„Die Ukraine sollte auf keinen Fall davon ausgehen, dass der internationale Beistand für immer und ewig bestehen bleiben wird“: ukrainischer Flugabwehrschütze / dpa

Ukrainischer Politologe über den Krieg - „Die Luftalarmmeldungen sind vertraut geworden“

Experten gehen davon aus, dass sich der Krieg in der Ukraine noch eine ganze Weile hinziehen könnte. So auch der Kiewer Politologe Mykola Kapitonenko. Im Interview erklärt er, wie die ukrainische Bevölkerung den Krieg in ihren Alltag integriert, wie es überhaupt zu diesem Konflikt kommen konnte und warum die ukrainische Führung auf keinen Fall davon ausgehen sollte, dass der internationale Beistand für immer und ewig bestehen bleiben wird.

Autoreninfo

Dr. Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationaler Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum.

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Dr. Mykola Kapitonenko ist Professor am Institut für Internationale Beziehungen an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew, Direktor des Zentrums für Studien der Internationalen Beziehungen und Co-Chefredakteur von UA: Ukraine Analytica. 

Herr Kapitonenko, wie ist die momentane Situation in Kiew? Über die vergangenen Tage hinweg gab es täglich mehrfach Luftalarmmeldungen.

Wir haben wohl alle eine App auf unseren Mobiltelefonen installiert, die uns über aktuellen Luftalarm informiert. Um ehrlich zu sein, kann ich mich nicht mehr genau daran erinnern, wie oft diese Benachrichtigungen in letzter Zeit kamen. So vertraut sind die Luftalarmmeldungen mittlerweile geworden. Insgesamt ist die aktuelle Lage in Kiew – jedenfalls im Vergleich zu den ersten Wochen des Krieges – sehr viel ruhiger geworden. Die Stadt lebt ein relativ normales Leben. Im Grunde genommen, funktioniert alles mehr oder minder gut, auch die öffentlichen Verkehrsmittel und die Tankstellen. Zwar ist naheliegenderweise aufgrund der Luftangriffsgefahr die Situation in den Kindergärten, Schulen und Universitäten angespannt, jedoch ist es möglich, sich an diese neuen Gegebenheiten anzupassen.

Wie lange wird die aktuelle Phase des Krieges dauern?

Niemand weiß das mit Sicherheit, denn es ist nur zu offensichtlich, dass der Krieg nicht nach dem ursprünglichen Plan Russlands verläuft. Man kann sich des Eindruckes kaum erwehren, dass Moskau seine Planungen laufend überarbeitet und an die augenblicklichen Gegebenheiten anpasst. Daher sind die nächsten Schritte Russlands schwer vorauszusagen. Den aktuellen Trends nach zu urteilen, denke ich aber, dass uns ein langwieriger Konflikt bevorsteht, der sich über Jahre hinziehen dürfte. Allerdings nicht mit der gegenwärtigen Kampfintensität. Diese wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit abnehmen. Letzteres erfolgt entweder als Ergebnis von Verhandlungen oder – was wahrscheinlicher ist – aus faktischen Gründen gegen Winterbeginn. Denn die bestehenden Ressourcen werden nach und nach aufgezehrt sein. Natürlich wissen wir nicht genau, wie es um die Ressourcen Russlands bestellt ist, dennoch ist davon auszugehen, dass eine Fortsetzung des Krieges mit der gegenwärtigen Kampfintensität einfach zu kostspielig sein wird. Doch die Reduzierung der Intensität der Kampfhandlungen wird den Krieg keineswegs beenden.

Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Verhandlungen wieder aufgenommen werden?

Im Augenblick ist keine der beiden Seiten zu sinnvollen Verhandlungen bereit. Und der momentanen Dynamik nach zu urteilen, dürfte dies weiterhin so bleiben. Russland hat nur zu offensichtlich ein unzureichendes Bild der Wirklichkeit und keine allzu adäquaten Vorstellungen von den tatsächlichen Entwicklungen der Kämpfe sowie auch der internationalen Lage. Moskau scheint sich nach wie vor seines Sieges absolut sicher zu sein und ist der Meinung, dass jedes Zugeständnis Kiew gegenüber, und sei dieses auch noch so klein, zu äußerst ungünstigen Konsequenzen für Russland führen werde. Die Ukraine hingegen befindet sich in einer Situation, in der Kiew einfach keine Wahl hat. Alles, was bleibt, ist, sich zu verteidigen – insbesondere in Anbetracht der extremen Brutalität der russischen Streitkräfte. Die Position des Präsidenten und der Führung des Landes findet sehr breite Unterstützung durch die ukrainische Öffentlichkeit. Alle Gefahren, Risiken und Kosten, die mit dem Krieg verbunden sind, ist die Gesellschaft zu tragen bereit.
 

