Premierminister Kaczynski mit einem „verlogenen Schlag unter die Gürtellinie“, wie dieser später lamentierte, völlig aus dem Konzept. Der „Rothaarige“, wie das nationale Lager Tusk nennt, schilderte nämlich eine angeblich Jahre zurückliegende gemeinsame Fahrt im Aufzug des Parlamentsgebäudes, bei der Kaczynski plötzlich mit einer kleinen Spielzeugpistole herumgefuchtelt und ausgerufen habe: „Dich zu töten, wäre für mich wie ausspucken!“ 

Diesem fehlten die Worte, er konnte nur stammeln: „Solch eine Begebenheit hat es nie gegeben!“ In den verbleibenden Minuten des TV-Duells verhedderte er sich beim Versuch, seine von Tusk scharf kritisierte Wirtschaftspolitik zu verteidigen. Allerdings warfen auch einige namhafte Kommentatoren, die durchaus kritisch zur PiS standen, Tusk vor, grob Foul gespielt zu haben, da es für die Geschichte mit der Pistole keinerlei Zeugen gebe.

Aus Gegnern wurden Feinde

Drei Jahre nach dieser Fernsehdebatte, die wohl den Ausschlag für die folgende Wahlniederlage der PiS gegeben hatte, steigerte sich diese Gegnerschaft zur unversöhnlichen Feindschaft. Tusk, nun Premierminister, und Staatspräsident Lech Kaczynski, der andere Zwilling, stritten heftig darum, wer die polnische Delegation bei der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Massakers von Katyn anführen sollte.

Tusk beabsichtigte, auf den Gräbern der von Stalins Geheimpolizei NKWD ermordeten polnischen Offiziere in einem „Akt der Versöhnung“ seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin zu treffen; Lech Kaczynski bestand darauf, als Nummer eins im Staate selbst die Gedenkrede im Wald von Katyn zu halten, ohne russische Beteiligung. Der Regierungs- und der Staatschef konnten sich nicht einigen, der Streit gipfelte darin, dass jeder seine eigene Delegation zusammenstellte.

 

Das könnte Sie auch interessieren:

 

Als Erster machte sich Tusk nach Katyn auf, das 15 Kilometer westlich der russischen Großstadt Smolensk liegt. Am 7. April 2010 traf er dort mit Putin zusammen, doch dieser dachte überhaupt nicht daran, die in ihn gesetzten Hoffnungen zu erfüllen: Anstatt im Namen der Kremlführung um Vergebung für die Ermordung der Polen, in der Mehrzahl Reservisten mit Hochschulbildung, zu bitten, sprach er von den russischen Opfern des stalinschen Terrors, deren Zahl die der polnischen weit übertroffen habe, und schloss mit dem Satz: „Es wäre eine Lüge, die Schuld für den Tod der polnischen Offiziere dem russischen Volk aufzubürden.“ Es war ein Fiasko für Tusk, die Warschauer Presse warf ihm vor, er habe sich von Putin vorführen lassen, denn es stehe ja außer Zweifel, dass Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion Wiedergutmachung für die von der Staatsführung unter Stalin angeordneten Massenexekutionen zu leisten habe.

Tusk schaffte Raum für Verschwörungstheorien

Drei Tage später, am 10. April 2010, stürzte die polnische Tupolew mit der Delegation des Präsidenten beim Landeanflug auf den Behelfsflughafen Smolensk in dichtem Nebel ab, alle 96 Personen an Bord fanden den Tod. Der sichtlich erschütterte Tusk umarmte am Unglücksort den rasch aus Moskau herbeigeeilten Putin, doch beging er an Ort und Stelle einen folgenschweren Fehler: Er überließ den Russen die Untersuchung des Absturzes, anstatt auf einer bilateralen Kommission zu beharren; auch hätte es die politische Klugheit geboten, von der PiS benannte Experten hinzuzuziehen.

