Grüne-Gewölbe-Prozess - Thriller mit vielen Unbekannten

Der Grüne-Gewölbe-Prozess nähert sich dem Ende. Nach 15 Monaten ist klar, dass es beim größten Kunstdiebstahl der deutschen Nachkriegsgeschichte Dutzende Unterstützer und Mitwisser gab. Aber keiner von ihnen konnte identifiziert werden. 

Ein Angeklagter (r) im Prozess um den Juwelenraub im Grünen Gewölbe wird bei der Fortsetzung des Prozess in den Verhandlungssaal im Landgericht geführt / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Butz Peters ist Publizist und Rechtsanwalt in Dresden. Er ist einer der führenden deutschen Experten zur Geschichte der RAF und hat mehrere Bestseller zum Thema Innere Sicherheit geschrieben.

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Die entscheidende Wende im Dresdner Hochsicherheitstrakt brachte der „Deal“: Fast ein Jahr lang war das Strafverfahren vor sich hingedümpelt. Dann, Anfang des Jahres, vereinbarten Gericht, Staatsanwaltschaft, vier der sechs Angeklagten und ihre Verteidiger: Strafrabatt gegen Rückgabe von 18 der 21 Beutestücke und „glaubhafte Geständnisse“.

Und so ließen die vier, ein fünfter machte dann noch von sich aus mit, neun Sitzungstage lang von ihren Verteidigern ihre Darstellungen zur Tat und Antworten auf Nachfragen von Gericht und Staatsanwaltschaft vortragen. Zuvor hatte es von ihnen nicht mehr als DNA-Spuren an der Rückseite der Mauerkrone vor dem Einstiegsfenster im Grünen Gewölbe gegeben. 
Fügt man, wie bei einem Puzzle, die einzelnen Angaben der Fünf zusammen, zeigt sich ein schillerndes Bild des Jahrhundertdiebstahls. 

Delegationen von Remmos und Freundeskreis

Der Plan entsprang einer Dumme-Jungen-Idee. Anderthalb Jahre vor der Tat erhielt der Berliner Mohamed Remmo, wie sein Anwalt im Gerichtssaal vortrug, von einem Kumpel auf Klassenfahrt in Dresden ein Foto auf sein Smartphone von dem „Dresdner Grünen Diamanten“ aus dem Neuen Grünen Gewölbe. Der größte grüne Diamant, der jemals gefunden wurde. „Voll krass“, befand der damals 19-Jährige – und meinte, dass ihn sich die Remmos holen sollten. Delegationen von Remmos und Freundeskreis reisten von Berlin nach Dresden und schauten sich im Residenzschloss um, baldowerten Tatgelegenheiten aus. Fazit: Zu schwierig ist ein Einbruch im Neuen Grüne Gewölbe in der ersten Etage.

Eine Etage tiefer inspizierte Wissam Remmo, einer der Goldmünzediebe aus dem Berliner Bode-Museum, das Historische Grüne Gewölbe, erklärte einer seiner Verteidiger – als ganz normaler Besucher. Dort hätte er im Juwelenzimmer vor einer Vitrine haltgemacht und einen Wachmann angesprochen, ob denn in ihr alle Steine echt seien. „Alle echt“, habe der geantwortet – und sodann auf eine andere Vitrine gezeigt: „Dort liegen die teuersten Steine.“ Und damit hätte die Vitrine festgestanden, die dann in den frühen Morgenstunden des 25. November 2019 von dem Remmo-Einbruchskommando ausgeräumt wurde.

Kein Alarm. Gar nichts

Zwei Männer organisierten federführend die Tat – bis heute sind sie unbekannt. Im Prozess werden sie als „X“ und „Y“ bezeichnet. Die beiden rekrutieren vier „Fachkräfte“ aus Remmo-Kreisen. Die Planungen für das sechsköpfige Einbruchskommando erfolgen von langer Hand, über Monate. Zwei hochmotorisierte Fluchtfahrzeuge und vier „Arbeitshandys“ werden beschafft. In den Nächten vor dem Einbruch testen Kommandomitglieder oder Unterstützer mehrfach die Sicherheitsanlagen des Residenzschlosses. Sie stellen fest, dass der Außenschutz an der geplanten Einbruchsstelle nicht funktioniert. Kein Alarm. Gar nichts.