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Wie könnte der Westen die Ukraine in der aktuellen Situation stärker unterstützen?

Ich denke, es ist das Beste, so weiterzumachen wie bisher. Die Unterstützung des Westens ist sehr bedeutend. Neben Waffenlieferungen und den momentan überlebensnotwendigen Finanzhilfen, erhält die Ukraine umfassende diplomatische und politische Unterstützung. Vor dem Krieg hätten nicht viele damit gerechnet. Der Westen hat die Ukraine mit Russland nicht alleingelassen. Dieser Krieg ist in einem gewissen Maße auch zu einem Konflikt des Westens geworden. Es ist kein fremder Krieg mehr. Auch wenn sich die Situation für den Westen natürlich bei Weitem nicht so dramatisch wie für die Ukraine gestaltet, steht für die Amerikaner und für die Europäer gleichermaßen viel auf dem Spiel. Eine Niederlage der Ukraine wäre eine Niederlage des gesamten Westens mit weitreichenden, kaum kalkulierbaren Risiken. In gewisser Weise hat der Westen also auch keine andere Wahl. Die einzige Wahlmöglichkeit besteht aktuell darin, den Umfang sowie die Formen der Unterstützung anzupassen. Genau das könnte sich im Laufe der Zeit verändern. Aber bisher geht der Trend in Richtung einer Aufstockung der Hilfen. Und je erfolgreicher sich die Ukraine gegen die russische Aggression zu wehren vermag, desto größer scheint die Unterstützungsbereitschaft des Westens zu werden. Denn nunmehr sind kaum noch Signale wahrnehmbar, die sagen würden, dass die Lieferung bestimmter Waffentypen grundsätzlich ausgeschlossen sei.

Woran liegt das? 

Das ist auch ein Verdienst der ukrainischen Diplomatie. Über die vergangen Monate hat die ukrainische Führung – einschließlich des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj – eindrucksvoll bewiesen, dass sie in der Lage ist, sehr gut mit der europäischen Öffentlichkeit zusammenzuarbeiten und dabei äußerst erfolgreich zu sein. Das beste Beispiel dafür besteht in der Zuerkennung des EU-Kandidatenstatus für die Ukraine. Obwohl es über eine sehr lange Zeit undenkbar zu sein schien. Denn vor dem Krieg war eine ganze Reihe von EU-Mitgliedstaaten nicht bereit, der Ukraine den EU-Kandidatenstatus zu gewähren.

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich mit der Verschärfung der Wirtschafts- und Energiesituation die Stimmung in den westlichen Gesellschaften Kiew gegenüber verändert und der Druck auf die politische Führung des Westens, die Unterstützung für die Ukraine zu reduzieren, zunimmt?

Die Ukraine sollte auf keinen Fall davon ausgehen, dass der internationale Beistand für immer und ewig bestehen bleiben wird und sich unter gar keinen Umständen verändert. Wenn die ukrainische Führung bei ihrer Strategie mittel- bis langfristig darauf setzen würde, wäre das, gelinde gesagt, zu unbedacht und riskant. Die öffentliche Meinung ist prinzipiell unbeständig, insbesondere in Krisenzeiten. Genau auf Letzteres setzt die russische Führung. Nämlich dass der Westen im Allgemeinen und die EU im Besonderen nicht bereit sein werden, große finanzielle und wirtschaftliche Verluste über einen längeren Zeitraum in Kauf zu nehmen. Aber die Art und Weise, in der sich russische Strategen in jüngster Zeit geirrt haben, gibt Anlass zu einem gewissen Optimismus. Das heißt, ich habe den Eindruck, dass das, was der Kreml erwartet, nicht eintreten wird, weil die Sicherheit des Westens – vor allem in der gegenwärtigen Situation – zu wichtig erscheint. Auch sind die Europäer nicht mehr dieselben, wie sie es noch vor dem Krieg waren. Die meisten der EU-Mitgliedstaaten haben in den vergangenen knapp sechs Monaten verstanden, mit welchen Kräften an der Spitze der Russischen Föderation sie es zu tun haben.

