Reagan und Kohl: Einvernehmen über den richtigen Umgang mit autoritären Systemrivalen / White House Photographic Office, Bild-Nr. C14016-19, Bill Fitzpatrick

40 Jahre Nachrüstung - Geistig-moralische Zeitenwende

Die Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik vor 40 Jahren läutete den Anfang vom Ende des Kalten Krieges ein. Dabei setzte die Nato von Beginn an auf eine Strategie, die Stärke und Dialog miteinander vereinte. Was können wir heute daraus lernen?

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Dr. Cedric Bierganns, ist Historiker und Referent für Sicherheitspolitik und Bundeswehr bei der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Heute vor 40 Jahren – am 22. November 1983 – hielten Union und FDP dem Druck der Friedensproteste stand und stimmten gegen SPD und Grüne für die Nachrüstung. In der Folge versetzte die Stationierung von Pershing-II-Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik die UdSSR in einen permanenten strategischen Nachteil. Als „Pistole an der Schläfe der Sowjetunion“ (Michail Gorbatschow) läuteten die Raketen den Anfang vom Ende des Kalten Krieges ein. Dabei setzte die Nato von Beginn an auf eine Strategie, die Stärke und Dialog miteinander vereinte. Was können wir heute daraus lernen?

Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik

Waffenlieferungen oder Verhandlungen? Dieser binäre Gegensatz beherrscht seit Monaten die schrill geführte öffentliche Debatte über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die simplifizierende Gegenüberstellung zeugt nicht nur von großer Geschichtsvergessenheit, sondern führt auch in die strategische Sackgasse. Denn wer auf einer Entweder-oder-Haltung beharrt, der schafft sich keine Optionen, sondern verschließt sich ihnen. Nichts verdeutlicht dies besser als ein Blick auf die Supermächtebeziehungen der 1980er Jahre. 

Die große Wendemarke des Jahrzehnts bildete der Nato-Doppelbeschluss, mit dem sich das westliche Bündnis auf ein zweifaches Vorgehen geeinigt hatte: einerseits auf amerikanisch-sowjetische Rüstungskontrollverhandlungen im Bereich der Mittelstreckenraketen; andererseits – für den Fall des Scheiterns dieser Gespräche – auf die Stationierung von Tomahawk-Marschflugkörpern und Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik und in vier weiteren Nato-Staaten Ende des Jahres 1983. Damit schloss das Bündnis die Sicherheitslücke in den Eskalationsstufen, die Moskau seit Ende 1976 mit der Aufstellung von Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 geöffnet hatte.

Schwert und Palmzweig

Das widerspruchsfreie Nebeneinander divergierender Gedankenstränge zählt nicht gerade zu den menschlichen Stärken. Doch eben diese Fähigkeit – „zwei gegensätzliche Ideen im Kopf zu behalten und weiter zu funktionieren“ – zeichnete für den amerikanischen Schriftsteller F. Scott Fitzgerald jene „erstklassige Intelligenz“ aus, die auch einer ganzen Reihe strategischer Vordenker zu eigen war. 

 

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Dem Athener Geschichtsschreiber Thukydides zufolge hatte bereits der König von Sparta für den Peloponnesischen Krieg eine Doppelstrategie aus Dialog und Stärke gewählt. Und auch Klemens Fürst von Metternich setzte 1809 auf die Parallelität von Friedensangebot und Offensive: „Wir sollten immer das Schwert in der einen und den Palmzweig in der anderen Hand tragen, stets bereit zu Verhandlungen, aber verhandeln stets unter gleichzeitigem Vormarsch.“ 

Zu voller Blüte reifte die Komplementarität von Verteidigungs- und Entspannungspolitik 1967 mit der Harmel-Formel der Nato, die Abschreckung und Verständigung gegenüber der UdSSR als zwei Seiten einer Medaille betrachtete. Doch erst US-Präsident Ronald Reagan kombinierte westliche Stärke und Dialogbereitschaft in bisher ungekanntem Ausmaß. 

„Friede durch Stärke“

Zu Reagans sicherheitspolitischen Grundprämissen gehörte es, dem Kreml nur aus einer Position der Stärke entgegenzutreten. „Friede durch Stärke“ lautete seine Devise, mit der er der Sowjetunion Konzessionen in der Rüstungskontrolle abzuringen gedachte. Dank neuer Aktenzugänge wissen wir heute, dass Reagan seit Beginn seiner Präsidentschaft eine Doppelstrategie aus Härte und Dialog verfolgte, die er 1981 in einem geheimen Treffen mit dem Kardinalstaatssekretär des Vatikans wie folgt beschrieb: 

„Wir können den Sowjets mit unserer Fähigkeit drohen, sie zu übertreffen, und die Sowjets wissen, dass wir dazu in der Lage sind. Sobald wir dies sichergestellt haben, können wir die Sowjets auffordern, sich uns anzuschließen und das Waffenniveau auf beiden Seiten senken.“ 

Mit der Überzeugung, dass nur derjenige nicht kämpfen müsse, der kämpfen könne, forcierte Reagan eine nie gekannte militärische Aufrüstung in Friedenszeiten, die die Vereinigten Staaten erstmals im 20. Jahrhundert zu einer Schuldnernation machte. Weit über eine Billion US-Dollar flossen zwischen 1981 und 1986 in das Verteidigungsbudget – fast so viel wie die Präsidenten Nixon, Ford und Carter über die vergangenen zwölf Jahre hinweg zusammen veranschlagt hatten.

