Russischer Dissident Dmitry Glukhovsky - „Deutschland war zu freundlich zu Putin“

Der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky ist einer der bekanntesten Dissidenten des Putin-Regimes aus der russischen Kulturszene. Vor politischen Verfolgungen ist er in den Westen geflohen, wo er heute aus Angst vor den russischen Geheimdiensten an ständig wechselnden Orten lebt. Mit Cicero sprach er über seinen ungebrochenen Patriotismus, den mafiösen russischen Staat und einen möglichen Sturz Putins.

Ein entschiedener Gegner des Putin-Regimes: der Schriftsteller Dmitry Glukhovsky / picture alliance, TT NYHETSBYRÅN, Henrik MontgomeryTT
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Autoreninfo

Clemens Traub ist Buchautor und Cicero-Volontär. Zuletzt erschien sein Buch „Future for Fridays?“ im Quadriga-Verlag.

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Der gebürtige Moskauer Schriftsteller Dmitry Glukhovsky ist einer der prominentesten Putin-Gegner aus der russischen Kulturszene. Seit Jahren warnt der 43-Jährige vor dem Weg seines Landes in den Totalitarismus. Am 7. Juni dieses Jahres wurde er vom russischen Staat zur Fahndung ausgeschrieben. Seine weltweit übersetzte „Metro“-Trilogie (Heyne Verlag) spielt nach einem Atomkrieg in der Moskauer U-Bahn. Am 19. Oktober erscheint sein neues Buch „Geschichten aus der Heimat“.

Herr Glukhovsky, Sie sind einer der wortmächtigsten Kritiker Putins aus der russischen Kulturszene. Aus Angst vor politischer Verfolgung sind Sie aus Russland geflohen. Was hat sich seitdem verändert?

Im März 2022 habe ich den russischen Krieg gegen die Ukraine auf Instagram und in großen internationalen Zeitungen kritisiert. Seither hat sich mein Leben schlagartig verändert. In Russland wurde meine Wohnung beschlagnahmt. Auch mein Konto könnten sie jederzeit sperren und meine Vermögen einfrieren. Ich kann nicht nach Hause fliegen, da ich mit einer Verhaftung und bis zu 15 Jahren Straflager rechnen muss. Das russische Regime hat mir meine Heimat und meine Familie genommen. Und all das nur, weil ich nicht schweigen und wegsehen wollte. Ich spreche viele Sprachen, aber Russland wird immer der Ort meines Herzens bleiben.

Sind Sie direkt im Visier der russischen Geheimdienste?

In westlichen Ländern fühle ich mich sicher. Der russische Geheimdienst wird häufig überschätzt und hat gerade sicher größere Sorgen als mich. Aber wer weiß: Nachdem erst alle korrupten Gazprom-Manager eliminiert wurden, sind vielleicht irgendwann wir Schriftsteller dran.

Putin erlebt derzeit große militärische Rückschläge und auch hohe Verluste in der Ukraine. Immer wieder droht er in seinen Ansprachen mit den nuklearen Kapazitäten Russlands. Wie weit wird Putin gehen, wenn er mit dem Rücken komplett zur Wand steht?

Vorher dachte ich, dass Putin ein Pragmatiker ist. Jetzt aber sehen wir, dass er keine Schwäche zeigen darf. Und jedes Mal, wenn er Rückschläge erleidet, muss er den Russen umso mehr beweisen, dass er ein harter Hund ist. Putin ging es noch nie um Wahrheit. Die Magie eines Diktators besteht immer darin, Macht und Entschlossenheit auszustrahlen. Das erreicht er mittels vulgärer Gewalt sowohl gegen innenpolitische Dissidenten als auch auf dem Schlachtfeld in der Ukraine. Deshalb wird es zu einer weiteren Brutalisierung und Eskalation des Krieges kommen.

Könnte die Eskalation mit einem Atomschlag enden?

Ich glaube nicht, dass wir mit dem Einsatz von Atomwaffen rechnen müssen. Das passt nicht in Putins Logik, dem es vor allem um die Kontrolle der eigenen Macht geht. Ein Atomschlag wäre für Putin mit unberechenbaren Folgen und einem Chaos verbunden. Davon hätte er nichts. Doch wenn amerikanische Panzer eines Tages vor den Toren des Kremls stehen sollten, kann ich für nichts garantieren.