Hat Russland die geschlossene und konsequente Reaktion des Westens vor Beginn der Feindseligkeiten falsch eingeschätzt?

Ja, zweifelsohne. Das ist einer der Gründe, warum ich die Entscheidung des Kremls zugunsten des Angriffskrieges gegen die Ukraine für grundlegend falsch halte. Der Krieg veränderte die EU auf eine dramatische Weise. Was bis vor Kurzem noch schwer vorstellbar war, wird zunehmend zur Realität. Die meisten EU-Länder sind sich darüber im Klaren, dass sie für die Stärkung ihrer Sicherheit einen hohen Preis zahlen müssen, der jedoch bei Weitem nicht so hoch ausfallen wird wie die Kosten eines potenziellen russischen Sieges. Den aktuellen Wirtschaftsdaten nach zu urteilen, verliert Russland durch den Krieg zudem unvergleichlich mehr als die EU. Neben der EU spielen die Vereinigten Staaten eine Schlüsselrolle für den Konfliktausgang, und auf Washington können die Russen einfach keinen nennenswerten Einfluss nehmen. Selbst wenn einige EU-Mitgliedstaaten in den kommenden Monaten angesichts der Verschärfung der Wirtschafts- und Energiesituation ins Wanken geraten und das Ausmaß ihrer Unterstützung für die Ukraine infrage stellen sollten, werden die USA die potenziellen Unterstützungsausfälle ausgleichen können.

Unlängst hat George Friedman in der New York Times angedeutet, dass die Beziehungen zwischen Joseph Biden und Wolodymyr Selenskyj, wie auch die amerikanisch-ukrainischen Beziehungen insgesamt, gewissen Missstimmungen begegnen und eine nicht gerade beste Phase durchleben.

Freilich lassen sich die zwischenmenschlichen Beziehungen nur schwer aus der Ferne beurteilen. Allerdings häufen sich in jüngster Zeit kritische Einschätzungen der Beziehungen zwischen Washington und Kiew. So soll es neben den altbekannten Korruptionsvorwürfen Kritik an der Ineffektivität des Militärhilfeeinsatzes sowie den mangelnden Kontrollen der Waffenlieferungen geben. Die aktuelle Kritik sollte nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Midterm-Elections in den USA gelesen werden. Die kommenden Wahlen sind sowohl für Biden als auch für die Demokraten äußerst wichtig und alles andere als problemlos. Daher wird die Regierung Biden auch weiterhin auf die innenpolitische Kritik an seinen Entscheidungen offen und transparent reagieren müssen. Dennoch sicherte der US-Präsident Joseph Biden Anfang der vergangenen Woche der Ukraine ein weiteres beispielloses Hilfspaket zu. Daraus lässt sich eine einfache Wahrheit ableiten: Unabhängig von jedweder Kritik und Missverständnissen bleibt die aktuell verbindende Metaebene bestehen – Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Angesichts der mittlerweile starken Involvierung der Vereinigten Staaten in den Konflikt ist eine Niederlage der Ukraine für Washington völlig inakzeptabel geworden. Die Interessen der Vereinigten Staaten und der Ukraine sind damit fest miteinander verwoben. Die umfassende Unterstützung der USA für die Ukraine dürfte damit gesichert bleiben.
 

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Die russischen Amtsträger werden nicht müde zu betonen, dass der 24. Februar 2022 den Beginn der heißen Konfliktphase um die Zukunft der Weltordnung markiert. Was genau erhoffte sich Russland, als es die Invasion der Ukraine begann, und wie berechtigt waren diese Erwartungen?