Wenige Minuten vor dem Einbruch im November 2019 klettert ein Kommandomitglied in das Pegelhaus an der Augustusbrücke durch einen Notausstieg. 200 Meter vom Residenzschloss entfernt. Der 22-Jährige steckt es in Brand – mit Hilfe von zwei benzingefüllten Woolworth-Kochtöpfen und einer Benzin-Lunte, die er sich aus einer Fahrradfahrer-Wasserflasche gespritzt hatte. Vor dem Haus an der Elbe steht ein Komplize Schmiere. 

Von der Brandstiftung erhofft sich das Remmo-Kommando, das Residenzschloss komplett vom Stromnetz abzukoppeln. Einer von ihnen erklärte vor Gericht, er hätte von jemandem erfahren, der sich zuvor im Pegelhaus umgeschaut hätte, aus Plänen, die er dort entdeckt hätte, ergebe sich, dass auch die elektrische Versorgung des Residenzschlosses über diesen Verteiler erfolge. Einer der Angeklagten lässt durch seinen Verteidiger ergänzen: Vorbild für die Brandstiftung im Dresdner Pegelhaus sei der Mega-Blackout im Stadtteil Köpenick gewesen.

Die Remmo-Hoffnung entpuppt sich als Irrtum

Der größte Stromausfall der jüngeren Berliner Geschichte also – ein dreiviertel Jahr vor dem Einbruch ins Grüne Gewölbe. Verursacht durch Bauarbeiten an der Salvador-Allende-Brücke. Zwei Hochspannungsleitungen waren angebohrt worden: In über 30.000 Haushalten fiel der Strom aus; Straßenbahnen blieben stehen. Die Heizkraftwerke Köpenick und Friedrichshagen mussten abgeschaltet werden. Schulen machten dicht. Telefon- und Mobilfunknetze funktionierten nicht mehr. Über 30 Stunden vergingen, bis die Havarie beseitigt war und Köpenick wieder unter Strom stand.
 

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Doch die Remmo-Hoffnung für Dresden entpuppt sich als Irrtum: Denn durch den flambierten Stromverteiler gehen nur die Straßenlaternen aus; nicht aber die Lichter im Residenzschloss – seit 1998 hängt es nicht mehr am Stromverteiler im Pegelhaus. Wenige Sekunden, nachdem es an jenem Montagmorgen in der Sophienstraße vor dem Grünen Gewölbe zappenduster geworden ist, 4.56 Uhr, kriechen zwei Täter durch ein Loch in einem Fenstergitter ins Grüne Gewölbe – geknackt hatte es sechs Nächte zuvor ein Vorauskommando mit einer hydraulischen „Rettungsschere“ der Marke Lukas, die Feuerwehr und Technisches Hilfswerk bei Notfällen einsetzen. Ewa, um Verletzte aus zerbeulten Autos herauszuschneiden. Keine fünf Minuten später kommen die beiden zurückgeklettert. In ihrer Tasche klimpern Teile des sächsischen Staatsschatzes. 

In einer Fake-Taxe nach Berlin

Die sechs des Einbruchskommandos flüchten in einem Audi Avant 6. Mit Tempo 100 rast er durch die Dresdner Innenstadt. Um Spuren zu verwischen, stecken sie das Fahrzeug vier Kilometer vom Residenzschloss entfernt in Brand. In einer Tiefgarage. Ursprünglich hatten sie vor, den Wagen draußen abzufackeln, berichteten sie im Gerichtssaal unisono. Aber als das Tor zur Tiefgarage bei ihrer Ankunft um 5.05 Uhr unerwartet hochgegangen sei, seien sie spontan hineingefahren.

