„Berlin 1933 – Tagebuch einer Großstadt“ - Sehenswert gescheitert

Die neue Dokumentation von Volker Heise zeichnet das Jahr 1933 und den Beginn der NS-Herrschaft anhand von Briefen, Fotos und privaten Aufzeichnungen nach. Zuweilen fehlt es dem ambitionierten Werk jedoch an historischen Einordnungen des Geschehens.

Das Kabinett Hitlers am Tag der Ernennung zum Reichskanzler, dem 30. Januar 1933 / Screenshot (rbb/arte)
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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An diesem Montag ist es 90 Jahre her, dass Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde. Volker Heise erzählt in seiner Collage „Berlin 1933 – Tagebuch einer Großstadt“ aus privaten Aufzeichnungen, Briefen, Fotos und Filmausschnitten vom 1. Januar bis zum 31. Dezember die Geschichte dieses verdammten Jahres. Dem Doku-Experten gelang ein dreistündiges Fernsehkunstwerk – sehenswert und doch in einem zentralen Punkt gescheitert: Aus Propagandamaterial lässt sich offensichtlich auch mit noch so bemühter Distanzierung, noch so bewundernswerter Schnittkunst und einem eigentlich lobenswert puristischen Ansatz kein Aufklärungsfilm machen. 

Ungewollt hat der dreistündige Film eine Schlagseite und kann, so angenehm das endlich auch einmal wäre, nicht für sich alleine stehen, ohne Kommentar, ohne Einordnung, ohne Erklärung des Kontextes. Ohne solides Grundlagenwissen über den Nationalsozialismus dürfte er gerade bei jüngeren Menschen fast tragisch sein Ziel einer eindringlichen Warnung verfehlen. Und das, obwohl er, soweit erkennbar, das Maximum aus seinem Material herausgeholt hat.   

Nur wenige stehen im Licht

Der erfahrene Regisseur, der zuletzt mit „Gladbeck“ Aufsehen erregte, war sich des Dilemmas einer heiklen Quellenlage natürlich wie alle Zeithistoriker bewusst. Ab Februar 1933 hätten alle im offiziellen Auftrag produzierten Aufnahmen im Dienste der Propaganda gestanden, inszeniert, um die schönen oder imposanten Seiten des Dritten Reichs zu zeigen und die Zuschauer zu beeindrucken, sagt Volker Heise im Interview mit dem Filmportal quotenmeter

Wir haben diese Aufnahmen im Schnitt auseinandergenommen, neu zusammengesetzt, mit gegenläufigen Stimmen und Töne konfrontiert, um ein neues Bild zu erzeugen, das die Propaganda unterläuft. Vor Februar 33 gibt es auch Bilder vom Elend in der Stadt, aber Filmmaterial war knapp und teuer und nur wenige stehen im Licht.

Wirklich funktioniert hat dieses Konzept nicht, jedenfalls nicht durchgehend. Was wie zusammengehört oder eben absichtlich nicht an Texten und Bildern, war zu oft nicht erkennbar. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels kommt geradezu blendend davon in diesen 180 Minuten, was an Heises Grundrezept liegt, die Bilder und Töne für sich sprechen zu lassen, während er natürlich nur das Material verwenden konnte, das ihm vorlag. 

Härter als Heises Hammer

Der Mann, der am 1. Mai 1945 samt Frau Magda so elend verreckte im Führerbunker, nachdem die beiden zuvor ihre sechs Kinder vergiftet hatten, anstatt sie ausfliegen zu lassen, das jüngste vier Jahre alt, hätte seinen Spaß gehabt an diesem Streifen, an der sensationellen Langzeitwirkung der Gleichschaltung, Durchdringung und Instrumentalisierung aller damals hochmodernen Medien wie Radio und Film, wie Goebbels sie nach der Machtübernahme von der ersten Minute an betrieb – perfekt und bis ins Detail auf den Tag X, auf den 30. Januar 1933 vorbereitet. 