Die Entscheidung über eine neue Phase des Krieges dürfte wohl irgendwann im Jahr 2020 gefallen sein. Zu diesem Zeitpunkt erkannte Moskau, dass weder wirtschaftlicher Druck noch diplomatische Einflussnahme in der Lage sein würden, die Ukraine zu überzeugen oder zu zwingen, die Minsker Abkommen in der russischen Auslegung umzusetzen. Also begann man damit, die Vorbereitungen für den Einsatz der militärischen Komponente zu treffen. Allerdings war ich – wie auch die überwiegende Mehrheit meiner Kollegen – davon überzeugt, dass die Russen die Klugheit besitzen, den Bedrohungsgrad aufrechtzuerhalten, ohne dabei aber die Grenze zu einer umfassenden militärischen Aktion zu überschreiten. Eine Truppenkonzentration an den Grenzen zur Ukraine, wie diese beinahe das gesamte Jahr 2021 über erfolgte, hätte die Verhandlungspositionen Russlands erheblich gestärkt. Moskau hätte über einen sehr langen Zeitraum direkt wie auch indirekt die Eskalationsdrohung aufrechterhalten und damit durchaus erfolgreich sein können. Die Folgen dieser potenziellen Politik lassen sich nämlich nicht abschließend beurteilen. Angesichts der Entscheidung Moskaus zugunsten einer umfassenden Eskalation war die internationale und regionale Lagebeurteilung durch den Kreml, gelinde gesagt, äußerst oberflächlich.

Was, denken Sie, lag dieser Eskalation militärstrategisch zugrunde? 

Die russischen Strategen entwickelten ihre Planungen wohl ausgehend vom Beispiel des Krim-Szenarios aus dem Jahr 2014. Auch dürfte Moskau darauf gesetzt haben, dass der Überfall die ukrainische Führung verunsichern und desorientieren wird. Doch selbst wenn die ukrainische Regierung unter der Führung des Präsidenten in den ersten Tagen des Krieges ihre Handlungsfähigkeit verloren hätte, sollte jedem, der die ukrainische Gesellschaft auch nur ansatzweise kennt, klar sein müssen, dass die Ukrainer nach all den politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen der vergangenen 20 Jahre weiterhin Widerstand gegen die Invasoren geleistet hätten. Wie dem auch sei, Russland hat die Lage sowie das Kräfteverhältnis vollkommen falsch eingeschätzt. Moskaus Pläne für einen kurzen, siegreichen Feldzug nach dem Vorbild des Georgienkrieges aus dem Jahr 2008 oder der Operation zur Annexion der Krim im Jahr 2014 scheiterten innerhalb von Tagen. Der erhoffte Blitzkrieg wurde zu einem Abnutzungskrieg, unter indirekter Beteiligung des Westens respektive Chinas.

Wie hat das die Kriegssituation verändert? 

In einem Abnutzungskrieg gewinnt in erster Linie nicht derjenige, der den Vorteil des Überraschungsmoments auf seiner Seite weiß, und auch nicht derjenige, der über mehr Waffen, Panzer und Flugzeuge verfügt, sondern derjenige, dessen Gesellschaft auf eine langwierige Konfrontation vorbereitet ist. Hierbei spielt vor allem die Unterstützung durch die jeweiligen Verbündeten eine entscheidende Rolle. Die Ukraine hatte – trotz aller Unstimmigkeiten vor Kriegsbeginn – von Beginn an starke und zuverlässige Verbündete. Russland hingegen hat keine richtigen Verbündeten. Dies ist ein weiterer Grund, warum die Entscheidung Moskaus, die sogenannte „Spezialmilitäroperation“ zu starten, abenteuerlich war. Mit Blick auf die internationale Unterstützung war die Russische Föderation nicht auf eine langfristige Konfrontation vorbereitet. Aus diesem Grunde musste Moskau improvisieren und spontan um Hilfe suchen, sowohl im postsowjetischen Raum als auch im Nahen Osten, bei Indien und China. Auf diese Weise wurde der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zu einer Art Kampf um die Zukunft der Weltordnung.

Offenbar hat Russland keine Verbündeten, bestenfalls eine Handvoll – sagen wir – „Fans“. Doch der Unterschied zwischen Verbündeten und Fans könnte kaum größer sein, denn im Gegensatz zu Verbündeten, gehen Fans unabhängig vom Ausgang des Konflikts keine direkten Risiken ein.

