
- Hört auf mit dem Puppenstubengetue!
Zum Tag der Deutschen Einheit und nach Chemnitz ist überall die Opfergeschichte zu hören über zu kurz gekommene, abgehängte Ossis. Gerade das macht die Ostdeutschen so wütend. Mit ihrer Arroganz zerstören die vermeintlichen Eliten die Grundlagen unserer Gesellschaft
Im Osten ist ständig was los: Demonstrationen, Trauermärsche, Übergriffe, Schlägereien, Tötungsdelikte…Schrecklich. Unverständlich. Und der Westen nimmt maximalen Abstand dazu ein, als gehöre er nicht dazu. Eine Wochenillustrierte markiert den maximalen zivilisatorischen Abstand zu einem östlichen Bundesland mit drei braunen Lettern am Ende des Namens auf dem Titelbild – in Frakturschrift. Hätten mal besser in der Schule aufpassen sollen, die Intellektuellen aus Hamburg. Dann hätten sie wissen können, dass die Nazis, auf die sie mit dieser Schrifttype hinweisen wollten, die Frakturschrift auf Geheiß Hitlers durch ein Rundschreiben Martin Bormanns als nicht arisch genug abgeschafft hatten. Nun, Wissen könnte ja offenbar schaden beim Meinen.
Jetzt wird also wieder die Opfergeschichte bemüht: die zu kurz gekommenen Ossis, die Unterprivilegierten, die Abgehängten. Ach ja, und die neunziger Jahre waren ja auch so schwer. Jaja, dieser Kapitalismus – hässliche Sache. Wir leben gut davon, aber wir kritisieren ihn sehr. Genauso, wie wir die Amerikaner heimschickten, auch, wenn das jetzt ein bisschen blöd ist, wenn wir uns selbst verteidigen und für die Waffen bezahlen müssen. Lässt sich ja vielleicht noch einmal drüber reden oder so….
Die Überheblichkeit macht die Leute wütend
Diese Unverbindlichkeit, diese Überheblichkeit, dieses Desinteresse, dieses Puppenstubengetue – das treibt seit Wochen vielen Menschen im Osten die Zornesröte ins Gesicht. Menschen, die sich jahrelang durch sehr unsichere Zeiten hindurchgearbeitet haben, sind Jammerossis? Sie schimpfen auf junge Männer, die jetzt hierherkommen, um besser zu leben anstatt ihr eigenes Land aufzubauen. Mit dieser Kritik weisen sie aber auf das eigene, andere Tun in den neunziger Jahren hin: da bleiben und anpacken. Und natürlich ruft das im Westen bei der Gründergeneration Erinnerungen an die Zeit der fünfziger und sechziger Jahre wach, als vor allem eines angesagt war: arbeiten, um aus dem Dreck herauszukommen.
Natürlich hat das im Osten viele härter gemacht. Was denn sonst? Und natürlich haben Eltern, die sich um das tägliche Überleben neu kümmern mussten, nicht ständig ein Auge auf ihre Kinder und deren Entwicklung haben können. Diese Generation ist jetzt Handwerksmeister, Ingenieur, Arbeiter oder Bauer. Alle können anpacken. Alle wissen, dass der Staat ihnen nicht viel helfen kann. Zurückgezogen hatte er sich ja sowieso schon.
Keine Nazi-Ossis und Weltbürger-Wessis
Ich habe vergangene Woche eine Diskussion moderiert zwischen Petra Köpping, unter anderem auch Integrationsministerin in Sachsen, und Arye Sharuz Shalicar, ein hochrangiger Regierungsbeamter in Israel, der im Berliner Wedding aufwuchs. Frau Köpping thematisierte, sicher auch aus therapeutischen Gründen, den Opfermythos Ost und die Arbeitsleistung der Menschen im Osten seit der Wende. Herr Shalicar forderte uns alle auf, endlich zu akzeptieren, dass die Juden den Deutschen vergeben haben und diese aus ihrer Angst, das Falsche zu tun, herauskommen sollten. Die Deutschen dürften jetzt wieder normal sein. Alles sei okay. Was aber sollen nun die Menschen tun, die Zeit ihres Lebens ihre Mitbürger in Nazi und Nicht-Nazis eingruppiert haben?
