Vergiftete Debattenkultur - Das Argument zählt, nicht sein Absender

Immer häufiger werden in Deutschland Argumente nicht auf ihre inhaltliche Plausibilität überprüft, sondern auf die vermeintliche politische Verortung ihres Absenders. Das zerstört die offene Debatte und fördert eine neue Kultur des Denunziantentums.

„Hexenjagd“ von Arthur Miller: auch wir leben in einer Gesellschaft des zunehmenden Denunziantentums / picture alliance
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Autoreninfo

Gideon Böss ist Roman- und Sachbuchautor und hat unter anderem über Religionen in Deutschland und Glücksversprechen im Kapitalismus geschrieben.

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Wer kam eigentlich auf die Idee, dass der Wert einer Meinung davon abhängt, wer sie äußert? Eindeutig lässt sich das nicht feststellen, wohl aber, dass diese Sichtweise mittlerweile ziemlich beliebt ist und den öffentlichen Diskurs prägt. Vermutlich gibt es nichts, was an dieser Entwicklung zu begrüßen wäre.

Vor allen Dingen ist sie nicht progressiv, was viele ihrer Vertreter fälschlicherweise annehmen. Im Gegenteil, die Idee des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ ist eine zutiefst demokratische, da sie auch einem sozialen Außenseiter die Möglichkeit lässt, einem einflussreichen Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen. Nicht Geld, Macht oder Ruhm sind entscheidend, sondern das Argument. 

Die brutalsten Länder der Welt

Gesellschaftliche Debatten verabschieden sich jedoch immer mehr von der Idee, dass Meinungsverschiedenheiten mit Argumenten ausgetragen werden müssen. Was zum einen daran liegt, dass ein zunehmend frömmelnder Teil der Linken die Überzeugung vertritt, dass ihre Ansichten dogmatische Wahrheiten sind und darum gar nicht zur Debatte stehen können. Zum anderen haben sich antiliberale Überzeugungen im öffentlichen Diskurs ausgebreitet, die Worte für Gewalt, Hass und Verbrechen halten.

Nicht mehr die Unterdrückung der freien Rede ist dabei das Problem, sondern die freie Rede. Eine Sichtweise, die noch jeder Diktator unterschreiben könnte. In Wahrheit ist es genau umgekehrt. Länder ohne Meinungsfreiheit sind die brutalsten der Welt, Länder mit Meinungsfreiheit die friedlichsten. Worte sind keine Gewalt, das Wort zu verbieten schon.

Mit „Schmuddelkindern“ diskutiert man nicht

Trotzdem dominiert in Deutschland zunehmend das Misstrauen gegenüber Worten, Argumenten und Meinungen. Man kann eigentlich jedes halbwegs kontroverse Thema nehmen und wird immer das gleiche Muster bemerken. Ob in der Atomkraft, der Migration oder dem Klimawandel. Immer werden Sichtweisen diskreditiert, indem auf „Schmuddelkinder“ verwiesen wird, die sich auch so äußern. 
 

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Wenn beispielsweise die FDP den Atomausstieg kritisiert, wird ihr mit Verweis auf den Pro-AKW-Kurs der AfD die „rechtsradikale Gesellschaft“ vorgeworfen, in die sie sich begeben würde und deren „Sprache“ und gar „Narrative“ sie bediene. Nichts davon ist eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Atomkraft und nichts an dieser Debattenverweigerung entspricht demokratischen Tugenden. Ob Argumente richtig oder falsch sind, ist nicht vom Absender abhängig, sondern von ihrem Inhalt. Wenn es heißt, dass auf den Juli der August folgt, ist das richtig, egal, wer es sagt.

Cancel-Lust zerstört die kreative und offene Debatte

Demokratien leben vom Streit und davon, dass Meinungen gehört werden. Das macht sie zu den empathischsten Gesellschaften, die es gibt. Sie müssen auch unbequeme Ansichten ertragen können und ungewöhnliche und provokante. Nur dadurch können sie wachsen und sich immer wieder erneuern.

Dass heute in der Bundesrepublik Deutschland Homosexualität keine Straftat mehr ist, obwohl es noch dieselbe Bundesrepublik mit demselben Grundgesetz ist, liegt an einem Wertewandel, der nur möglich war, weil Argumente und Meinungen gehört werden konnten. Natürlich gefiel es vielen Deutschen nicht, dass Homosexualität „legalisiert“ wurde, aber die besseren Argumente hatten eindeutig die Vertreter dieser Forderung. Dafür mussten sie aber erst die Chance haben, dass ihre Argumente gehört werden, statt sie auszuschließen. 

Wer heute den Diskurs mit Cancel-Lust von jeder Stimme säubern will, die ihm nicht passt, träumt von einer betreuten Debattenkultur, in der es keine Überraschungen und Sichtweisen geben kann, die einem etwas Neues zeigen könnten. Neben vielem anderen ist das auch eine recht trostlose Sicht, die frei ist von jeder Neugierde. Zunehmend gilt, dass nicht das bessere Argument zählt, sondern die moralisch überlegene Sichtweise, die wiederum vom Zeitgeist bestimmt wird. Damit verliert die Demokratie ihr wichtigstes Werkzeug zur Selbstkritik, Fehleranalyse und Erneuerung. 

Gravierende Folgen lassen sich in den USA beobachten

Was für gravierende Folgen dieses Lagerdenken haben kann, das auch in den USA irritierend weit fortgeschritten ist, zeigt die schleppende Aufklärung der Corona-Hintergründe. Schon sehr früh gab es die Vermutung, dass das Virus aus einem chinesischen Militärlabor stammt – ein Gedanke, der recht naheliegend ist, wenn den Markt in Wuhan und diese Einrichtung nur wenige Meter trennen.

Doch diese Sichtweise galt schon bald als Tabu, weil sie auch der polternde Donald Trump zwischendurch äußerte. Von da an war klar, dass sie nur von Verschwörungstheoretikern, Rassisten und Wahnsinnigen geteilt werden kann. Ja, die Labor-Theorie wurde in der öffentlichen Wahrnehmung geradezu zum Erkennungszeichen der Kaputten und Verwirrten erklärt. Eine inhaltliche Beschäftigung verbat sich dabei von selbst. Corona musste erst massiv an medialer Bedeutung einbüßen, bevor die Labor-Theorie wieder ernsthaft überprüft wurde. Mittlerweile vertritt das FBI die Sichtweise, dass das Virus aus einem chinesischen Labor stammt. 

Nötige Ernsthaftigkeit bei der Aufklärung

Wäre diese Theorie damals nicht sofort zum festen Inventar von Irren – und nur ihnen – erklärt worden, wäre der Frage nach dem Pandemie-Ursprung schon deutlich früher mit der nötigen Ernsthaftigkeit nachgegangen worden. Nun vergingen über zwei Jahre, in denen China mögliche Beweise vernichten konnte, statt Fragen beantworten zu müssen. Die neue Unlust an Debatten ist autoritär und es wundert nicht, dass von ihr ausgerechnet Diktaturen wie China profitieren, die mit Meinungsfreiheit und Pluralismus nichts anfangen können. 

Für eine funktionierende Demokratie ist eine fungierende Debattenkultur unersetzlich. Es müsste im Sinne aller Demokraten sein, sich dafür einzusetzen. Schon allein, weil es keine Beispiele für freiheitliche Gesellschaften gibt, in denen zugleich der Meinungsfreiheit misstraut wurde. Wer ihr misstraut, misstraut der Demokratie. 

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