Ja, so ist es. Sicherlich gibt es neben Russland eine ganze Reihe von Staaten, welche auf die eine oder andere Weise mit der gewissen Westzentriertheit der modernen Weltordnung unzufrieden sind; so zum Beispiel China. Nachdem Russland diesen Konflikt entfacht hat, möchte Moskau aber China und Indien hineinziehen und den eigenen brutalen Krieg gegen die Ukraine als einen gerechtfertigten Kampf um eine neue multipolare Weltordnung mit einem geringeren Einfluss der USA und des gesamten Westens hochstilisieren. Doch obschon Peking den Westen gerne herausfordern würde, ist China im Augenblick nur zu offensichtlich nicht bereit, dies auf eine derart vulgäre Art und Weise zu unternehmen.

Ihren Ausführungen zufolge, dürfte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine unabhängig von seinem Ausgang Moskau kaum Vorteile bringen, dafür aber handfeste, langfristige Probleme bereiten.

Ja. Die Russen sind große Anhänger der realistischen Schule der internationalen Beziehungen. Natürlich ausschließlich in ihrer eigenen Lesart des Realismus. Demnach liegt der Fokus internationaler Beziehungen auf Einflusssphären und es gilt das Recht des Stärkeren. Denn die Starken können die Schwachen jederzeit schlagen. Freilich ist es nicht das erste Mal, dass der Versuch, diesen Welterklärungsansatz in die Praxis umsetzen, Moskau vor große Probleme stellt. Dies schon allein deshalb, weil der russische Interpretationsansatz des Realismus im klaren Widerspruch zu historischen Realitäten steht: Die Starken können nun einmal nicht immer die Schwachen besiegen. Beim richtigen Realismus geht es darum, das Kräfteverhältnis genauestens zu berechnen, darauf aufbauend Diplomatie zu betreiben, und natürlich sind Kriege angesichts der sehr hohen Risiken grundsätzlich zu vermeiden. Letzteres gilt umso mehr für Kriege um die Zukunft der Weltordnung.

Welche Art von Krieg führt Russland in der Ukraine?

Das moderne Russland führt in der Ukraine einen sehr schlecht vorbereiteten und aus diesem Grunde aussichtslosen Krieg. Jeder Kriegsausgang wird keinesfalls zugunsten Moskaus ausfallen. In beinahe sechs Monaten des Krieges vor den Augen der gesamten Welt ist es Russland nicht nur misslungen, die Ukraine zu besiegen, Moskau scheiterte selbst daran, auch nur etwas Entscheidendes zu erreichen. Dies allein deutet bereits auf die erhebliche Schwäche Moskau hin. Auch ist Russland nunmehr seines bisher einzigen äußerst effektiven Trumpfes beraubt – der Drohung mit dem Einsatz militärischer Macht. In Zukunft ist es kaum vorstellbar, dass jemand Russlands Militärdrohgebärden allzu ernst nimmt. Außerdem können selbst begrenzte russische Zielsetzungen in der Ukraine nur noch zu einem sehr hohen Preis erreicht werden. Damit dürfte Russland seinen Platz im Kreis der Großmächte verlieren. Ein geschwächtes Russland kann in der neuen Weltordnung bestenfalls mit dem Status einer Mittelmacht mit einer minimalen Einflusssphäre rechnen und wird damit zu einem äußerst bequemen und sehr preiswerten Werkzeug in den Händen Chinas. Schließlich sollte nicht übersehen werden, dass alle Folgen des Krieges – die erheblichen wirtschaftlichen Verluste, der technologische Rückstand –, selbst wenn Russland in der Ukraine erfolgreich sein sollte, bestehen bleiben werden. Der Preis des Krieges ist für Moskau äußerst schmerzhaft. Auf Russland kommen viele Jahre der Krise, des inneren Wandels, der Suche nach einem neuen Platz in der Welt und der Neubewertung der Rolle seiner sogenannten strategischen Partner zu, von denen die meisten nach dem Krieg deutlich stärker sein werden als Russland. All dies ist der Preis für die fehlgeleitete und kriminelle Entscheidung, die Ukraine zu überfallen.
 

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Was wird dieser Krieg für die Ukraine bedeuten und wie wird er die ukrainische Politik verändern? Welche wesentlichen Trends können Sie im Moment feststellen?