Mittel zum Zweck

Doch Reagan betrachtete Stärke nicht als Selbstzweck, sondern nur als Mittel zum Zweck, mit dem er Zeit zu gewinnen versuchte, um die militärischen Voraussetzungen für eine spätere Abrüstungsvereinbarung zu schaffen. Folgerichtig waren bis zum Bundestagsvotum am 22. November 1983 alle Verhandlungen mit Moskau nur Scheinverhandlungen. In dieser Zeit besaßen Reagans Züge im Raketenschach Schau-Charakter: Sie wurden vor der deutschen Öffentlichkeit und für sie gespielt. Das Meinungsklima in der Bundesrepublik, dem Frontstaat des Kalten Krieges, war ein wichtiger Faktor, der von Reagan für die Umsetzung seiner Doppelstrategie fest einkalkuliert wurde.

Wenig erfreut über das amerikanische Vorgehen war Bundeskanzler Helmut Schmidt. Der Initiator des Doppelbeschlusses glaubte ernsthaft an die Möglichkeit eines baldigen Verhandlungsdurchbruchs mit Moskau. Die tatsächliche Stationierung der Raketen erwog er als ultima ratio, die er erst nach Ausschöpfung aller anderen Verhandlungsoptionen in Betracht zog.

Dahingegen teilte sein Nachfolger, Helmut Kohl, mit Ronald Reagan die Überzeugung, dass „die Sowjetunion erst dann wirklich verhandeln wird, wenn die erste Pershing in der Bundesrepublik aufgestellt wird“. Kohl, dessen Unionspartei mit knapp 49 Prozent als deutlich stärkste Kraft aus den Bundestagswahlen 1983 hervorgegangen war, ließ keinen Zweifel daran, vor welcher grundlegenden Richtungsentscheidung sein Land in der Raketenfrage stand: „Steht ihr, oder steht ihr nicht?“, fragte der überzeugte Transatlantiker seine Fraktionskollegen vor der entscheidenden Bundestagsabstimmung. Sein beherzter Kurs wurde im Weißen Haus geschätzt: „Ein guter Freund und verlässlicher Verbündeter“, notierte Reagan in sein Tagebuch.

Moralisch fundierte Abscheu

Es ist zu kurz gegriffen, den 40. Präsidenten der Vereinigten Staaten als schießwütigen Cowboy abzutun. Vielmehr setzte er sich seit Beginn seiner Präsidentschaft aufrichtig für den Frieden ein. Reagan war beseelt von einer moralisch fundierten Abscheu gegen Atomwaffen, die ihren Ursprung in seiner Furcht vor einem überhasteten oder gar versehentlich ausgelösten Nuklearkrieg hatte. Mit seiner Kritik an der Legitimität einer auf Nuklearwaffen basierenden Idee von Sicherheit stand er der Friedensbewegung näher, als diese es zeitlebens wahrhaben wollte. 

Ganze 15 Monate bevor die Supermächtebeziehungen mit Michail Gorbatschow eine neue Dynamik gewinnen sollten, bot Reagan der Sowjetunion im Januar 1984 einen neuen Dialog über das gemeinsame Interesse einer Welt mit weniger Atomwaffen an. Er tat es aus einer Position der Stärke heraus, nachdem der Stationierungsbeschluss des Bundestages die militärstrategische Schubumkehr zugunsten der Nato eingeleitet hatte. Ohne jegliche Vorleistungen einzufordern, erklärte sich Reagan bereit, die Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR jederzeit wieder aufzunehmen und zu einem guten Ende zu führen. 

Historisch einzigartige Vertrauenskonstellation

Diese Verhandlungen führten bereits vier Jahre nach dem Bundestagsbeschluss über die Stationierung der Pershing-II-Raketen zum Erfolg. Mit der Unterzeichnung des INF-Vertrags am 8. Dezember 1987, in dessen Folge alle Pershing-II-Raketen aus der Bundesrepublik abgezogen wurden, verpflichteten sich erstmals in der Geschichte des Kalten Krieges zwei Rivalen, ihre Aufrüstung nicht nur zu begrenzen, sondern die gesamte Kategorie der landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen zu beseitigen. 

