Überlebte Infrastruktur, geistiger Stillstand, lähmende Debatten - Rückkehr in ein erschlafftes Land

Nach längerem Aufenthalt im außereuropäischen Ausland fällt die Wiedereingewöhnung überraschend leicht – es hat sich überhaupt nichts verändert! Ist das Beleg für Stabilität und Berechenbarkeit oder Ausdruck von Stagnation und fehlender Dynamik?

Dieses Land möchte die Welt retten / dpa
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Autoreninfo

Dr. phil. Dominik Pietzcker studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik. Von 1996 bis 2011 in leitender Funktion in der Kommunikationsbranche tätig, u.a. für die Europäische Kommission, Bundesministerien und das Bundespräsidialamt. Seit 2012 Professur für Kommunikation an der Macromedia University of Applied Sciences, Hamburg. Seit 2015 Lehraufträge an chinesischen Universitäten.

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Der Empfang am Frankfurter Flughafen fällt standesgemäß aus. Das Wegleitsystem führt in die Irre, die einzige Rolltreppe ist ausgefallen, und so stolpern die übernächtigten Fernreisenden mit ihrem Gepäck ziellos über die Stufen. Aloha, Europa! Das junge Liebespärchen, heimgekehrt aus Bali, dreht gedankenverloren an den Muschelkettchen. In welcher Rucksacktasche sind die Wollsocken, Liebling? Eine Seniorengruppe, die Männer mit bunten Pepitahüten, sammelt sich ratlos vor den (binären) Toiletten. Transit nach Schiphol? Achselzucken. Eine energische Mitreisende aus Fernost erfragt am Bahnschalter die schnellste Verbindung nach Duisburg. Der freundliche Servicemitarbeiter sagt Bescheid: „Sie umsteigen Düsseldorf!“ Natürlich, we speak German hier. Es ist anstrengend, Gästen aus aller Welt das ausgedünnte Netz der Deutschen Bahn zu erläutern. Ein tiefer Schluck aus der Thermoskanne. Höchste Zeit für die Frühstückspause!

Nutzer der Mobilität

Immerhin, der ICE nach Berlin ist pünktlich. Auf der Strecke keine Baustellen, dafür bierselig lärmende Mitreisende, die ihr Glück nicht fassen können, einmal im Leben in die Hauptstadt zu reisen. Tannenzäpfle, Butterbrezeln, Radieschen und Kartoffelsalat aus der Tupperdose. Kaum zu glauben, das Land bedient wirklich jedes provinzielle Klischee.

Doch wo sind eigentlich die smarten Zukunfts- und Leistungsträger? Aus der ersten Klasse pendeln die Unternehmensberater (weißes Hemd, dunkelblaue Hose, rahmengenähte Schuhe) in Richtung Restaurantwagen, wo es nichts zu essen gibt. Mobilitätswende im Hightech-Land? Nach viereinhalb Stunden Dauerbeschallung überwiegt die Erleichterung, aussteigen zu dürfen.

Zwischenfazit: 550 Kilometer in einem halben Arbeitstag, nicht schlecht, es soll aber Länder geben, in denen dieselbe Entfernung in eineinhalb Stunden bewältigt wird.

Mondänes Leben in der Gerontokratie

Berlin im Spätsommer entwickelt bekanntlich einen großstädtischen Charme von ganz eigener Art. Das hohe Durchschnittsalter der Bevölkerung macht sich nun auch optisch bemerkbar, prägt das gemächlich vibrierende Lebensgefühl. In Cafés, Museen, auf den Straßen – überall Rentner, Rückenleidende und Rollatoren. Eine neue Form der Bewegungskunst entwickelt sich zum Massenphänomen, das gebückte, deutlich entschleunigte Flanieren.

Bevorzugter Gesprächsstoff beim Ausruhen von der täglichen Lebensanstrengung: Ärzte, Enkel und Erinnerungen. Anders gesagt: Die Pharmaindustrie, Gangster-Rap und sentimentale Fernsehserien haben hierzulande Hochkonjunktur. Das ist wenigstens etwas.

Von anderen Branchen liest man hingegen eher gemischte, um nicht zu sagen besorgniserregende, Neuigkeiten. Aber vermutlich sind das bloß Fake News! Wer lässt sich schon gerne der eigenen Illusionen berauben? Das wäre doch seelische Grausamkeit. Deswegen besser um den heißen Brei herumreden, das ist emotional auch viel bekömmlicher. Es gilt: „Alles wird gut, kein Problem.“

Déjà-vu und mediale Fixationen

Die Zeitungen sind über das Jahr ihren drei, vier Standardthemen treu geblieben. Die Welt von vorgestern als Déjà-vu: Energiewende, Migration, Ukrainekrieg und AfD. Es ist eine fast schon manische Besessenheit, diese Fixation auf nationale und regionale Befindlichkeiten. Als wäre die Globalisierung lediglich ein Gerücht und nicht der permanente Stimulus für erhöhte Leistungsbereitschaft.

Eine exportorientierte Wirtschaftsmacht sollte sich etwas mehr dafür interessieren, was sonst so auf diesem Planeten geschieht, um im internationalen Wettbewerb nicht noch weiter zurückzufallen. Provinzialismus und kleinkarierte Selbstbezüglichkeit sind wohl kaum die Formel, um ein vorgeblich ambitioniertes Land zukunftsfähig zu halten.

