Waldemar Hartmann über das deutsche WM-Desaster - „Die Stimmung in Katar ist weltmeisterlich – wir hätten da nur gestört“

Die Fußballweltmeisterschaft endete für Deutschland mal wieder im Desaster. Im Interview kritisiert Sportreporter-Legende Waldemar Hartmann die Konfliktscheu des Bundestrainers Hansi Flick, der die One-Love-Binden-Diskussion und sämtliche Nebenschauplätze vom Tisch hätte räumen müssen. Und er erklärt, warum die Bundesregierung ein ebenso jämmerliches Bild abgibt wie die Nationalmannschaft.

Marokkos Spieler feiern nach dem Viertfinalsieg gegen Portugal mit ihren Fans / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Lesen Sie hier das Cicero-Interview mit Waldemar Hartmann vom 19. November: „Die größten Heuchler sind ARD und ZDF“. Hartmann kritisiert darin die deutsche Bigotterie, eine Woche vor WM-Beginn die schlimmen Zustände in Katar zu beklagen, und erklärt, warum man Fußballer nicht zu Botschaftern für Menschenrechte erklären sollte – und warum er glaubt, dass die Friseure der deutschen Nationalspieler aus Nordkorea kommen.

Herr Hartmann, weil sie keine One-Love-Binde ohne Konsequenzen tragen konnte, hat die Nationalmannschaft vor dem verlorenen Japan-Spiel mit Hand vor dem Mund posiert. Ich vermute, Sie fanden das ganz großartig, oder?

Grundsätzlich halte ich diese Bekenntnisfolklore für Aktionismus zum Selbstzweck. Was wollten die Bindenträger denn bei einer Fußball-WM wirklich? Auffallen! Oder glauben sie echt, die bestehende Gesellschaftsordnung Katars in vier Wochen WM zu verändern? Im Nachhinein kam ja heraus, dass das Mundzuhalten der kleinste gemeinsame Nenner war, auf den sich der Mannschaftsrat geeinigt hatte.

Die meisten Spieler sollen genervt von der Debatte gewesen sein und wollten gar nichts in dieser Richtung machen. Aber Manuel Neuer und Leon Goretzka sollen auf das „Zeichensetzen“ bestanden haben.

Ein Spieler aus dem Mannschaftsrat soll während der Besprechungen sogar wütend den Raum verlassen haben, weil er meinte: „Wir sind zum Fußballspielen hier!“ Man hat sich mit dem Mundzuhalten als Lösung keinen Gefallen getan. Zumal in Deutschland die Reaktionen auch sehr gespalten waren. Von Alibiquatsch bis zu feigem Verstecken reichte die Palette. Und vor allen Dingen: Sie haben sich zu viel mit anderen Dingen als mit Fußball beschäftigt und einen Konfliktstoff innerhalb der Mannschaft geschaffen – das Ergebnis ist bekannt.

Waldemar Hartmann / dpa

Die ganze Diskussion soll innerhalb der Mannschaft erst nach dem verlorenen Japan-Spiel ad acta gelegt worden sein, das letztendlich entscheidend war. Hat die Armbinde Deutschland die WM ruiniert?

Ja auch, denn diese Diskussion hat uns viel Konzentration geraubt. Ich habe es bereits in unserem ersten Interview gesagt: Die Japaner als erster Gegner waren das dümmste, was uns passieren konnte. Weil die mit ihrer Kollektivkraft – übrigens auch mal eine deutsche Tugend – bis zum Schluss nicht aufgeben. Und ausgerechnet vor so einem Spiel haben wir uns mit der totalen Ablenkung aus der Bahn gebracht.

Hätte der Trainer klare Verhältnisse schaffen müssen?

Das ist mein erster Kritikpunkt an Flick: Die Holländer wollten ja auch erst bei dieser One-Love-Binden-Sache mitmachen. Als die Diskussion dann aber immer mehr aufkam, hat Louis van Gaal ein Machtwort gesprochen und das Thema für erledigt erklärt. Genau das hätte Flick machen müssen. Aber er ist zu harmoniebedürftig und zu wenig konfliktfreudig. Eine große Rolle spielte sicherlich, dass sein Freund Bierhoff in der ganzen Armbinden-Nummer wohl mit an der Spitze der Bewegung stand.

Der Druck von außen war vermutlich auch größer als in den Niederlanden.

Wie ich gehört habe, soll ja auch Raphael Brinkert kräftig mitgemischt haben.

Brinkert ist der Geschäftsführer einer vom DFB bezahlten Werbeagentur und soll zu den Beratungen um ein Signal gegen Diskriminierung in Katar herangezogen worden sein. Brinkert, der übrigens für Olaf Scholz‘ Wahlkampagne verantwortlich war, berät auch Leon Goretzka, der sich in den Medien politisch exponiert.