Das durch eine historisch einzigartige Vertrauenskonstellation zwischen Reagan und Gorbatschow zustande gekommene Abkommen setzte einen Schlussstrich unter den Nato-Doppelbeschluss. Die durch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten beharrlich verfolgte Doppelstrategie von Abrüstung durch Aufrüstung, Entspannung durch Eskalation, Friede durch Stärke hatte die Welt ein Stück sicherer gemacht.

Heute vor 40 Jahren

Es war das zentrale Paradoxon der Präsidentschaft Ronald Reagans, dass er eine nie gekannte militärische Aufrüstung verband mit der weitreichendsten Abrüstung des Kalten Krieges. Die Grundlagen dafür wurden heute vor 40 Jahren gelegt. 

Die Geschichte der 1980er Jahre lehrt uns, dass militärische Machtprojektion eine Grundvoraussetzung – und kein Ersatz – für glaubwürdige Diplomatie ist. Der binäre Gegensatz von Krieg und Frieden verengt den politischen Diskursraum und macht blind für die Konflikte der Gegenwart. Wer sich im Ukrainekrieg für eine Verhandlungslösung mit Russland einsetzt, muss erst die Voraussetzung dafür schaffen: Friedensverhandlungen stehen am Ende einer Strategie, die aus einer Position der Stärke heraus begonnen werden muss. 

Nur so lassen sich die Kosten für Russlands Expansionsstreben in die Höhe treiben und Wladimir Putin zum Einlenken bewegen. Die Einsicht, dass Stärke und Dialog zusammengehören, ist die Grundvoraussetzung für das Gelingen der „Zeitenwende“. 

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Henri Lassalle | Mi., 22. November 2023 - 14:09

wenn man in einer starken Position ist, ansonsten ist es nutzlos, denn der Kontrahent wird Schwächen nutzen und gar nicht verhandeln, sondern seine Bedingungen aufzwingen. Der alte lateinische Spruch "will man Frieden, dann bereite man den Krieg vor" ist zu allen Zeiten und in allen Situationen gültig, alles andere wäre naiv.
Aber ich glaube nicht an eine Bereitschaft Putins zu verhandeln. Er ist fanatisch entschlossen, eine, nach seinem Sinn, politische Neuordnung Europas zu verwirklichen. Dafür wird er auch einen langen Verschleisskrieg mit der Ukraine in Kauf nehmen - und sich freuen, dass der Westen seine Staatsbudgets mit Ukrainehilfen belastet.

Günter Johannsen | Mi., 22. November 2023 - 15:04

Genau hinschauen, wer zu uns will und warum?! Nicht nur nach räächts, sondern eben auch nach links-extrem plus Islamismus schauen, wo die eigentliche Gefahr droht. Die handvoll Rechtsextreme machen wohl 10 - 20 % der eigentlichen Gefahr aus. Zusammen geschlossen habe sich gleich nach der Friedlichen Revolution und Wiedervereinigung auch die Revanchisten (SED/MfS/RAF) mit der früheren PLO (heute Hamas und Hisbolla u.a. islamistischen Terror-Banden)!
Das zuerkennen, bedarf es kompetente (unparteiische) Leute im Verfassungsschutz und Polizeiliche Staatsschutz. Denn nur ein Verfassungsschützer mit klarem Verstand und dem ehrlichen Willen, unsere Bevölkerung und die Freiheitliche Demokratie zu schützen, kann und darf diese Aufgabe wahrnehmen!

Robert Hans Stein | Mi., 22. November 2023 - 17:55

Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Dieser alte Grundsatz wird wohl ewige Gültigkeit behalten. Und das allen naiven echten Pazifisten und verlogenen Pseudopazifisten zum Trotz. Allerdings vergisst der Autor, dass nicht nur Politiker vom Format eines Reagan oder Kohl heute fehlen, sondern der "globale Westen" es versäumt hat, seinen Erfolg zu sichern. Die heute in den USA , in Europa sowieso, das Sagen haben, sind sich ihrer Schwäche wohl bewusst. Das ist gut zu erkennen am Auseinanderklaffen von bisweilen martialischer Rhetorik und dem defizitären Handeln danach. Fett und faul sind wir geworden und eben nicht bereit, die Voraussetzungen zu schaffen, derer es bedarf, Gewonnenes zu verteidigen.

Inana | Mi., 22. November 2023 - 22:31

In Wirklichkeit steht hinter der Idee von "Dialog und Stärke" eben keine romantische Dialogbereitschaft, sondern eher das berühmte "Angebot, dass man nicht ablehnen kann". Es wird nur etwas höflicher ausgedrückt,
Was dann letztendlich auch zu dem eigentlichen Problem überleitet. Es ist nämlich letztendlich unklar, ob die Ukraine überhaupt wirklich militärisch gewinnen kann.