Politik der Gefühle - Betroffenheitskult

Unsere Gesellschaft ist von einer absurden Betroffenheitsobsession erfasst. Schon die Mehrdeutigkeit des Wortes zeigt, dass hier subjektive Gefühle mit angeblichen Tatsachen vermischt werden. Egomanie wird zum moralischen Maßstab.

Hinter dem Sanftheitssprech der WG-Kultur lauerte immer schon das Totalitäre: Ex-Kommunarde Rainer Langhans vor Mao-Poster / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Das Wort „betroffen“ hat im Deutschen eine eigenartige Mehrdeutigkeit. Einerseits bedeutet es, von einer Sache, einer Handlung oder einem Vorgang in irgendeiner Weise negativ tangiert zu sein. Beispiel: Soundso viele Menschen waren von dem Unwetter betroffen. Die andere Bedeutung bezieht sich hingegen auf eine Gemütslage. Man ist betroffen im Sinne von erschüttert, ergriffen, innerlich bewegt. So kommt es, dass man im Deutschen betroffen sein kann, obwohl man nicht betroffen ist. Das nennt sich dann Mitgefühl.

Nun waren Menschen schon immer und zu allen Zeiten in einem emotionalen Sinne betroffen und gaben dieser Betroffenheit auch Ausdruck. Allerdings nannte man das dann häufig anders – siehe oben. Eine Konjunktur erlebte die emotionale Betroffenheit als Begriff ab den 70er-Jahren. Man liegt wohl nicht falsch, wenn man die Hippiebewegung der 60er-Jahre und die spätere WG-Kultur mit ihrer manischen Gesprächskultur als Ausgangspunkt für diese Entwicklung ausmacht.

Selbstsuche und Selbstverwirklichung wurden zum Massenphänomen

Wo noch wenige Jahre zuvor knallharte neomarxistische Gesellschaftsanalyse angesagt war, regierte nun im Zeichen von Peace, Love and Flowers das Gefühlige und Empfindsame. Diese Reise ins Innere ging einher mit einem Psychokult, mit neuer Spiritualität, Meditation, Tiefenpsychologie und Drogenerfahrungen. Eine neuer Sanftheitssprech griff um sich, der zugleich mit einer Subjektivierung einherging. Es wurden nicht Fakten gegen Fakten gestellt oder Analysen gegen Analysen, sondern Empfindungen gegen Empfindungen. Man will sich ganz offen einbringen, seine Gefühle ausdrücken, seine ganz persönliche Sicht, zelebriert die eigene Verletzlichkeit und findet Menschen, die sich nicht darauf einlassen, als „gar nicht gut“. Man lebt seine Gefühle aus und steht zu ihnen. Und natürlich ist man betroffen. Gerne auch mal „voll“ betroffen.

 

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Dass dieses etwas überspannte Vokabular der Selbstfinder und Nabelschauer ab den 80er-Jahren in die Alltagssprache des biederen Durchschnittsdeutschen einsickert, ist nicht verwunderlich, sondern demonstriert sehr schön, wie sehr sich die Alltagskultur verändert hatte. Selbstsuche und Selbstverwirklichung wurden zum Massenphänomen einer zunehmend von Sinndefiziten geplagten Wohlstandsgesellschaft.

Aber Gefühle, auch verletzte Gefühle, sind erst einmal nur Gefühle. Man kann sich mit ihnen die Zeit vertreiben, sich dauerhaft mit sich selbst und seinem Innenleben beschäftigen, sie zur Schau stellen und damit seiner Umwelt auf die Nerven gehen – wirklich Zählbares wird dabei nicht herauskommen.

Gefühle und Empfindungen bekommen normative Relevanz

Das ändert sich erst dann, wenn es gelingt, Gefühle moralisch aufzuwerten und zum Maßstab moralischer Urteile zu machen. Das klingt zunächst etwas unlogisch, denn Gefühle sind Gefühle, also irrational und subjektiv, und haben mit Urteilen wenig zu tun. Doch in einem alltagkulturellen Klima, in dem persönliche Befindlichkeiten eine hohe Reputation genießen, da sie als authentisch und wahrhaftig wahrgenommen werden, bekommen Gefühle und Empfindungen langfristig normative Relevanz. Sie zu verletzen, gilt nicht länger als Unhöflichkeit, sondern als Sakrileg und Verstoß gegen die Menschenrechte.

In diesem Moment triumphiert der Irrationalismus über die Ratio. Was als moralisch verwerflich gilt, definiert nun allein der Betroffene. Und da Gefühle bekanntlich Privatsache sind, beginnen private Irrationalismen die Öffentlichkeit zu okkupieren. Individuelle Emotionen definieren von nun an, was Recht ist und was nicht. Und da man über Gefühle nicht streiten kann, da sie unmittelbare Evidenz haben, bekommen die aus ihnen abgeleiteten moralischen Forderungen notwendigerweise totalitäre Züge. Es gibt keine Argumente gegen sie. Gefühle sind immer im Recht.

In einer letzten paradoxen Volte kehrt sich schließlich das kausale Verhältnis von emotionaler und physischer Betroffenheit um. Man ist nun nicht mehr emotional betroffen, weil man ein vom Schicksal Betroffener ist, sondern umgekehrt: Weil man emotional betroffen ist, wird man zu einem Betroffenen. Schon Gefühle reichen aus, um als Opfer zu gelten. Damit ist dann endgültig das Tor zum totalen Betroffenheitskult geöffnet. Die Gesellschaft versinkt in einem Wettstreit der eingebildeten Hypersensiblen, denn ihnen winkt der größte Lohn.

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