Die Grenzen des politischen Schrebergartentums sind schnell erreicht. Weniger Ideologie, mehr Realpolitik – diese bescheidene politische Grundforderung ist, so scheint es, mittlerweile eine völlig wirklichkeitsferne Zumutung.

Beobachtungen von der Außenperspektive

Apropos Ferne. In Ostasien, den größten Absatzmärkten des Produktionsstandortes Deutschland, weicht die einstige, fast uneingeschränkte Bewunderung für das hiesige Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell dem Befremden über die seit Jahren anhaltenden Gespensterdebatten und politischen Entwicklungen, inklusive ihrer sichtbaren zivilgesellschaftlichen Kollateralschäden. Steigerung der Innovationsfähigkeit durch Untergrabung des Leistungsprinzips? Massenmigration ohne glaubwürdige Sozialperspektive? Legalisierung von Drogen als Suchtprävention? Lehrer ohne jegliche pädagogische Ausbildung als Garanten des Lernniveaus? Das wirft Fragen zu einem möglicherweise irreversiblen Mentalitätswandel auf. „Die öffentliche Meinung – der kollektive Wahnsinn“, um den Modernisten Carlo Emilio Gadda zu zitieren.

Als irritierend wird zudem ein politisches Spitzenpersonal empfunden, welches das eigene Amateurtum nur notdürftig durch die Kaltschnäuzigkeit der Ahnungslosen überspielt. Diplomaten, Europaexperten und Kommentatoren in Asien kommunizieren mittlerweile offen: „Warum mit Berlin oder Brüssel verhandeln, wenn die Entscheidungen ohnehin in Washington fallen?“ Gelegentlich sind schon die Begriffe „zweitklassig“, „Bedeutungsverlust“ und „mittelmäßig“ zu hören. Das schmerzt wie eine verdiente Ohrfeige.

 

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Was zumindest objektiv zutrifft, ist der schwindende Einfluss eines rationalen, diskursiv darstellbaren Gesellschaftsentwurfs. Ideologie schlägt Machbarkeit. Woraus sich der hiesige, unausrottbare Anspruch ableitet, den Rest der Welt permanent in Sachen Rechtsordnung, Moral und Klimaschutz belehren zu wollen, bleibt nachhaltig schleierhaft.

Aufgepasst, o Welt! Eine Nation von Reihenhausbesitzer*innen rüstet sich für den Klimawandel! Achtzig Millionen Besserwisser stehen neun Milliarden Ignoranten gegenüber. Jedoch, missionarische Anmaßung muss man sich auch leisten können, und wer den Mund notorisch zu voll nimmt, wird über die Jahre bloß fett, langsam und gefräßig.

Kurz nur ein Gedanke: sich selbst nicht so wichtig nehmen. Die paar Millionen Bürgerinnen und Bürger einer historisch selbstbeschädigten europäischen Mittelmacht werden den weiteren Gang der Weltgeschichte nicht übermäßig beeinflussen, da mögen sie noch so viel Strom sparen, Lastenfahrräder bewegen, Solarpanels aufstellen und Heizungen umbauen.

Absteigen, warum eigentlich nicht? Es ist wie im Fußball, niemand wird den selbsternannten Hidden Champion vermissen.

Dekadenz und Lebensqualität

Doch gelobt sei, wem das alles egal sein kann. Mit abbezahlter Eigentumswohnung, ausstehendem Erbe und Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenkasse kann man das kritische Denken auch fröhlich dispensieren. Tiefenentspannung, der eigene Komfort und ein bisschen die Welt retten – das reicht für ein komplettes Lebensprogramm mit selbstverfügtem Moraldispens. Doch nur die etablierte Mitte (soziologisch gesprochen) kann sich diese elaborierte Form der Dekadenz erlauben, welche egoistische Bequemlichkeit und persönliches Sicherheitsbedürfnis quasireligiös camoufliert. Nicht die wirtschaftlich motivierte Zerstörung der Biosphäre, sondern die verlogene bourgeoise Grundhaltung in den ökologischen Diskursen ist das eigentlich Skandalöse.

Wer sich hingegen Wohlstandsverluste aus Mangel an demselben gar nicht leisten kann, blickt buchstäblich in die Röhre der eigenen Zukunftslosigkeit. Aus niederem Ressentiment, kulturell hereditärer Engstirnigkeit und habitueller Unbildung resultiert hierzulande die größte wählerpolitische Gefahr. Wie immer wird es sich rächen (oder, je nach Gesinnung, auszahlen), statt der aktuellen Weltlage bloß die klientilistischen Wünsche einer immer anspruchsvolleren Wählerschaft zu bedienen.

Das Positive zum Schluss. Existenzielle Ängste sind dennoch nicht angebracht. Es reicht noch ein paar Jahre für ein wohltemperiertes, staatlich minimal eingeschränktes Individualdasein mit höchsten Freiheitsprivilegien, die allerdings nicht zum allgemeinen Zivilisationsfortschritt verpflichten. Privat hervorragend, gesellschaftlich zutiefst fragwürdig. Dieses Dilemma lässt sich wohl nicht mehr auflösen. Oder in den Worten der Mitreisenden: Prost Mahlzeit!

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