Der nach einem knappen Jahr in Moskau veröffentlichte Untersuchungsbericht gab allein den polnischen Piloten die Schuld, sparte aber offenkundige Fehler der russischen Fluglotsen aus, denn diese hätten angesichts des Nebels keine Landeerlaubnis erteilen dürfen. So riss der Bericht neue Gräben zwischen Moskau und Warschau auf.

Der vom Tod des Bruders schwer gezeichnete Jarosław Kaczynski, der wegen einer Erkrankung seiner Mutter auf die Reise nach Katyn verzichtet hatte, bekam so die Gelegenheit, Verschwörungstheorien über eine vom russischen Geheimdienst in die Tupolew eingebaute Bombe zu verbreiten, und unterstellte Tusk, in diese angeblichen Attentatspläne eingeweiht gewesen zu sein. Immer wieder sagte er seitdem über seinen Rivalen: „Dieser Mann muss völlig aus der Politik entfernt werden!“ Allerdings fand die von der PiS gebildete Untersuchungskommission keinerlei Belege für die Behauptung, der Flugzeugabsturz sei das Ergebnis einer Verschwörung. 

Die gescheiterte Medienkontrolle der PiS

Auch scheint Kaczynski von dem Gedanken besessen zu sein, seinen tragisch zu Tode gekommenen Bruder, der als Staatsoberhaupt permanent überfordert wirkte und wahrscheinlich nach einer Amtsperiode abgewählt worden wäre, als große historische Gestalt in die Geschichtsbücher eingehen zu lassen. In fast allen Großstädten mit PiS-Oberbürgermeistern wurden teils überdimensionierte Lech-Kaczynski-Denkmäler errichtet. Für spöttische Kommentare in der Hauptstadtpresse sorgte das Denkmal vor dem Verteidigungsministerium im Zentrum Warschaus, denn es überragt das wenige Schritte entfernte Reiterstandbild des Marschalls Józef Piłsudski, des mächtigen Staatenlenkers der Zwischenkriegszeit. 

In Warschau gilt als verbürgt, dass der Bruder stets einen mäßigenden Einfluss auf Jarosław Kaczynski hatte. Nach der Katastrophe von Smolensk radikalisierte sich dieser. Er nannte seine Kritiker „Polen der schlechteren Sorte“ und erklärte es zu seiner Mission, seine Landsleute zu „guten Patrioten“ zu erziehen.

Mit diesem Anspruch versucht die PiS, die Medien zu kontrollieren, was indes bislang nicht gelang: Die drei größten Qualitätszeitungen, die beiden landesweiten Boulevardblätter, die drei größten politischen Magazine sind entschieden PiS-kritisch. Die Regierung versucht, sie wirtschaftlich zu schädigen: Weder öffentliche Institutionen noch staatliche Konzerne dürfen in ihnen Werbeanzeigen schalten; private Unternehmen, die es tun, riskieren, keine staatlichen Aufträge zu bekommen. 

Die angeblich deutsche Marionette

Der Versuch der PiS, den großen Privatsender TVN, der zum amerikanischen Warner-Konzern gehört, über die trickreiche Änderung der Lizenzbestimmungen unter Kontrolle zu nehmen, scheiterte am energischen Protest des US-Botschafters Mark Brzezinski, des Sohnes des früheren US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, der für viele Polen höchste politische Autorität genießt.

