Ukraine, Israel, Bergkarabach - Eine neue Ära der Gewalt in den internationalen Beziehungen?

Es deutet sich ein von Gewalt geprägter Wandel in der globalen Sicherheitsarchitektur an. Nur eine wohlüberlegte Mischung aus Verteidigungsfähigkeit und Dialogbereitschaft wird den stürmischen Zeiten in den internationalen Beziehungen gerecht werden.

Israelisches Militär am Kibbuz Baram / picture alliance
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Autoreninfo

Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Der terroristische Angriff auf Israel und die unsäglichen Gräueltaten gegen wehrlose Zivilisten, die die Hamas dabei verübt hat, haben schockiert und verstört. Der Nahe Osten ist als Konfliktherd wieder in den Blickpunkt der westlichen Öffentlichkeit gerückt. Damit stellt sich nach dem Krieg in der Ukraine wie auch den vielen gewaltsamen Auseinandersetzungen in anderen Teilen der Welt die Frage: Stehen wir vor einer neuen Phase in den internationalen Beziehungen, die von Gewalt geprägt ist? 

Sicherlich: Es hat immer kriegerisch ausgetragene Konflikte in der jüngeren Vergangenheit gegeben. Man denke nur an Afghanistan, den Krieg zwischen Äthiopien und Eritrea oder dem im Jemen. Das unsägliche Leid, das durch diese bewaffneten Konflikte ausgelöst wurde, ist zwar von den westlichen Gesellschaften wahrgenommen worden. Aber letztlich waren diese Konflikte nicht nur geographisch weit entfernt. Sie schienen allein regionale Ursachen zu haben, weshalb sie zwar menschliches Mitgefühl ausgelöst haben, sie betrafen uns jedoch nicht unmittelbar. 

Wandel in der globalen Sicherheitsarchitektur

Jetzt ist es anders: Der Krieg in der Ukraine markiert erstmals wieder eine bewaffnete Auseinandersetzung vor unserer Haustür in Europa; und es geht offenbar mehr als um einen regionalen Konflikt. Es geht nicht nur um die nach dem Ende des Kalten Kriegs so sicher geglaubte Friedensordnung in Europa; wir haben vielmehr den Eindruck, als gehe es um einen Wandel in der globalen Sicherheitsarchitektur.

Hierzu trägt auch die sich verstärkende Konfrontation mit China bei. Daneben verunsichern die erneut aufbrechenden, vielfach fälschlicherweise als erledigt betrachteten Konflikte um Bergkarabach und Kosovo; und die vielen von der Hamas getöteten Zivilisten in Israel gemahnen, dass auch entwickelte Gesellschaften vergleichbar mit den westeuropäischen trotz hoch entwickelter Schutzmaßnahmen vor bewaffneter Gewalt und Terrorismus nicht völlig gefeit sind. 

 

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Wir stehen vor einer „Zeitenwende“. Dieser Begriff wird leider inzwischen politisch wohlfeil und viel genutzt oder vielleicht auch missbraucht. Die Zeitenwende kann jedoch kein Anlass für bloße emotionale Aufgeregtheit und Empörung sowie eine kopflose, die längerfristigen Folgen ausblendende „Hau drauf“-Politik sein. Sie sollte vielmehr Anlass für eine umsichtige Bestandsaufnahme der verfolgten eigenen Politik und die realistische Einschätzung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten in den internationalen Beziehungen sein.

Leitend muss dabei die Bewahrung von Frieden und der eigenen freiheitlich-demokratischen Verhältnisse sein; dort, wo eine wertegeleitete Politik sich nicht als durchsetzbar erweist, tritt Realpolitik an deren Stelle, eine Politik, die die realistisch gegebenen Kräfteverhältnisse und Handlungsmöglichkeiten im Blick hält und auf die Wahrung friedlicher Koexistenz und einer regelbasierten internationale Ordnung ausgerichtet ist. Um nachhaltig Politik zu gestalten, bedarf es nicht nur der Betrachtung der aktuellen Ereignisse, bei denen sich Verletzungen zentraler Prinzipien der globalen wertebasierten Ordnung feststellen lassen. Es gilt daneben auch vor allem die Ursachen in den Blick zu nehmen. 

Es bedarf einer wohldosierten, vielschichtigen Politik

Soweit die Theorie, aber was heißt das in der heutigen Praxis? Hier mag der Ukrainekrieg als Beispiel herhalten; allerdings lässt sich auch der terroristische Überfall auf Israel nehmen. In beiden Fällen wird deutlich, dass eine eindimensionale Politik nicht ausreicht. Vielmehr bedarf es einer wohldosierten, vielschichtigen Politik, um nachhaltige Ergebnisse zu erzielen. 

Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Russland das allgemeine Gewaltverbot, das zentrale völkerrechtliche Prinzip für das friedliche Miteinander von Staaten, gebrochen. Russland trägt deshalb die Schuld an dem Krieg. Und realpolitisch gilt: Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Interessen darf sich nicht auszahlen. Daher darf durch den Krieg kein falscher Präzedenzfall geschaffen werden. Deshalb ist die nachhaltige Unterstützung der Ukraine, nachdem sich diese zum bewaffneten Widerstand entschlossen hat, nur folgerichtig.

Dieser Aspekt sollte auch gerade den kleineren und mittelgroßen Staaten des sogenannten globalen Südens vermittelbar sein, die sich angesichts einer unverändert als arrogant-kolonialistisch empfundenen Politik des Westens in Zurückhaltung gegenüber Sanktionen gegen Russland üben.

Der Ukrainekrieg ist deshalb auch kein Stellvertreterkrieg; es geht nicht um einen Krieg, bei dem die Ukraine unsere Werte verteidigt, oder allgemein um einen Krieg von Autokratien gegen Demokratien. Die entsprechenden Stilisierungen, die von interessierter Seite zur Verstärkung der Unterstützung der Ukraine gewählt werden, sind schlicht falsch. Dies gilt schon angesichts der Tatsache, dass die interne Verfasstheit von Staaten nicht Gegenstand der regelbasierten Weltordnung ist, wie sie in der UN-Charta niedergelegt ist. 

Ein Denken in Einflusssphären gilt es zu überwinden

Aber auch die USA und die Nato sollten sich bewusst machen und nicht einfach bestreiten: Sie tragen eine Mitverantwortung für den Krieg, der sie sich zu stellen haben. Sie haben vor allem aufgrund ihrer unabgefederten Nato-Erweiterungspolitik wie auch der Nichtberücksichtigung von erklärten russischen Interessen – dabei bleibt zunächst ohne Belang, ob es sich um genuine von Russland reklamierte Sicherheitsinteressen oder lediglich um den Anspruch Russlands auf Behandlung als Großmacht handelt – die Führung Russlands provoziert.

Ein Denken in Einflusssphären, wie es sowohl in der russischen Führung wie auch bei wichtigen Akteuren im Westen anzutreffen ist, gilt es zu überwinden. Es ist das zentrale Versäumnis, dass es in der Zeit nach Ende des Kalten Kriegs nicht gelungen ist, Russland in die europäischen Sicherheitsordnung einzubeziehen und ihm darin einen angemessenen Platz zu gewähren. 

Einseitige Fokussierung des Westens auf die militärische Unterstützung

Der Ukrainekrieg hat sich zu einem brutalen und verlustreichen Abnutzungskrieg entwickelt. Die einseitige Fokussierung des Westens auf die militärische Unterstützung der Ukraine und Realisierung aller ihrer Kriegsziele lässt zentrale realpolitische Aspekte wie auch aus dem Kalten Krieg zu ziehende Lehren außer Acht. So darf das Bekenntnis zu westlichen Werten nicht die Frage ihrer Durchsetzbarkeit ignorieren. 

Zudem ist auch – was aktuell kaum thematisiert wird – die Hinnahme des langandauernden Abnutzungskriegs mit seinen zigtausend Toten moralisch fragwürdig. D.h., es geht nicht allein um eine nüchterne Kosten-Nutzen Analyse, vielmehr geht es auch um das Recht auf Leben, das den anderen Menschenrechten vorausgeht. 

Und schließlich fehlt westlicherseits angesichts des offenbar emotionalen Überschwangs eine nüchterne Folgenabschätzung des eigenen Handelns. Hierzu zählen beispielsweise Vorkehrungen zum Durchhaltevermögen der militärischen Unterstützung der Ukraine u.a. im Hinblick auf mögliche Entwicklungen in den USA.

Wie weit geht die militärische Unterstützung, und wie kann sie aufrechterhalten werden? Wann wird die Nato zur Kriegspartei? Und kann das gleiche Verständnis hierzu auch bei Putin vorausgesetzt werden? Und wie sieht es bei einer sich nicht völlig auszuschließenden ukrainischen Niederlage aus? Wird auch für den Fall ein Eingreifen von Nato-Truppen ausgeschlossen? Bemerkenswert ist vor allem aber auch die unverantwortliche Geringschätzung bzw. das einfache Abtun der nuklearen Eskalationsrisiken. 