Ist alles gut, darf Goretzka gerne machen. Aber er soll nicht ein Thema in die Mannschaft tragen, die da erkennbar keine Lust darauf hat. Da ist der Trainer gefragt, er muss für die richtige Einstellung sorgen. Und zur richtigen Einstellung gehört, dass es den Spielern völlig egal ist, ob die Spielerfrauen im Stadion sind oder ob sie’s friert, wie Frau Ginter öffentlich beklagte, weil sie zu nahe an der Kühlungsdüse saß. Oder dass das Hotel der Frauen 30 Kilometer weit weg vom WM-Quartier der Männer ist und sie in derselben Unterkunft wie die Männer schlafen möchten – das sind Dinge, die müssen vorher geklärt sein. Der Fokus muss einzig und alleine auf Fußball liegen. Es muss klar sein: Das ist kein Betriebsausflug! Nebengeräusche gefährden das Ziel des Unternehmens. Dazu gehört: Was sucht der Hausfriseur einiger Spieler im Hotel? Schon während der Gruppenphase haben Familientreffen keinen Platz. Disziplin darf kein Fremdwort sein. Das mag altmodisch klingen, aber in fast vierzig Berufsjahren habe ich einfach ein paar Erfahrungen beizutragen.

Die personelle Konsequenz, die man jetzt aus dem Debakel gezogen hat, ist: Bierhoff muss gehen, Flick darf bleiben. Gut so?

Einer muss eben gehen. Wenn man im dritten Turnier in Folge früh rausfliegt, ist das der völlig normale Reflex in diesem Geschäft. Nachdem offenbar Aki Watzke die neue Exekutive des deutschen Fußballs ist, war mir klar, dass Oliver Bierhoff das Opfer sein wird. Er und Watzke gelten nicht als ziemlich beste Freunde. Ich möchte aber betonen, dass Bierhoff in seinen 18 Jahren beim DFB überragende Arbeit geleistet hat. Er übernahm mit Jürgen Klinsmann 2004 nach der Pleite bei der Europameisterschaft eine kaputte Mannschaft und einen desolaten DFB-Apparat und krönte seine Arbeit mit dem WM-Titel 2014.
 

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Warum ging’s danach bergab?

Nach 2014 wurden viele Fehler gemacht, was auch daran liegt, dass Bierhoff zu viel Einfluss bekam. Er hat die Nationalmannschaft als Staat im Staat im DFB aufgebaut – Stichwort „Die Mannschaft“. Das lag in erster Linie an der Schwäche der DFB-Führung. Denn die waren ja nur mit sich selbst beschäftigt, mit ihren internen Rivalitäten und ihren Skandalen, mit wechselnden Präsidenten und Interimsherrschern, so dass Bierhoff unter dem Radar völlig ungestört seinen Machtbereich aufbauen konnte. Es gilt aber auch: Ohne Bierhoff gäbe es die kürzlich eröffnete Akademie des DFB in Frankfurt nicht. Der Sündenbock ist kein Herdentier. Bierhoff hat das erkannt und die Konsequenz gezogen. Ohne Klagen und Nachtreten. Mein Respekt. Dass man ihm in Fankreisen den Begriff „Die Mannschaft“ vorwirft, halte ich für ein sehr flaches Argument.

Auch Watzke will die Nationalmannschaft nicht mehr mit dem Begriff „Die Mannschaft“ bewerben. Der Begriff sei „abgehoben“ und „respektlos gegenüber allen anderen erfolgreichen Mannschaften“.

Nach dem Auftreten in Katar ist mir aber auch klar geworden, dass der Begriff nicht mehr wirklich zutrifft, sonst hätte sich das Team nicht so wehrlos seinem Schicksal ergeben.

Wenn Sie sämtliche Personalentscheidungen treffen dürften, welche Konsequenzen würden Sie ziehen?

Wie bei Brasilien, Belgien, Südkorea oder Mexiko hätte ich theoretisch auch zuerst an den Trainer gedacht. Doch in diesen Ländern findet in eineinhalb Jahren keine Europameisterschaft statt. Da wechselt man nicht so einfach die Pferde. Und es ist obendrein immer leicht zu fordern: Der Trainer muss weg! Das habe ich während meiner ARD-Zeit bei Berti Vogts zur Genüge gehört. Aber wer dann? Das ist die Frage.

Und nach Berti Vogts kam Erich Ribbeck.

Der mit Abstand erfolgloseste Trainer des DFB. Also, wen hätte Aki Watzke denn präsentieren sollen? So traf er die für ihn logische Entscheidung. Er stellte Flick nicht mal in Frage. Interessant in diesem Zusammenhang ist für mich, dass aus der Chefetage des Branchenführers aus München dazu nichts zu vernehmen war. Es geht um die Reputation und um nichts weniger als um die Zukunft des deutschen Profifußballs – und Oliver Kahn hat dazu keine Meinung! Mehr als die Hälfte der Mannschaft ist beim FC Bayern beschäftigt, und der Chef ist auf Tauchstation. Das gilt auch für die Nachfolge von Donata Hopfen bei der DFL. Aki Watzke betreibt die Dortmundisierung des DFB und der DFL, und der Vorstandschef des Rekordmeisters und Meisters der letzten zehn Jahre ist auf Tauchstation. Vielleicht trifft er da ja Bernd Neuendorf. Der ist der eigentlich gewählte Präsident des DFB, seit der Abreise aus Doha war von ihm nichts mehr zu vernehmen.