Dafür hat die PiS den staatlichen Kanal TVP zum Propagandasender gemacht, der die Regierenden unaufhörlich lobt und die Opposition anschwärzt. Dutzende Male wurde in den Abendnachrichten ein Fragment einer Rede Tusks, die er auf Deutsch bei einem Kongress in Berlin gehalten hat, ausgestrahlt: die Wörter „für Deutschland“. Sie ergänzen die vielfältigen Attacken von PiS-Politikern, die dem Oppositionsführer unterstellen, eine Marionette der Deutschen zu sein. Kaczynski erklärte im laufenden Wahlkampf: „Donald Tusk ist ein wahrer Feind unseres Volkes. Soll er doch in sein Deutschland gehen und dort Schaden anrichten!“

Demonstrantin gegen die rigide Rechtsprechung zur Abtreibung, November 2020 / laif

In dieser Kampagne kann die PiS auf den höchst umstrittenen Pater Tadeusz Rydzyk bauen, den Gründer des klerikal-nationalistischen Senders Radio Maryja, mit ihm trat Kaczynski zuletzt wiederholt auf. Noch vor anderthalb Jahrzehnten galt dies als völlig undenkbar, denn Rydzyk hatte dessen Schwägerin, die First Lady Maria Kaczynska, in einer Rede hinter verschlossenen Türen als „Hexe“ bezeichnet, die „auf den Scheiterhaufen“ gehöre, weil sie sich gegen eine Ausweitung des Abtreibungsverbots auch auf missgebildete Föten ausgesprochen hatte. Die Rede wurde heimlich mitgeschnitten, das Magazin Wprost legte sie auf einer CD einer ihrer Ausgaben bei, es war ein Skandal erster Güte. Doch das ist nun vergessen, Kaczynski setzt auf Rydzyk bei seinem Programm zur patriotischen Erziehung. 

Das Treffen mit Helmut Kohl

Dabei hatte er noch Anfang der 1990er Jahre öffentlich über die Bigotterie der kirchennahen Eiferer gelästert: „Der sicherste Weg, die Roten an die Macht zurückzubringen, wäre es, diese Leute an die Regierung zu lassen.“ Als ihre politischen Vorbilder priesen die Zwillinge damals Konrad Adenauer und Helmut Kohl, das Programm ihrer kurzlebigen Partei namens Zentrumsallianz orientierte sich an den CDU-Sozialausschüssen. CDU-Generalsekretär Volker Rühe vermittelte Jarosław Kaczynski, der damals Staatssekretär unter Lech Wałesa im Präsidialamt war, einen Termin im Bonner Kanzleramt bei dem bewunderten Helmut Kohl.

Dieses Gespräch nahm jedoch eine unerfreuliche Wendung, über den konkreten Verlauf wurden nur Gerüchte bekannt. Angeblich hat Kaczynski Kohl den ungebetenen Ratschlag erteilt, alle ehemaligen SED-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen; der Bundeskanzler habe brüsk entgegnet, dass es dafür keine gesetzliche Grundlage gebe, und den Gast sehr bald kurz angebunden verabschiedet. Rühe beschied er anschließend: „Mit dem machen wir das nicht.“ Gemeint war die Partnersuche der CDU in Polen. 

Kaczynski sagte Jahre später lediglich, Kohl habe ihn „paternalistisch behandelt“ – bekanntlich konnte dieser sehr herablassend und auch unwirsch mit Gesprächspartnern umgehen. Jedenfalls hatte das missglückte Bonner Treffen zur Folge, dass die Kaczynski-Zwillinge von der CDU und auch der Warschauer Vertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung geschnitten wurden – ein strategischer Fehler, der zweifellos zu den antideutschen Phobien in der PiS beigetragen hat. Ihre führenden Köpfe fühlten sich nämlich aus dem deutsch-polnischen Dialog ausgegrenzt, die „arroganten Deutschen“ wurden zu ihrem Feindbild. 

Die wirtschaftlichen Probleme im Wahlkampf

Partner der CDU in Polen wurde stattdessen die Bürgerplattform (PO) Tusks, obwohl dieser mit christlich-demokratischer Programmatik wenig im Sinn hat. Tusk, der sich im Laufe der Jahre vom Liberalen zum staatstragenden Konservativen gewandelt hat, trug allerdings nicht unerheblich zur Verschärfung des politischen Klimas in Polen bei. Zwar hatte er nach seiner Wiederwahl 2011 in Champagnerstimmung eine „Politik der Liebe“ angekündigt, was ihm viel Spott in den Medien einbrachte. Doch setzte er in Wirklichkeit auf harte Konfrontation und sparte auch nicht mit Beleidigungen an die Adresse der Opposition, die Rolle eines Brückenbauers in der Gesellschaft interessierte ihn offenkundig nicht. 