Wir haben nicht hier die Nazi-Ossis und dort die Weltbürger-Wessis. Wir haben überall in Europa, in Ost und West, Sesshafte und Nomaden. Wir haben europäische Eliten, die sich als Weltbürger verstehen, es oft auch in gewisser Weise sind. Machen sie ein bis zehn Prozent der Bevölkerung aus, ist das in einer Gesellschaft gut zu verkraften, ja, sie bereichern die sesshafte Gesellschaft, aus der sie stammen. Wobei wahre Kosmopoliten gerne zurückgezogen sesshaft sind und ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Sind es mehr als 20 Prozent, die sich vermeintlich für Weltbürger halten, kommt es bei den anderen Bürgern zu Ressentiments, zu Entwicklungen wie dem Brexit, zu einer italienischen Regierung zwischen di Maio und Salvini oder zu Trauermärschen normaler Bürger, die sich hinter Neonazis aufstellen.
Es geht ans Eingemachte
Warum ist das so? All das sind auch Akte einer tiefen inneren Verzweiflung. Hier geht es gar nicht darum, prinzipiell fremdenfreundlich oder prinzipiell fremdenfeindlich zu sein, die meisten Menschen sind etwas von beidem, je nach Sachlage. Sondern hier geht es um die Frage, ob die Eliten noch die Brüder ihrer nichtelitären Landsleute sind oder nicht. Und dann geht es ans Eingemachte: Versuchen die Weltbürger, ihre Existenzform und Wertvorstellungen den Sesshaften aufzudrücken, rufen sie nicht nur Unmut über die Arroganz dieses Vorgehens hervor, sondern sie zerstören Stück für Stück die Grundlagen der Gesellschaft.
Anders ausgedrückt: Der moderne deutsche Staat wird zusammengehalten vom Rechtsstaat und vom Sozialstaat. Beide sind demokratisch konzipiert und legitimiert. Wird das leichtfertig aufs Spiel gesetzt, zum Beispiel durch eine missglückten Euro-Rettung oder einer unbegrenzten Zuwanderung in den Sozialstaat, dann kündigen viele diesen Konsens auf und ziehen sich auf den tradierten gesellschaftlichen Kitt zurück: Religion und Nation.
Seid ihr noch unserer Brüder oder Elite?
In allen europäischen Ländern steht die Frage: Seid Ihr noch unsere Brüder in Sprache, Kultur, Region und Identität oder seid Ihr eine Elite, die sich weltweit gleich zu Hause fühlt, wenn es nur WLAN gibt? Das wird in Ost und West in den Gesellschaften thematisiert. Im Osten gewiss in einem raueren Ton. Es gab viele, die aus materiellen Gründen abwanderten und sich in reicheren Gegenden sammelten. Diese Auswanderer waren auch oft gebildet und flexibel. Es sind aber auch viele Gebildete und Flexible geblieben. Sie haben ihre Heimat nicht verlassen, obwohl sie anderenorts mehr hätten verdienen können. Sie sind im Osten geblieben und haben etwas aufgebaut. Das ist ihnen auch viel wert.
Im Osten kennen Menschen über 45 die Gefühlswelt, wenn alles ruckartig und vollständig zusammenbricht, was einmal innerer und äußerer Rahmen des eigenen Lebens war – und mag es ein armseliges gewesen sein. Es gab einen Schießbefehl. Wir haben ihn verachtet und wurden nicht erschossen. Im Osten gibt es die flächendeckende Erfahrung, dass auch die Diktatur nicht in der Lage war, uns aufzuhalten oder zu töten, wenn viele gleichzeitig entschlossen waren, etwas zu ändern. Womit also will die links-liberal ideologisierte Demokratie drohen, damit die Ostdeutschen sich an „die Regeln“ halten? Mit einem Illustriertencover, das nicht in „Schwabacher Judenlettern“, sondern in historisch frischem nationalsozialistischen Antiqua gedruckt wird?