Der russische Staatspräsident sprach noch im September 2001 von der großen gemeinsamen Sicherheitsarchitektur Europas und bot dem Westen im Deutschen Bundestag eine enge Partnerschaft an. Jetzt führt er einen barbarischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Warum veränderte Putin seine geostrategischen Ausrichtungen in diesen zwei Jahrzehnten derart fundamental?

Es geht ihm nicht um geopolitische Fragen. Russland durchlief eine große Wirtschaftskrise. Das Erschaffen eines Feindbildes und das Anzetteln eines Krieges ist immer ein sehr verführerisches Ablenkungsmanöver, um die wahren Probleme des eigenen Landes vergessen zu machen. So konnten die Russen wieder stolz auf ihr Land sein und gedanklich aus ihrer alltäglichen Armut fliehen. Putin hat in den letzten Jahren immer mehr den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Er ist ausschließlich von Menschen umgeben, die ihm alles zu verdanken haben und ihn abgöttisch verehren. Natürlich hat es bei Putin Spuren hinterlassen, dass er niemals mit Kritik oder Gegenrede aus den eigenen Reihen rechnen musste.

 

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Aber um die eigene Bevölkerung von ihrer Armut abzulenken, muss ein Diktator doch nicht gleich einen Krieg anfangen. Gab es weitere Motive für Putin?

Es geht Putin vor allem um die ultimative Sicherung seines Regimes. Er wusste, dass seine alleinige Herrschaft in Stein gemeißelt bleiben würde, wenn er den Krieg gegen die Ukraine gewinnt. Auch seine Nachfolger könnten sich auf diese Legitimation berufen und damit das Erbe Putins sichern. Außerdem geht es ihm um seinen Platz in den Geschichtsbüchern. Er möchte zukünftig in einer Reihe mit Persönlichkeiten der russischen Geschichte wie Katharina der Großen, Lenin oder Stalin genannt werden. Die Eroberung ehemals sowjetischer Territorien eignet sich dafür hervorragend.

Welche Optionen sehen Sie für die deutsche Politik, um Schritte für die Beendigung dieses verheerenden Krieges in der Ukraine einzuleiten?

In den letzten Jahren waren der Westen und insbesondere Deutschland zu geduldig und freundlich mit Putin. Eine Appeasement-Politik ist immer eine große Gefahr, denn der Machthunger eines Diktators kann niemals gesättigt werden. Entgegenkommen wird immer als ein Zeichen der Schwäche verstanden. Deshalb muss Deutschland der angegriffenen Ukraine jetzt umso konsequenter mittels Waffen und Ausrüstung helfen. Für das ukrainische Volk geht es zurzeit um Leben und Tod. Putin und sein menschenfeindliches Regime dürfen diesen größenwahnsinnigen Krieg unter keinen Umständen gewinnen. Denn damit würde er seine Macht in Russland ein für allemal zementieren.

Russland hat in den letzten Jahren vor allem in Deutschland große Abhängigkeiten durch das billige Gas schaffen können. Warum haben das die deutschen Politiker und Unternehmer so lange in Kauf genommen?

Vor fünf Jahren war ich bei einer Veranstaltung des Nemzow-Forums in Berlin. Dort versammelte sich auch die deutsche Elite aus Politik und Wirtschaft: Es kamen Diplomaten, Minister und einflussreiche Unternehmer. Als ich die Frage stellte, ob es nicht verwerflich sei mit einem Mafia-Staat gigantische Geschäfte zu betreiben, gab es keinen Aufschrei, keine Empörung, nichts. Ihnen war es schlichtweg egal, dass sie einem kriminellen Diktator seit Jahren Milliardenbeträge überwiesen. Billiges Gas aus Russland hielt jahrelang die deutsche Wirtschaft am Laufen. Solange Putin und Gazprom keine Kannibalen sind, sei doch alles in Ordnung. So dachte die deutsche Elite fast ausnahmslos über Jahre hinweg. Deutschland muss sich endlich unabhängig von russischem Gas machen.