Die PO steht überdies im Ruf, Politik für die Wirtschaft, aber nicht für die kleinen Leute zu machen, während die PiS mit einem klassisch linken Wirtschaftsprogramm punktete: staatliche Kontrolle über Schlüsselindustrien und Finanzsektor, Reichensteuer, hohe Sozialausgaben. Allerdings versandete das von der PiS großspurig angekündigte Programm für den Bau von Sozialwohnungen völlig, auch verbesserte das neu eingeführte Kindergeld nicht die Geburtenrate, vielmehr war sie noch nie so niedrig wie in den vergangenen Jahren. Diese negative Entwicklung ist auch Folge des von der PiS durchgesetzten vollständigen Abtreibungsverbots, gegen das Hunderttausende Frauen auf die Straße gegangen sind. 

Der Oppositionsführer und frühere Ministerpräsident Donald Tusk im Sejm / imago

Auch ist nach acht Jahren PiS-Wirtschaftspolitik die Inflationsrate des Zloty doppelt so hoch wie in der Eurozone, worauf Tusk unablässig im Wahlkampf hinweist. Allerdings hat er ein großes Imageproblem: Stets gehörte er bei den in Polen beliebten Umfragen über die größten politischen Rüpel zur Spitzengruppe, wie auch sein einstiger Außenminister Radek Sikorski und der Deutschlandbeauftragte Władysław Bartoszewski. Überdies machte er sich angreifbar, weil sein Sohn einen gut dotierten Posten in der Flughafengesellschaft seiner Heimatstadt Danzig bekommen hatte und enge Mitarbeiter in Korruptionsaffären verstrickt waren.

Abflug zum Europäischen Rat

Vor allem realisierte Tusk als Premier in den Jahren 2007 bis 2014 nicht eines seiner zentralen Wahlkampfversprechen: eine bürgerfreundliche Verwaltung, die dem Zugriff der Parteien weitgehend entzogen ist. Vielmehr besetzten seine Gefolgsleute alle Leitungsposten, auch in den staatlichen Unternehmen, darunter Fernsehen, Radio und die Presseagentur PAP.

Dass er versuchte, ein Haushaltsloch durch die Umleitung von Mitteln aus dem staatlichen Rentenfonds zu stopfen, monierte das Verfassungsgericht als schweren Rechtsbruch. Tusk sah wohl seine Chancen auf einen weiteren Wahlsieg 2015 schwinden, und so nahm er das von seiner Duzfreundin Angela Merkel unterbreitete Angebot an, an die Spitze des Europäischen Rates in Brüssel zu treten. Ein Jahr vor Ende der Legislaturperiode verließ er Warschau – allerdings schrieben sogar ihm bis dahin wohlgesonnene Kommentatoren, er sei „desertiert“.

Sein Wechsel auf diesen Spitzenposten der EU hatte schwerwiegende Folgen, denn er galt in Polen als der einzige starke Politiker der Mitte, der dem zunehmend populistisch auftretenden Kaczynski den Weg zurück an die Macht versperren könnte. Doch mit seiner Übersiedlung nach Brüssel, wo er wegen seiner mangelhaften Englischkenntnisse allerdings nie eine wichtige Rolle spielen, sondern immer als Adlatus Merkels gelten sollte, hinterließ er an der Weichsel innenpolitisches Chaos. Auch hatte er keine Nachfolger an der Spitze von Regierung und PO aufgebaut – in seiner Partei brachen Diadochenkämpfe aus, die in ihren Absturz bei den Sejm-Wahlen 2015 mündeten. 