Diplomatische Lösung scheint unerwünscht zu sein

Diese Überlegungen sollten eigentlich die Auslotung der Möglichkeiten eines Waffenstillstands bzw. einer politischen Lösung nahelegen. Schon die aktuelle militärische Pattsituation zwischen der Ukraine und Russland spricht eigentlich dafür. Allerdings gibt es hierauf keinerlei Hinweise: Die Kriegsparteien scheinen an einer Lösung auf dem Schlachtfeld festzuhalten, selbst wenn ihre Kriegsziele vermutlich nicht realisierbar sind.

Aber es gibt auch keine Anzeichen für ein Einwirken insbesondere der USA auf die Kriegsparteien, sich zu einem diplomatischen Prozess bereitzufinden, wobei dieser keine Einstellung der Kampfhandlungen zur Voraussetzung hätte. Konfrontation und Ausgrenzung charakterisieren vielmehr die Haltung der Nato. 

Ursachenbekämpfung und vorausschauende Konfliktverhütung

Neben dem Ukrainekrieg muss auch der jüngste terroristische Angriff der Hamas auf Israel einer nüchternen Analyse unterzogen werden. Solidaritätsadressen, die sich auf die Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson berufen, mögen zwar geboten sein, sie helfen jedoch praktisch nicht viel weiter. Angesichts der von der Hamas an unschuldigen Zivilisten verübten Gräueltaten und Morde ist nur zu verständlich, dass Israel ein- für allemal diese Terrororganisation ausschalten will. 

Selbst wenn in kurzfristiger Sicht die Terrorismusgefahren im Vordergrund stehen, so muss sich danach auch wieder die Aufmerksamkeit auf die Ursachenbekämpfung und die vorausschauende Konfliktverhütung richten. Damit kommt auch wieder die Lage der Palästinenser in den Blick. Deren Situation hat sich gerade auch im Westjordanland in den letzten Jahren weiter verschlechtert: Inzwischen leben nahezu 700.000 jüdische Siedler im Westjordanland und in Ost-Jerusalem.

Zweistaatenlösung muss mit Entschiedenheit verfolgt werden

Die Völkerrechtswidrigkeit dieses Zustands und die Zunahme gewaltsamer Vertreibungen palästinensischer Bauern von ihrem Land gerade in den letzten Jahren werden vielfach geflissentlich übersehen. Dabei tragen doch diese Ereignisse zu einer Radikalisierung der Palästinenser und der Unterstützung von terroristischen Bewegungen wie der Hamas bei. So war es richtig, dass die EU ihre noch am Montag erklärte Einstellung der Entwicklungshilfe an die Palästinenser zurückgenommen hat. Auch die Bundesregierung hat erklärt, die Hilfen fortzusetzen. 

Bei aller notwendigen Unterstützung Israels in der jetzigen Situation – und daran besteht keinerlei Zweifel – dürfen danach Maßnahmen zur Gewährleistung eines nachhaltigen Friedens im Nahen Osten nicht vernachlässigt werden. Es bedarf hierzu der Aufgabe der rücksichtslosen Politik gegenüber den Palästinensern und der Rückkehr zur Respektierung von deren Rechten. Auch die Statusfrage wie die Zweistaatenlösung muss wieder mit Entschiedenheit verfolgt werden. Dies mag wenig aussichtsreich klingen, gehorcht aber realpolitischer Vernunft. 

Gesicherte Verteidigungsfähigkeit

Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen die Notwendigkeit differenzierender Analysen und entschiedener und mutiger Handlungen. Dabei bleiben die politischen Grundlagen für das erfolgreiche eigene Tun gleich, wobei deren Vermittlung eine besondere Herausforderung bedeutet: 

1.) Eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit ist zentrale Voraussetzung für eine wirksame und glaubwürdige Sicherheitspolitik besonders in den bevorstehenden „ungemütlicheren Zeiten“. Eine nachhaltige Beseitigung der Ausrüstungs- und Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr ist besonders dringlich. Die hierzu bisher ergriffenen Maßnahmen – insbesondere das Sondervermögen über 100 Mrd. Euro – dürften ebenso wie die Erhöhung des Anteils der Verteidigungsausgaben am BIP auf 2% nicht ausreichen. Daneben dürfte auch die Wiedereinführung einer Wehr- bzw. Dienstpflicht erforderlich sein. 

2.) Angesichts eines heraufziehenden neuen Kalten Kriegs bedarf es der Stärkung der Nato auch im Hinblick auf eine effektive multinationale Vorneverteidigung an der Grenze zu Russland (gegebenenfalls nach dem Vorbild des vergangenen Kalten Kriegs). Die Abschreckungsfähigkeit des Bündnisses muss ausgebaut werden. 

Entschieden auf diplomatische Lösungen drängen

3.) Eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit bietet eine gute Grundlage, um auf Dialog auch zwischen verfeindeten Parteien hinzuwirken und entschieden dafür einzutreten, dass so schnell wie möglich Verhandlungen mit dem Ziel einer Beendigung bewaffneter Konflikte und der Schaffung möglichst gerechter und damit nachhaltiger Friedensbedingungen in Gang kommen. Hierbei darf es nicht zu falschen Präzedenzen wie die Belohnung von völkerrechtswidrigen Aggressionen kommen. Gleichzeitig dürfen aber auch keine, gegebenenfalls zur Gesichtswahrung notwendige, Kompromisslösungen von vornherein ausgeschlossen werden. 

4.) Angesichts als unzureichend erachteter Einflussmöglichkeiten müssen vor allem die USA ermutigt werden, entschieden auf diplomatische Lösungen zu drängen. Zudem wird es vielfach erforderlich sein, im Interesse der Erreichung diplomatischer Lösungen China und auch andere zentrale Staaten des globalen Südens eng einzubeziehen. 

Strategische Autonomie der EU

5.) Wir stehen möglicherweise vor einem Umbruch in der globalen Sicherheitsarchitektur, bei dem die EU ihren Gestaltungsanspruch nicht aufgeben sollte. Dabei muss es vor allem um die Bewahrung einer regelbasierten Weltordnung gehen, die dem friedlichen Miteinander und der ökonomischen Entfaltung der Staaten dient und Gewalt wie Einschüchterung ausschließt. 

6.) Angesichts künftiger Unwägbarkeiten in den USA und daraus folgender Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen aber auch mit Blick auf eine Verschärfung der künftig die Weltordnung charakterisierenden multipolaren Rivalität insbesondere zwischen den Großmächten sollte die EU ihre Selbstbehauptungskräfte stärken und auch militärisch eine strategische Autonomie (auch unter Einschluss eines nuklearen Abschreckungsdispositivs) anstreben. 

Dialog zwischen den Großmächten

7.) Angesichts der Aussicht auf einen (nach erfolgter „Abräumung“ des bisherigen rüstungskontrollpolitischen Acquis) weitgehend unregulierten neuen Kalten Krieg zwischen den Großmächten sollten trotz der kurzfristig nicht zu überwindenden Gegensätze der Dialog zwischen den Großmächten wieder aufgenommen und die Rüstungskontrolle mit dem Ziel der Stabilisierung der militärischen Konfrontation und der Vermeidung von Fehlkalkulationen wiederbelebt werden. 

8.) Die Bemühungen zum Ausbau regelbasierter Ordnungsrahmen sollten auf globaler wie regionaler Ebene mit Nachdruck (und ohne Illusionen) fortgesetzt werden. Dabei ist die Zusammenarbeit unter den durch das UN-System privilegierten P5-Staaten (USA, China, Russland, Frankreich, Großbritannien) im Interesse einer Einhegung ihrer Rivalität zu fördern. Eine Zusammenarbeit ist auch angesichts der großen Menschheitsherausforderungen (Stichworte: Klimawandel, Bewahrung der gemeinsamen Lebensgrundlagen, Armutsbekämpfung, regionale und globale Konfliktverhütung und -regelung, nukleare Nichtverbreitung) dringend geboten. 

9.) Neben der äußeren Sicherheit muss auch die innere Sicherheit angesichts möglicherweise erhöhter Risiken gestärkt werden. Aus dem Ruder laufende Demonstrationen, die den Terrorangriff der Hamas feiern, könnten einen Vorgeschmack gegeben haben. Hierzu wird auch die Migrationspolitik wieder stärker in den Blick genommen werden müssen. Die Aufnahmefähigkeit von Migranten entscheidet sich eben nicht an den Unterbringungs-, sondern an den Integrationskapazitäten. Nicht integrationswillige Migranten und Parallelgesellschaften dürfen ebenso wie antisemitische Umtriebe nicht toleriert werden

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