Die russische Wirtschaft leidet zurzeit massiv unter den Sanktionen des Westens. Warum halten noch immer so viele Menschen an der Unterstützung für Putin und seinem Krieg in der Ukraine fest?

Ich denke nicht, dass viele Russen den Krieg befürworten. Nur eine kleine Minderheit von gerade einmal 10 bis 15 Prozent der russischen Gesellschaft unterstützt den Krieg offensiv. Die Mehrheit sieht den Krieg in der Ukraine eher kritisch, legt sich aber aus lauter Angst vor den Repressionen nicht mit der Staatsmacht an. In fast jeder russischen Familie wurden in den großen Verfolgungen unter Stalin unschuldige Angehörige verschleppt und ermordet. Mit diesem tiefsitzenden Trauma lässt sich auch heute noch eine ausgeprägtere Passivität der Bevölkerung im Vergleich zu westeuropäischen Ländern erklären. Die Furcht vor den Sicherheitsapparaten der Macht ist in Russland allgegenwärtig.

Versteht man im Westen umfassend die gesellschaftlichen Entwicklungen und Konflikte in Russland?

Sicherlich gibt es im Westen Soziologen oder Politikwissenschaftler, die einen tiefen Einblick in die russische Gesellschaft haben. Der Großteil der Bevölkerung hat jedoch ein stereotypisches Bild von der russischen Bevölkerung. Sie denken tatsächlich, wir Russen seien menschenfressende Zombies, die sich einen Krieg überschwänglich herbeisehnen. Das hat mit der Wahrheit allerdings wenig zu tun.

Können Sie uns die gesellschaftliche Situation in Russland erklären?

Die meisten Russen führen ein tristes Leben in Armut und Perspektivlosigkeit. Sie werden permanent beschallt von Propagandasendungen, die ihnen einreden, dass der Westen an allem schuld sei. Dieses Feindbild gibt vielen Russen die Möglichkeit, ihrem Zorn und Wut über die eigene Lebenssituation ein Ventil zu geben. Denn es ist immer leichter einen Sündenbock zu suchen, als sich der eigenen deprimierenden Wahrheit stellen zu müssen.

In den letzten Tagen kam es erneut zu großen Protesten in Russland. Kann der Wut vieler junger Menschen über die Mobilmachung zu einer Gefahr für Putin werden?

Bereits jetzt gibt es an den Grenzen zu Kasachstan, der Mongolei oder Georgien kilometerlange Schlangen von Russen, die einem Kriegseinsatz entfliehen möchten. Auf einmal ist der Krieg in der Ukraine nichts Abstraktes aus den Fernsehsendungen mehr, sondern erfasst beinahe jede Familie in Russland ganz unmittelbar. Bis zu einer Million junger Menschen könnten in den Krieg eingezogen werden. In den nächsten Monaten werden noch mehr russische Eltern den Tod ihres Kindes verkraften müssen. Das kann langfristig zu einer großen Bedrohung für das Machtsystem Putin werden.

Was müsste passieren, damit das System Putin gestürzt wird?

Zurzeit dominiert in der russischen Bevölkerung noch eine große Angst. Es gibt in diesen Tagen nur wenige Akademiker und Intellektuelle aus den Großstädten, die in der Öffentlichkeit demonstrieren. Aber mit jedem Fehler, den Putin begeht, wird die Lebenssituation für die russische Bevölkerung unerträglicher. Die Wirtschaft Russlands befindet sich im freien Fall. Dazu kommt, dass hunderttausende verwundete und traumatisierte Soldaten in den nächsten Jahren aus den Kriegsregionen zurückkehren werden. Sie haben dem Tod bereits auf den Schlachtfeldern in die Augen geschaut und werden daher keine Furcht mehr kennen. Noch hat Putin die Zügel seines Unterdrückungsapparats in der Hand. Doch nach seinem Tod wird sich die angestaute Wut entladen und das System gewaltige Erschütterungen erleben.

Wie wahrscheinlich ist ein Putsch aus dem inneren Machtzirkel des Kreml?