Die krude Geschichtspolitik der PiS

Nach ihrer Rückkehr an die Macht übernahm die PiS nicht nur den gesamten Staatsapparat und die öffentlichen Medien, sondern besetzte auch die Aufsichtsräte und Vorstandsetagen sämtlicher Staatsbetriebe mit Gefolgsleuten. Die unabhängige Presse ist voll von Berichten über Bereicherung der neuen Kader, über Nepotismus gepaart mit Inkompetenz sowie über die gesetzwidrige Umwidmung von Millionen aus dem Staatshaushalt. Nutznießer sind nationalpatriotische Vereinigungen und von PiS-Gefolgsleuten gegründete Zeitschriften, die sich ohne die massenhaft geschalteten Anzeigen der Staatskonzerne kaum auf dem Pressemarkt halten könnten. 

Diese von der PiS kontrollierten Medien transportieren ebenso wie die Schulbücher die Geschichtspolitik der Regierung, die offenkundig das Hauptanliegen des Wirtschaftslaien Kaczynski ist. Betont wird der „Jahrhunderte währende Abwehrkampf“ gegen die feindlichen Nachbarn, die Deutschen und die Russen, die sich immer wieder verbündet hätten, um Polen zu unterjochen und zu schädigen, vom Bündnis des Preußenkönigs Friedrich des Großen mit Zarin Katha­rina der Großen, das in die Teilungen Polens mündete, über den Hitler-­Stalin-Pakt bis zur Kumpanei zwischen Gerhard Schröder und Wladimir Putin. 

Zu den Kernstücken der Geschichtspolitik der PiS gehört die Forderung nach Reparationen für Zerstörungen und Massenmorde unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. Diesem Argument kann Tusk nichts entgegensetzen, er würde riskieren, von der PiS als „Vaterlandsverräter“ attackiert zu werden, wenn er, wie die Bundesregierung, darauf hinweisen würde, dass das Thema völkerrechtlich erledigt ist. 

Im internationalen Fokus steht nur die Justiz

Ebenso wäre er in den Augen wohl der Mehrheit der Landsleute ein „Nestbeschmutzer“, wenn er die PiS-Version von einer polnisch-jüdischen Opfergemeinschaft während der deutschen Besatzung kritisierte. Zehntausende, wenn nicht gar Hunderttausende von Polen beteiligten sich demnach an der Rettung von Juden. Dieser schönfärberischen Version von „Polen als Volk der Helden und Opfer“ widersprachen allerdings Vertreter jüdischer Institutionen und Historikerverbände im In- wie im Ausland.

Immerhin haben die Kaczynski-Zwillinge auf diesem für Polen so schwierigen Terrain durchaus historische Verdienste aufzuweisen: Sie haben stets energisch gegen den traditionellen Antisemitismus der polnischen Rechten gekämpft, noch während der Volksrepublik Polen gehörten sie einem christlich-jüdischen Gesprächskreis der damals verbotenen Solidarnosc an; Lech Kaczynski wurde später im Präsidentenamt sogar als „Freund Israels“ ausgezeichnet. Bei den westlichen Nachbarn blieb dies indes weitgehend unbemerkt.

Dafür berichten die ausländischen Medien ausführlich über den verfassungswidrigen Großangriff der PiS-Regierung auf die Unabhängigkeit der Justiz. Der blasse Staatspräsident Andrzej Duda, einst Europaabgeordneter der PiS, nickte die Ernennung von Verfassungsrichtern ab, die unter Bruch der einschlägigen Gesetze von der PiS für ihre Ämter nominiert worden waren. Auch die Schaffung einer Disziplinarkammer für Richter war nicht verfassungskonform, wie der Europäische Gerichtshof feststellte. Dessen Verdikte nahm wiederum die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen zum Anlass, für Polen vorgesehene Mittel in zweistelliger Milliardenhöhe zu blockieren. 