Seit dem WM-Aus gibt es etliche Artikel, die eine Parallele zwischen der Mannschaft und der Bundesrepublik sehen. Teilen Sie diese Analysen?

Da bin ich dabei, das ist nämlich auch eine meiner Thesen. Wenn Sie sich die Politik anschauen: Nach einem Jahr Ampel ist sich ja selbst die Regierungskoalition nicht einmal einig, ob sie gute Arbeit gemacht haben. Wenn selbst Klingbeil, der SPD-Vorsitzende, der Ampel eine 3 gibt, dann meint er eigentlich mindestens eine 3 Minus oder eine 4. Da muss man die Opposition gar nicht mehr fragen. Und dieses Hin und Her: Habeck verhandelt in bückelnder Haltung mit Katar über Gaslieferungen, und Nancy Faeser zieht im Stadion mit bunter Binde eine reine PR-Show ab. Dann lässt sie sich mit Infantino fotografieren und lächelt – was sollte das denn bitte bewirken? Zwischen Habeck und Lindner herrscht offene Uneinigkeit. Dass Habeck und Frau Baerbock in einer Partei sind, vermuten nicht mal mehr alle Grünen, und Karl Lauterbach sucht verzweifelt Themen, mit denen er wieder in die Talkshows eingeladen wird. Derweil verkündet der Kanzler einen Doppel-Wumms nach dem anderen, ohne uns Bürgern deutlich zu machen, wer das am Ende alles bezahlt. Nach dem Kölner Motto: Es ist alles noch immer gut gegangen. Schuldenbremse hin, Inflation her. Kurz: Die Regierung gibt ein jämmerliches Bild ab, so wie die Nationalmannschaft.

Wenn die Nationalmannschaft 2024 in Deutschland wieder Zeichen setzen will beziehungsweise dazu gedrängt wird: Was halten Sie davon, wenn sie das zumindest mal für was ganz anderes tut? Warum nicht mal ein Plädoyer für Steuererleichterungen für Normalverdiener?

Das einzige Zeichen, das ich von der deutschen Mannschaft sehen will, ist auf dem Platz. Ich zitiere BVB-Legende Adi Preisler: „Entscheidend is‘ auf’m Platz.“ Und für alle, die jetzt an ihren Laptops analysieren, ob nicht doch die Dreierkette oder eine Raute besser gewesen wären oder dies oder das, zitiere ich jetzt Jean Paul Sartre: „Beim Fußball verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft.“ Wir sollten wieder mehr an den Grundlagen des Spiels arbeiten. Neudeutsch: an den „Basics“. Ich fürchte allerdings, dass wir da in Deutschland in eine Sackgasse geraten sind.

Was meinen Sie damit?

Bei der Trainerausbildung ist so richtig was schiefgelaufen. An der Sporthochschule in Köln haben sie da vor ein paar Jahren die Wissenschaft entdeckt. Ich zitiere jetzt den im Oktober beurlaubten Trainer des 1. FC Nürnberg, Robert Klaus, der im Februar 2021 bei einer Pressekonferenz eine Journalistenfrage nach der gescheiterten Taktik wörtlich so beantwortete: „Wir Sind 4-2-2-2 auf Pressinglinie eins angelaufen. Nach Ballgewinn wollten wir über den ballfernen Zehner umschalten und sind in Ballbesitz in eine Dreierkette abgekippt mit einem asymmetrischen Linksverteidiger und einem breitziehenden Zehner, so dass wir in ein 3-4-3 respektive 3-1-5-1 gekippt sind, je nachdem, wo sich Dove aufgehalten hat.“ Zitat Ende. Der Mann hat vorher bei RB Leipzig die U 17 und U 19 betreut. Ich bin mir nicht sicher, ob einzelne Absolventen der Lukas-Podolski-Universität den Ausführungen folgen konnten. Fußball ist keine Raketenwissenschaft!

Mal abgesehen vom Elend um die deutsche Mannschaft: Hatten Sie denn bisher Freude an dieser WM?

Ja, die Stimmung ist gut. Freunde vor Ort berichten mir, dass die Stimmung richtig gut sei. In den Stadien jedenfalls ist das absolut WM-würdig. Was vor allem die Fans aus Südamerika oder Marokko abziehen, ist erste Sahne. Ich glaube, wir hätten da nur gestört.

Und fußballerisch?

Es gibt keine Mannschaft bei dieser WM, bei der ich sagen würde, vor denen müssten wir Angst haben. Das macht es so schade und überflüssig, dass wir raus sind. Mir bleibt jetzt nur noch übrig, den Argentiniern die Daumen zu drücken. Die waren nämlich mein WM-Top-Favorit.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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