Fast wie in einer italienischen Mafia, gibt es in den Machtzentren des russischen Staates einen Ehrenkodex. Putin ist der uneingeschränkte Pate, der Verschwörer und Verräter gnadenlos beseitigt. Ein Putsch ist eher unwahrscheinlich, weil es ein großes gegenseitiges Misstrauen innerhalb des russischen Staatsapparates gibt. Es braucht immer auch ein stabiles Vertrauen, um gemeinsame Putschversuche zu planen. Es war außerdem ein kluger Schachzug Putins, dass er der militärischen Intervention den Anstrich einer Kollektiventscheidung gab. So sitzen nun alle Funktionäre im gleichen Boot. Geht das System Putin unter, bedeutet das auch gleichzeitig ihr Ende.

Das Leben von vielen russischen Oligarchen ist deutlich unangenehmer geworden durch die westlichen Sanktionen. Sie können nicht mehr nach Südfrankreich reisen. Viele Yachten wurden beschlagnahmt und dicht gemacht. Was hält Putins Machtapparat trotzdem zusammen?

Russische Oligarchen sind allesamt Marionetten. Putin ist der große Puppenspieler, dem alle Oligarchen ihren irrsinnigen Wohlstand zu verdanken haben. Die Oligarchen wissen deshalb nur zu gut, dass es nicht ihr Geld ist. Seit seiner Amtsübernahme hat Putin den Reichtum Russlands systematisch an sich gerissen. Kritische Oligarchen würden ihre ganze Existenz und wahrscheinlich auch ihr Leben verlieren, wenn sie die Macht Putins in Frage stellen würden. Denn Putin kennt kein Mitleid mit Verrätern. Warum also sollten die Oligarchen dieses große Risiko eingehen? Und eines können Sie mir glauben: Verarmen werden sie auch trotz der Sanktionen nicht.

Sie sind ein sehr überzeugter russischer Patriot. Wie kann man denn als russischer Patriot angesichts der Kriegsverbrechen der russischen Armee noch stolz auf sein Land sein?

Wir dürfen das russische Volk nicht mit dem brutalen Regime verwechseln. Putin ist nicht Russland. Er ist lediglich ein Kriegsverbrecher, der das Land an sich gerissen hat und daher auch nach außen vertritt. Die meisten Russen möchten keinen Krieg, aber sie fürchten sich vor der Gewalt der Unterdrückungsmaschinerie. Was unserem russischen Stolz auch in den finstersten Zeiten bleibt, ist unsere großartige Kultur. Die Literatur, die klassische Musik und das Kino werden im Gegensatz zu Putin nie vergänglich sein.

Was erhoffen Sie sich für die Zukunft Russlands?

Ich hoffe, dass sich Russland irgendwann von den Dämonen Putins heilen kann. Wir müssen uns befreien von dem jetzigen korrumpierten und imperialistischen Regime, um endlich ein modernes und demokratisches Land werden zu können. Denn der aktuelle Krieg in der Ukraine ist auch ein Krieg gegen das russische Volk. Er raubt uns Russen die Aussicht auf eine vielversprechende Zukunft unserer Heimat. Das dürfen wir nie vergessen.

Was würden Sie Putin raten, wenn Sie die Gelegenheit zu einem persönlichen Gespräch hätten?

Er sollte LSD nehmen. Putin hat große Probleme. Mit LSD könnte er darüber mit sich selbst sprechen. Das wäre nicht nur für ihn sehr hilfreich. Aber im Ernst, ich glaube, dass die gesamte russische Nation jetzt in Geiselhaft dieses Mannes und seiner Gier nach historischer Größe ist. Wir alle sind bloßes Spielmaterial für ihn, weil er danach strebt, sich einen Platz in den Geschichtsbüchern zu verschaffen, während Tausende sterben. Alles, damit er diesen verzweifelten und blutigen Krieg nicht mit einer Niederlage beendet und für immer als Tyrann und Verlierer in Erinnerung bleibt. Aber er ist sterblich, nur ein Mensch, kein Zar, kein Mythos. Er sollte bereuen und sich aus der Ukraine zurückziehen. Doch das ist wohl weniger realistisch als meine dystopischen Bücher.

Das Gespräch führte Clemens Traub.

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