Beide Spitzenkandidaten sind unbeliebt

Folglich sieht man in der PiS hinter der Entscheidung der EU eine deutsche Intrige. Angesichts dieser Verschwörungstheorie war es nicht sonderlich klug, dass im Oktober 2021 in der Debatte des Europäischen Parlaments über die Demontage des polnischen Justizsystems für die Europäische Volkspartei der Deutsche Manfred Weber ans Rednerpult schritt, für die Sozialdemokraten die Deutsche Katarina Barley, für die Grünen die Deutsche Ska Keller und für die Linke der Deutsche Martin Schirdewan. Die PiS bekam so ein weiteres Argument für ihren Konfrontationskurs gegenüber der angeblich deutsch dominierten EU; es wäre klüger gewesen, wenn die Fraktionen an diesem Tag Abgeordnete aus anderen Ländern hätten reden lassen. 

Dem Vorwurf mangelnder politischer Klugheit sieht sich allerdings auch Tusk ausgesetzt. Nach dem Ende seiner Amtszeit in Brüssel hatte er 2021 wieder die Führung der Bürgerplattform PO übernommen. Doch der große Aufbruch blieb aus, sie dümpelt in den Umfragen bei 30 Prozent, mehrere Punkte hinter der PiS. Rund 60 Prozent der Befragten wollen ihn auf keinen Fall erneut an der Spitze der Regierung sehen.

Seine Beliebtheitswerte sind also genauso schlecht wie die Kaczynskis, beide sind für die bisherigen Nichtwähler – bei den zurückliegenden Parlamentswahlen 38 Prozent – gleichermaßen unattraktiv.

In der jungen Generation ist man den Umfragen zufolge der Gesichter der beiden alten Kämpen überdrüssig, deren Zweikampf seit zwei Jahrzehnten die polnische Politik prägt. Von dieser Wechselstimmung bei den Jungen profitiert die Konfederacja, die sich als Anti-­Establishment-Partei gibt und vor allem das Tiktok-Publikum anspricht. Sie könnte als Juniorpartner einer Koalition den Ausschlag geben, wer in den nächsten vier Jahren in Warschau regiert.

Wie könnten Koaltionen aussehen?

Ihr Spitzenkandidat Sławomir Mentzen verspricht einen drastischen Abbau der Bürokratie und gewaltige Steuersenkungen, die EU nennt er ein „Monster, das jeden Fortschritt hemmt“. Zum Abschluss jeder Kundgebung prostet Mentzen seinen begeisterten Zuhörern, vor allem junge Männer, mit einem Glas Bier zu. Doch verrät er nicht, wie die Konfede­racja den Staatshaushalt alternativ finanzieren möchte. Andere Spitzenleute der Partei sind für das Feld der Ideologie zuständig, sie verkünden ein patriarchalisches Gesellschaftsbild, wollen homosexuelle Lehrer entlassen und attackieren die LGBT-Bewegung. In der Summe ist die Konfederacja noch nationalistischer als die PiS. 

Zwar verkündet Mentzen, er werde mit dem „PiS-Establishment“ auf keinen Fall koalieren, doch rechnen viele Kommentatoren sehr wohl damit. Denn Tusk, den ehemaligen Spitzenmann der EU, lehnt die Konfederacja entschieden ab. Den Ausschlag könnten aber auch die anderen kleinen Parteien geben: die Linke und das Bündnis „Dritter Weg“, zu dem sich gemäßigt konservative Gruppierungen, deren Führer persönlich mit Tusk überkreuz sind, zusammengeschlossen haben.

Es ist alles offen, die Umfragen sehen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem nationalpopulistischen und dem proeuropäischen Lager, mit leichten Vorteilen allerdings für die PiS. Alles könnte von der Schlussphase der Wahlkampagne abhängen, dieses Mal ohne TV-Duell der Spitzenleute.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige