Christian Lindner schlägt Alarm - „Gefahr einer sehr ernstzunehmenden Wirtschaftskrise“

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) schwört Deutschland auf eine tiefe und langanhaltende Rezession ein. Tatsächlich steht spätestens seit dem Ukraine-Krieg das bundesrepublikanische Geschäftsmodell zur Disposition. Und jetzt zeigt sich in aller Brutalität: Wir haben keine Vorstellung davon, wie unsere künftige Rolle in einer sich dramatisch verändernden Welt aussehen soll.

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Deutschland im Juni 2022 kommt einem vor wie einer dieser Zeichentrickfilme, bei dem die Comicfigur über eine Klippe rennt und in der Luft noch mit den Beinen strampelt, ohne zu merken, dass sie keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Bis zum unausweichlichen Absturz dauert es dann noch zwei oder drei Sekunden. Dieses retardierende Moment ist aus der Perspektive des Zuschauers durchaus lustig, denn man weiß ja, was gleich passieren wird. Weniger erheiternd stellt sich die Situation dar, wenn es einen selbst betrifft. So, wie jetzt in der Bundesrepublik: Derzeit kommen sämtliche Faktoren zusammen, die für den brutalsten wirtschaftlichen Absturz seit ihres Bestehens sprechen. Spätestens mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine und den daraus resultierenden Energieengpässen müsste klar sein: Wir hängen in der Luft.

Insofern ist es ein Verdienst des Bundesfinanzministers, die dramatische Lage endlich klar benannt zu haben. „Meine Sorge ist, dass wir in einigen Wochen und Monaten eine sehr besorgniserregende Situation haben könnten“, so Christian Lindner am Dienstagabend wörtlich im Heute Journal des ZDF. Und weiter: „Es besteht die Gefahr einer sehr ernstzunehmenden Wirtschaftskrise aufgrund der stark gestiegenen Energiepreise, aufgrund der Lieferketten-Probleme, aufgrund auch der Inflation.“ Drei bis vier, vielleicht sogar fünf Jahre der Knappheit seien nicht auszuschließen. Oberstes Ziel müsse es nun sein, die Inflation zu stoppen: „Nicht nur wegen der Wirtschaft, sondern weil viele Menschen auch Sorgen haben, ob sie das Leben bezahlen können.“

Brutale Sätze

Das sind brutale Sätze, die auszusprechen sich bisher weder der Bundeskanzler noch Wirtschaftsminister Robert Habeck getraut haben. Lindner benennt ja nicht nur eine heraufziehende Rezession deutlich beim Namen, sondern moderiert eine langanhaltende, tiefe Wirtschaftskrise an: Drei bis fünf Jahre der „Knappheit“, das steckt kein Land so einfach weg. Und eine Industrienation wie Deutschland schon gar nicht.

Jetzt geht es ans Eingemachte, es geht an die Substanz. Die meisten Bürgerinnen und Bürger scheinen das ganze Ausmaß der Misere nur noch nicht realisiert zu haben; das Leben geht erstmal weiter wie gewohnt. Dieses Nichtwahrhaben-Wollen ist eine Folge der mehr als anderthalb Jahrzehnte währenden Einlullungs-Strategie einer vormaligen Bundeskanzlerin, die sich neuerdings auf Theaterbühnen setzt, um ihre Regentschaft als Historikerin in eigener Sache rückblickend ins milde Licht zu setzen.

Es ist ja eine absurde Vorstellung, die Ampel-Regierung hätte die bevorstehende Krise allein verursacht – Grüne und FDP trifft hier eher keine Verantwortung, die SPD als langjährigen Großkoalitionär unter Merkel hingegen schon mehr. Denn was wir jetzt erleben und in den bevorstehenden Jahren noch schmerzhaft zu spüren bekommen werden, sind langfristige Folgen struktureller Fehlentscheidungen und falscher Weichenstellungen: in der Währungspolitik, in der Wirtschaftspolitik (unter besonderer Berücksichtigung einer einseitigen Ausrichtung auf Russland als Energielieferanten). Aber auch einer Sozialpolitik, die gesellschaftliche Verwerfungen mit immer mehr Geld überbrücken zu können glaubte.

 

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Insbesondere aber zeigt sich nun, dass Deutschland keine Vorstellung davon hatte, wie seine künftige Rolle in einer sich dramatisch verändernden Welt aussehen soll. Gefahren wurde stets nur auf Sicht, und jetzt ist der Tanker namens „Deutschland“ eben auf Grund gelaufen. Immerhin die Kapitänin konnte noch rechtzeitig von Bord gehen.

Das Geschäftsmodell der Bundesrepublik hatte zwei wichtige Prämissen: Zugang zu günstigen Energiequellen und freien Welthandel. Deutschland als Exportweltmeister, darauf konnte man, wenn auch stets ein bisschen verschämt, stolz sein. Wer es nicht war, profitierte dennoch davon – ob als Beschäftigter mit sicherem Arbeitsplatz, als Nutzer einer weitgehend funktionierenden öffentlichen Infrastruktur und Verwaltung. Oder als Kostgänger eines üppig ausgestatteten Sozialstaats. Alles, was uns selbstverständlich erschien (und derzeit immer noch erscheint), ist ohne stabiles volkswirtschaftliches Fundament nicht möglich. Jetzt aber stehen die Zeichen auf Sturm.

Der Tanker läuft auf Grund

Die seit Ausbruch der Corona-Krise einsetzende und durch aktuelle geopolitische Verschiebungen beschleunigte Deglobalisierung trifft eine Industrienation wie die deutsche ins Mark. Durchbrochene Lieferketten hemmen die Produktion, in manchen Branchen herrscht regelrechte Mangelwirtschaft, Exporte und Importe geraten ins Stocken. Unser Wohlstand ist deswegen nicht nur in höchster Gefahr, er schwindet aufgrund der galoppierenden Inflation für jeden ersichtlich an der Ladenkasse.

Nur drei Beispiele aus dem täglichen Leben: Duschgel, das vor einigen Monaten noch für weniger als zwei Euro im Supermarkt zu haben war, kostet dort inzwischen fast das doppelte. Wer sein Auto in die Reparatur bringt, muss wegen fehlender Ersatzteile manchmal wochenlang warten – was immerhin den Vorteil hat, dass einem in dieser Zeit die exorbitanten Spritpreise erspart bleiben. Und dann droht irgendwann noch die jährliche Nebenkostenabrechnung. Es wird ein böses Erwachen.

Verliererin dieser Wendezeit

Die Politik reagiert derweil in einer Mischung aus Hilflosigkeit und Aktionismus, schnürt ein „Entlastungspaket“ nach dem anderen – wohlwissend, dass damit die Probleme zulasten nachfolgender Generationen allenfalls übertüncht werden. Fakt ist: Die aktuellen Krisen sind keineswegs vorübergehender Natur, sondern Folgen einer „Zeitenwende“. Bei diesem von Olaf Scholz geprägten Begriff geht es also um weit mehr als nur um die Wiederertüchtigung der Bundeswehr. Wenn die Bundesrepublik nicht als Verliererin dieser Wendezeit in die Geschichte eingehen will, muss sie sich jetzt neu erfinden. Sollte uns das nicht gelingen, drohen nicht nur drei bis fünf Jahre der „Knappheit“. Sondern ein Niedergang historischen Ausmaßes.

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