Gewissermaßen beschleunigte die aktuelle Kriegsphase die politischen Trendprozesse, die in der Ukraine schon vor ihrem Beginn im Gange waren. Zu diesen Trends gehört die Schaffung einer nationalen Identität, deren Entwicklungsvektor bereits vor dem Krieg festgelegt wurde. Dazu zählen beispielsweise die Stärkung der Rolle der ukrainischen Sprache sowie die endgültige Abgrenzung von Russland und der russischen Kultur. Vor dem Krieg war dies auch der Fall, aber in einer stärker debattierten, langsamer ablaufenden, sanfteren Form. Nunmehr erfolgen diese Prozesse deutlich schneller und entschlossener. Natürlich wird die Gesamtverfassung der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen. Im Augenblick ist es aber unmöglich, vorherzusagen, wie die ukrainische Wirtschaftsstruktur nach Ende des Krieges aussehen wird.

Wie war die Lage davor? 

Vor Beginn der aktuellen Phase des Krieges war die Wirtschaft der Ukraine in erster Linie auf Landwirtschaft, Metallurgie und den Energiesektor ausgelegt, mit bedeutenden Industriezentren im Osten des Landes. Nach dem Krieg wird sich die Wirtschaftsgeografie der Ukraine verändern. Aus dem einfachen Grund, weil ein großer Teil des Südens und Ostens des Landes zerstört ist und sich der Schwerpunkt der ukrainischen Wirtschaft wohl in die Zentral- und/oder die Westukraine verlagern dürfte; und damit auch die Schwerpunkte der ukrainischen Volkswirtschaft. Ferner könnte das Militär eine aktivere Rolle im politischen Leben des Landes einnehmen. Bislang gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte für Konflikte zwischen der militärischen und der zivilen Ebene.

Und die Oligarchen? 

Was die sogenannten Oligarchen anbelangt, so haben diese sowohl in den Medien als auch im Parlament viel von ihrem ursprünglichen Einfluss eingebüßt. Auch haben sie einen erheblichen Teil ihres Vermögens verloren. Daher ist ihr Einfluss auf die Politik derzeit minimal. Freilich lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wie sich die Dinge nach dem Krieg entwickeln. Was den Generationenwechsel in der Politik betrifft, so wurde bereits unmittelbar mit dem Wahlsieg von Wolodymyr Selenskyj im Jahr 2019 offensichtlich, dass die bisherige Politikergeneration die politische Bühne verlassen muss. Dabei handelt es sich nicht nur um altbekannte Politiker, derer die ukrainische Bevölkerung überdrüssig wurde, sondern auch um alle Politiker, die ihnen ähneln und vergleichbar handeln. Der Krieg hat diesen Trend noch weiter verstärkt. Ich bin überzeugt, dass nach dem Krieg eine andere Art von Politikern und eine andere Art von Politik gefragt sein werden. Ich hoffe, dass wir aus diesem Krieg als ein demokratisches Land hervorgehen werden. Denn Krieg ist immer eine Bewährungsprobe für die Demokratie. Und da nach wie vor Kriegszustand gilt, ist ein Urteil über die Lage der ukrainischen Demokratie schwierig zu fällen. Aber auch hier gilt das oben Gesagte: Angesichts der enormen Unterstützung durch den Westen und aufgrund der Tatsache, dass das gesamte politische Modell der Ukraine inzwischen darauf beruht, sich vom autoritären Russland scharf abzugrenzen, denke ich, dass ungeachtet aller Schwierigkeiten niemand in der Lage sein wird, die demokratischen Entwicklungsprozesse in der Ukraine umzukehren.

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Arne Zinner | Do., 18. August 2022 - 12:12

Daß man auch denken, meinen, glauben, vermuten, annehmen, finden oder damit rechnen u. dafür halten könnte bzw. der Ansicht, Auffassung, Meinung ist oder, womöglich zu dem Ergebnis käme - ausgeschlossen! Wir gehen davon aus, gehen davon aus und gehen davon aus, sofern wir nicht irgendwann eingehen.

Ingo Frank | Do., 18. August 2022 - 12:30

Das sehe ich genau so. Schlagen die Maßnahmen (Handelsboykott / Sanktionen) der EU in Verbindung mit der desaströs gemachten Links Grünen Energiewende Deutschland auf die Bürger mit aller Härte durch, ist es um die Kriegs-(Begeisterung) Solidarität ganz schnell geschehen. Und bisher wurde der hiesigen Bevölkerung immer weiß gemacht, dass die steigenden Preise, egal für welche Produkte, ihre Ursachen im Ukrainekrieg zu suchen seien. Das viele der Preis -Explosionen, besonders den Energiesektor betreffend, auf der Misswirtschaft der letzten Merkeljahre und der neuen Aufbruchregierung zu Schulden sind, wird immer weiteren Teilen der deutschen Bevölkerung klar. Und mit diesem Erkenntnissgewinn, verbunden mit einem Blick ins eigene Portmonee, wird die „Solidarität“ mit der Ukraine schwinden. Nebenher auch das Vertrauen in die Grün linke Politik und ihrer Helfer. (Presse, Funk & Fernsehen)
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Norbert Heyer | Do., 18. August 2022 - 13:14

Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Krieg uns noch sehr lange begleiten wird. Jedoch sehe auch ich mittelfristig enorme Absetzbewegungen einiger EU-Staaten, denen die Unterstützung der Ukraine zu teuer und zu gefährlich wird. Die USA sind zwar offiziell der größte Waffenlieferant und finanzielle Unterstützer, aber sie werden sich jeden Dollar von der EU zurückholen - mit Gaslieferungen zu horrenden Preisen. Die EU bemerkt den schleichenden Untergang und die großen Belastungen der Bürger. Außerdem kommt vom schauspielernden Präsidenten nichts als Forderungen, Undank und der Versuch, einen Weltbrand zu entfachen. Ihn hier politisch für diese Politik zu loben, entlarvt den Experten als willigen Mitläufer. Erst wenn die Ukraine restlos am Ende und auch Russland geschwächt ist, könnten Verhandlungen den Krieg ersetzen. Die EU wird einen Stellungskrieg über Jahre wirtschaftlich und politisch nicht überleben. Wer zahlt, hungert und friert schon gerne für undankbare, unbelehrbare Despoten.

hermann klein | Do., 18. August 2022 - 13:19

Ich habe gestern auf DAZN das Fußballspiel Dynamo Kiew gegen Benfica Lissabon gesehen.
Im Stadion vom Krieg keine Spur.
Bei einer Übertragung im dunkelgrünen Deutschen-Staatsfernsehen hätte die Kriegsberichterstattung im Vordergrund gestanden.
Gottlob gibt es Sky, DAZN und vor allem Servus TV.

Kai Hügle | Fr., 19. August 2022 - 06:17

Erneut sehr schlechte Nachrichten für die Kreml-Klatschhasen, denen nicht viel bleibt außer den YouTube Videos von Oberst Reisner und der Hoffnung, nicht nur Orbán möge ausscheren.
Der Zustand des russischen Militärs wird übrigens nicht nur von Kapitonenko und westlichen Geheimdiensten als verheerend eingeschätzt, sondern auch von russischen Experten, die sich fieses Fiasko nicht länger ansehen können:

https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-russland-krieg-kreml-militaerexp…

Besonders bedenklich das, was hier als "Pluspunkt" bezeichnet wird, "dass der Westen bisher nur rudimentär Waffen geliefert habe. Sollten sich die Nato-Partner jedoch entscheiden, mehr Waffen zu liefern und sollte die zahlenmäßige Überlegenheit der ukrainischen Armee durch die allgemeine Mobilmachung bestehen bleiben, dann könnte sich die Lage für Russland zum Ende des Sommers hin dramatisch verschlechtern."

Jochen Rollwagen | Fr., 19. August 2022 - 18:46

In welcher "Ukraine" Herr Kapitonenko lebt. In der Ukraine die ich kenne kommt das Gas aus Rußland und der Strom entweder aus Belarus oder dem Donbass, ein bißchen auch aus den Atomkraftwerken in der Ost-und Zentral-Ukraine. Bisher ist das kein großes Problem, weil Sommer, aber ab Oktober ist Schicht im Schacht. Die Winter in der Ukraine sind kalt.

Aber vielleicht heizen ja "Experten" nicht und brauchen auch keinen Strom, da sie die heiße Luft selber produzieren.