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Migrantenpfarrer in Tunesien - Der Totengräber der Schiffbrüchigen

Bei der Überfahrt nach Europa sind seit Jahresbeginn 470 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken oder verschollen. Nur wenige der Opfer können identifiziert werden. Einige von ihnen musste Pfarrer Jonathan in der tunesischen Stadt Sfax beerdigen

Autoreninfo

Sarah Mersch ist freie Korrespondentin in Tunis (Tunesien) und Trainerin für die Deutsche Welle Akademie. Sie studierte Filmwissenschaft, Buchwissenschaft und Philosophie.

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Pfarrer Jonathan schiebt ein rostiges Tor zur Seite. Der christliche Friedhof, mitten im Industriegebiet von Sfax, ist nur über die Seite zugänglich. Der Haupteingang ist mit einer schweren Eisenkette verschlossen. An der Ecke kläffen zwei Hunde, unter einer Palme drängt sich eine Ziegenherde.

Jonathan, 34, aus Nigeria, betritt mit goldener Sonnenbrille, schwarzer Schiebermütze und Joggingjacke den Friedhof. Außer einer Familie, die im Wärterhäuschen lebt, schaut hier selten jemand vorbei.

Seitdem der Pfarrer Ende 2010 in Sfax angekommen ist, hat er gerade mal zwei Gemeindemitglieder beerdigt: alte Leute, die schon seit Jahrzehnten in der Küstenstadt im Osten Tunesiens gelebt haben. Die meisten Christen haben das Land nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 verlassen.

Für Grabsteine ist kein Geld da


Doch dann sind da noch die neuen Gräber, in einer Ecke des Friedhofs. Sie liegen unter simplen, grauen Betonplatten. Für Grabsteine ist kein Geld da. Nur an ein, zwei Stellen sind Namen in den Beton geritzt.

Es sind die letzten Ruhestätten von Flüchtlingen, die beim Versuch, über das Mittelmeer zu gelangen, ihr Leben verloren haben. Es müssen mehr als fünfzehn sein. An die genaue Zahl erinnert sich Pfarrer Jonathan nicht mehr. Vielleicht hat er, der selbst einmal Flüchtling war, sie auch verdrängt. „Wir geben ihnen ein letztes Geleit, so dass sie zumindest am Ende ihres Lebens würdevoll behandelt werden.“

Immer wieder fischt die tunesische Küstenwache Leichen aus dem Wasser. Verzweifelte, Namenlose, die fast nie Ausweispapiere bei sich tragen. In solchen Fällen schalten die Beamten internationale Hilfsorganisationen ein – und vielleicht auch die Gemeinde St. Peter und Paul von Pfarrer Jonathan. „Wenn die Leichen, die an den Strand gespült werden, ein Kreuz tragen, dann melden sich die Behörden bei mir.“

Tausende Flüchtlinge ertrinken im Meer


Tunesien ist eines der wichtigsten Durchgangsländer für die Flüchtlingsströme nach Europa. Von Sfax zur italienischen Insel Lampedusa sind es weniger als 200 Kilometer. Kurz nach der Revolution 2011 war es ein Leichtes, von der tunesischen Küste aus zu starten.

Mehr als 218.000 Migranten haben allein 2014 das Mittelmeer überquert, um nach Europa zu gelangen, davon 170.000 über das zentrale Mittelmeer, so die Zahlen des Flüchtlingshilfswerks UNHCR und der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex. Mindestens 3500 Menschen kamen dabei ums Leben. Seit kurzem kontrolliert die tunesische Küstenwache das Meer immer strenger.

Viele Migranten starten daher bereits in Libyen und nehmen eine noch längere, gefährlichere Route in Kauf. Bis Mitte März 2015 sind rund 470 Menschen gestorben oder gelten als vermisst – im Vorjahreszeitraum waren es nach UNHCR-Angaben noch 15. Sie fliehen vor Armut, Hunger, Gewalt und Bürgerkriegen. Aber auch vor den islamistischen Terrormilizen von Boko Haram und Al Qaida.

Das Haus der Eltern niedergebrannt


Pfarrer Jonathan ist vor fünf Jahren selbst nach Nordafrika gekommen, um sein Bild des Islams zu überprüfen. Diesen hatte er in seiner nigerianischen Heimat vor allem als gewalttätige Religion kennengelernt, erzählt er.

Jonathan Wyok Bahago war noch ein kleiner Junge, als die Tragödie über sein Dorf in der Provinz Kaduna einbrach. Muslime überfielen Christen. Angestachelt von der ersten Intifada im Nahen Osten, brannten sie das Haus seiner Eltern nieder. Die Familie floh in eine nahegelegene Kaserne, dann in den Süden des Landes.

Zum Glück hätten die Dschihadisten nicht gewusst, dass seine Mutter Muslimin war: Eine islamische Religionsangehörige, verheiratet mit einem Christen – in den Augen der Fanatiker war das eine noch schlimmere Sünde, als Christ zu sein. Seine Mutter ist dem Tod nur knapp entkommen, da ist sich Jonathan sicher. Auch nach mehr als 20 Jahren ist noch die Erleichterung in seiner Stimme zu hören.

Jonathan entschied sich, sein Leben ganz dem Christentum zu widmen. Er trat der Gesellschaft der Missionare von Afrika bei, die auch „Orden der Weißen Väter“ genannt werden, weil sie zu offiziellen Anlässen immer helle Gewänder tragen. Er wurde zum Studium der Philosophie und Religion nach Ghana, Sambia, Burkina Faso und Jerusalem geschickt.

Tunesien kennt keine Asylverfahren


Als er in Tunesien ankam, begann kurz danach der politische Aufstand. In Libyen kam es im Februar 2011 zum Bürgerkrieg, Hunderttausende strömten über die Grenze nach Tunesien.

Jonathan fuhr ins Flüchtlingslager Choucha, wenige Kilometer hinter der Grenze mitten in der Wüste gelegen. Eigentlich wollte er nach ein paar Tagen wieder abreisen. Dann entschied er sich zu helfen: „Am Anfang haben wir Kartoffeln geschält. Als dann die Vereinten Nationen kam, haben wir im Lager eine Bücherei aufgebaut, Spiele und Gottesdienste organisiert.“ Jonathan blieb drei Jahre.

Das Lager Choucha ist inzwischen geschlossen, viele Flüchtlinge sind in ihre Heimatländer zurückgekehrt oder haben anderswo politisches Asyl erhalten. Und einige, die nirgendwo anerkannt wurden, sind weiterhin auf der Suche nach einer besseren Existenz in Tunesien.

Asylverfahren gibt es hier nicht, denn das tunesische Recht kennt kein Asyl und keine Flüchtlinge, nur legale Migranten. Wer illegal ins Land kommt, landet wegen Verletzung der Einreisebestimmungen vor dem Strafrichter.

Stille Ohnmacht


Viele Migranten aus Subsahara-Afrika reisen daher mit Touristenvisa ein und bleiben nach Ablauf einer dreimonatigen Frist illegal im Land. In Sfax sind es vor allem junge Frauen aus der Elfenbeinküste. Sie arbeiten ohne Vertrag als Haushaltshilfe, bei Pfarrer Jonathan legen sie ihre Beichte ab. Direkt eingreifen könne er nicht: „Schließlich unterliege ich als Geistlicher dem Schweigegelübde.“ Aber er verweist die Frauen an eine Menschenrechtsorganisation, in der er sich engagiert.

Wenigstens ein kleiner Trost. Bei jenen, die im Mittelmeer ertrinken, bleibt oft nur stille Ohnmacht.

In einem der anonymen Betongräber liegt ein Junge, der gerade mal neun Jahre alt wurde. „Seine Geschichte werde ich nie vergessen, nie vergeben können“, sagt Pfarrer Jonathan.

Er kennt nicht nur das Alter des Jungen, sondern auch sein Herkunftsland: den Kongo. Damals wunderte er sich, dass er von den Behörden so viele Informationen über den Toten erhalten hatte. Flüchtlinge tragen ja nur äußerst selten Pässe bei sich.

Eltern durften nicht zur Beerdigung des Sohnes


Jonathan forschte beim UN-Flüchtlingshilfswerk und beim Roten Halbmond nach: Die Eltern des Jungen hatten überlebt, als ihr Boot vor der tunesischen Küste gekentert war. Die Behörden brachten sie in ein Internierungslager in Ourdia, in der Nähe der Hauptstadt Tunis.

Pfarrer Jonathan vermutet, dass es sich dabei um ein Auffanglager von Frontex handelt, denn ein reguläres Gefängnis gibt es dort nicht. Die Agentur verschiebt die Kontrolle der europäischen Auffanggrenzen zunehmend an außereuropäische Drittstaaten.

Die tunesischen Behörden hätten den kongolesischen Eltern nicht einmal erlaubt, ihren eigenen Sohn zu bestatten. „Vielleicht wissen sie gar nicht, dass er hier liegt.“ Jonathan hat das auch öffentlich gesagt, er macht aus seiner Kritik keinen Hehl.

Seitdem wird er immer seltener gebeten, anonyme Migranten zu bestatten.

Das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer beschäftigte das Magazin Cicero auch in seiner Ausgabe vom Dezember 2014. „Das Boot ist voll“ lautete der Titel, der den zynischen Satz kommentiert, mit dem die deutsche Abschottungspolitik schon in den 1990er Jahren begründet wurde. Das Heft können Sie hier nachbestellen.

 

Fotos: Italian Navy Press Office/picture alliance (Flüchtlingsboot), Sarah Mersch (Jonathan und Friedhof)

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