Ohne den gigantischen Output dieses Schwerverbrechers wäre Heises Film nur halb so lang geworden. Die Idee, Propagandamaterial „wie mit dem Hammer“ zu zertrümmern und neu anzuordnen, zerschellt auch heute noch an Goebbels‘ diabolischem Geschick und Leni Riefenstahls Kunst der Inszenierung.

Erfolglose Suche nach Arbeitern 

Vier Jahre planten und recherchierten der Regisseur und sein Team – zunächst, um herauszufinden, ob das Projekt überhaupt realisierbar ist, und dann nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, England und in den USA. Russische Quellen seien in dieser Phase der Realisierung bereits unzugänglich gewesen – und der Rohstoff für solche Vorhaben werde dank eines Doku-Hypes weltweit immer teurer, wie Heise im Interview sagte. Nur zu oft sei die Recherche am Ende vergeblich gewesen: 

Wenn man nach Tagebüchern oder Briefen von Arbeiterinnen, Angestellten, Beamten, nach Sekretärinnen oder Hausfrauen sucht, nach den Leuten, die die Arbeit machen, dann muss man Glück haben und lange in Archiven suchen und viel Staub schlucken und beten, fündig zu werden. Es bleiben auch immer Lücken, etwa in der Arbeiterschicht, wir haben lange gesucht, ohne großen Erfolg. 

Wo war ein Attentäter, als man ihn brauchte?

Die Gefahr einer faszinierenden Wirkung dieser Chronologie gerade auf junge Menschen ist evident. Berlin wirkt von der ersten der 180 Minuten an, als hätte die Hauptstadt mit Vier-Fünftel-Mehrheit auf eine vermeintlich erlösende Macht wie Adolf Hitler nur gewartet, als sei alles bereit gewesen für die „neue Zeit“, für diesen perversen Begriff einer „Moderne“, während der Fortschritt über ratlose und uneinige Sozialdemokraten und Kommunisten schlicht hinweg gegangen sei – ohne Chance wirksamer Gegenwehr. 

Die Entwicklung wirkt wie unabwendbar, wie zwangsläufig, was sie natürlich auch 1933 noch nicht war. Vor den Linken hatten die Nazis durchaus noch großen Respekt. Das änderte sich erst mit der Okkupation der wichtigen Schaltstellen von Polizei und Justiz. 

Der Zuschauer ertappt sich bei jedem der anfangs noch zahllosen öffentlichen Auftritte Hitlers in den zwölf Monaten des Films bei dem Gedanken, wo um Gottes Willen der Scharfschütze war, der Bombenleger, der Attentäter, als man ihn wirklich einmal brauchte? Eine verpasste Chance nach der anderen, das Jahrtausendunheil abzuwenden, als es noch vergleichsweise einfach möglich gewesen wäre. 

Botschaft: Gegenwehr zwecklos

Dass sich ein Jahrtausendunheil anbahnte, ahnten ja keineswegs nur Hitlers politische Gegner, die - wie es im Film mehr als nur angedeutet wird – beinahe ergeben, jedenfalls resigniert nach und nach in Zuchthäusern und gerade provisorisch entstandenen Konzentrationslagern verschwanden, nicht nur die Juden, immer noch ein Minimum an Anstand und Rechtstreue von den Nazis erwartend, zumal sie im Ersten Weltkrieg loyal mitgekämpft hatten, sondern auch große Teile der übrigen Bevölkerung. 

Eine unsichtbare, aber riesige schwarze Wolke mit der Inschrift „Es kommt jetzt, wie es kommen muss – Gegenwehr zwecklos“ hing, so die Botschaft dieser drei Stunden, über Berlin und erstickte jeden erfolgsversprechenden Gedanken, Plan gar für ein schnelles Ende des nationalsozialistischen Terrors im Keim. Dessen Erfolg erschien den Menschen wie ein Naturgesetz. Fatalismus in Reinkultur.    

Eines aber muss man Heises Kunstwerk lassen: Es vermag selbst Leute in seinen Bann zu ziehen, die nach der fünfzigsten Gröfaz-Biografie, Joachim Fest noch heute griffbereit auf dem Nachttisch, nach der hundertsten Spiegel-Titelgeschichte und der zweihundertsten NS-TV-Doku glaubten, nun aber endgültig alles über 1933 ff. zu wissen und jeden Originalton, jede Wochenschau auswendig zu kennen. 

Fesselnd bis zum letzten Kalendereintrag

Vergebens war die Mühe der Macher auf keinen Fall. Eigentlich war der Samstagabend anders geplant, doch dieses rbb-Programm konnte einen nach der tagesschau umstimmen und neugierig machen und sodann fesseln bis zum letzten Eintrag drei Stunden später, bis zum virtuellen Kalenderblatt im Dezember 1933 mit einem verlogenen Stille Nacht, heilige Nacht.

Einen Hitler, der – so ein Beispiel – in einer absichtlich einmal ausführlichen Filmszene nervös vor seiner Rede im Berliner Sportpalast in seinen Notizen blättert, in seinem Rhetorik-Plan, den Saal dazu zu bringen, ihm nach kürzester Zeit zu Füßen zu liegen, was zu diesem Zeitpunkt keineswegs bereits selbstverständlich war, auch nicht für den Diktator selbst, kannte man so noch nicht. 

Und doch rief, ja schrie dieses Riesending, wenn schon nicht mittendrin oder parallel, dann doch wenigstens direkt im Anschluss nach einer Einordnung, nach einer sachkundigen Erklärung und Deutung, was da soeben Unglaubliches abendfüllend vorgeführt worden ist. Sinnvoller und hilfreicher als ein „Usedom-Krimi“ von 2020 wäre eine geschickt besetzte und geleitete Studiorunde allemal gewesen.

Kein Sinn für Offenheit der Geschichte

Nicht jede Expertenrunde muss in oberschlauem Gerede oder bizarren Vergleichen mit Reichsbürgern von heute enden, als hätte eigentlich jeder mit ein wenig Sinn und Verstand bereits am 1. Januar 1933 wissen können und müssen, wie die Sache am 8. Mai 1945 ausgehen werde. Nein: Eine angemessene Einordnung hätte die zeitgenössischen Kalendereinträge in ihrer vielfältigen Kombination aus böser, aber noch abstrakter Vorahnung, aus Arglosigkeit und Optimismus, ganz so schlimm werde es schon nicht kommen, jedenfalls nicht für einen selbst, kontrastieren, geraderücken und in heutige Verhältnisse übersetzen können. 

 

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Wenn ein Kritiker meint, dank der Machart des Films bekomme der Zuschauer einen Sinn für die Offenheit der Geschichte, ist ihm also zu widersprechen: Genau diesen Sinn erhält man nicht. Hinzu kommt: Die Gefasstheit, die Ruhe gar, eben der Fatalismus, mit dem jüdische Ärztinnen und Ärzte in ihren Tagebucheinträgen ihre Entlassungen beschreiben, vermittelt so gar keinen zutreffenden Eindruck von der gigantischen Katastrophe, individuell wie gesamtgesellschaftlich, die sich bereits in diesen frühen Tagen der Terrorherrschaft abspielte. 

Gegnern immer einen Schritt voraus

Der Regisseur nahm, was er an authentischem Material hatte auftreiben können. Ausgerechnet an dieser Stelle wird die Schwäche des Konzepts besonders deutlich. Berlin leidet ja bis heute unter den Folgen der Vertreibung und Ermordung des jüdischen Bürgertums und seiner jüdischen Intelligenz – eine wesentliche Langzeit-Ursache der kolossalen Verblödung der dortigen Politik, die ihren Höhepunkt möglicherweise noch gar nicht einmal erreicht hat. Andererseits hat Volker Heise wirklich gut herausgearbeitet, wie die Nationalsozialisten 1933 immer einen Schritt schneller waren als die anderen, weil man ihre Skrupellosigkeit seltsamer Weise immer noch weit unterschätzte:

Die SPD denkt noch darüber nach, ja, sie sind ja legal gewählt. Die Nazis denken schon darüber nach, wie man sie loswerden kann. Die, die am gewalttätigsten und radikalsten sind, gewinnen in so einer Situation.
 

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