Einer schüttet fünf Liter Benzin in den Innenraum. Da er fürchtet, er könne sich selbst in eine Fackel verwandeln, weil er an Fingern und Kleidung Benzin hat, steckt ein Komplize den Wagen in Brand. Perfekte Spurenvernichtung. In dem bei über 1000 Grad zerschmolzenen Wrack finden die Kriminaltechniker weder DNA-Material noch Fingerabdrücke. 63 Autos in der Tiefgarage sind beschädigt. Noch heute ist sie nicht nutzbar. So sind mehr als dreieinhalb Jahre nach der Tat noch immer die seinerzeit über 150 Tiefgaragen-Nutzer Remmo-Opfer.

Weiter geht die Flucht des Sextetts in einer Fake-Taxe nach Berlin. Einem E-Klasse Mercedes mit 750 PS. Zwei der sechs Männer sind „Kleiderschränke“ von über 100 Kilo; die anderen stark muskelbepackt. Während die Rakete auf vier Rädern mit fast 200 Sachen über die A13 durch die Nacht Richtung Norden schießt, wird in ihr die Tasche mit der Beute herumgereicht. Jeder greift hinein und mustert die Pretiosen. Sie funkeln faszinierend. Jeder ist stolz auf den Coup. Sie haben das Unvorstellbare geschafft. 

Große Puzzleteile des Gesamtbildes

Ein Jahr später werden die ersten drei Remmos festgenommen. Ob nun das, was die fünf Angeklagten vor Gericht durch ihre Verteidiger ausrichten ließen, tatsächlich in allem der Wahrheit entspricht, lässt sich nicht verlässlich beurteilen. Aber im Strafverfahren ist es nun eben keine Seltenheit, dass prozessuale Wahrheit und historische Wahrheit nicht identisch sind. 

Gezeigt hat der Prozess auch, dass vieles von dem Drumherum um das eigentliche Tatgeschehen in der Nacht vom 24. auf den 25. November 2019 nicht aufklärbar ist – oftmals, weil die Angeklagten es ablehnten, „drittbelastende“ Erklärungen abzugeben. Dass sie nicht zu derartigen Antworten verpflichtet sind, hatten ihre Verteidiger zur Bedingung für den Deal gemacht. Das Gericht ließ sich darauf ein. So hängt der Dresdner Hochsicherheitstrakt voller unbeantworteter Fragen:

  • Wer hat die beiden hochmotorisierten Fluchtfahrzeuge beschafft – den Audi Avant 6 und den Mercedes E 500?
  • Wer hat für sie die Doublettenkennzeichen geprägt und angebracht?
  • Wo wurde die Farbe des Flucht-Audi, in dem die Täter nach dem Einbruch vom Grünen Gewölbe davonbrausten, wenige Tage vor der Tat von stratosblau in hellgrau mit dunklem Dach „umfoliert“?
  • Wer war bei den zahlreichen Ausspähungen des Residenzschlosses mit von der Partie – Monate, Wochen, Tage vor der dem Einbruch?
  • Wo haben Remmos bei ihren Ausspähungen in Dresden übernachtet?
  • Wer hat den Remmos das hydraulische „Rettungswerkzeug“ geliehen, mit dem sie sechs Nächte vor dem Einbruch das Gitter vor dem Einbruchsfenster knackten?
  • Wo wurde anschließend die Beute versteckt?
  • Wer organisierte drei Jahre nach der Tat, dass ein erheblicher Teil aus dem Versteck geholt und in eine Berliner Rechtsanwaltskanzlei gebracht wurde, wo ihn die Polizei abholte?
  • Wer hat etliche der zurückgegebenen Beutestücke beschädigt?
  • Was geschah mit dem Rest der Beute, der bis heute verschwunden ist?
  • Und natürlich: Wer waren die beiden zentralen Figuren, die den Tatplan entwickelten, die Vorbereitungen finanzierten und die weiteren Mitglieder des Einbruchskommandos rekrutierten? Die beiden großen Unbekannten „X“ und „Y“?

Resümee aus fast vier Dutzend Verhandlungstagen der Strafkammer des Landgerichts Dresden: Beim Jahrhundertdiebstahl gab es weit über ein Dutzend, wenn nicht gar Dutzende Hintermänner, Drahtzieher, Helfershelfer und Mitwisser. Aber kein einziger konnte identifiziert werden. Die Angeklagten schwiegen eisern. Andere Möglichkeiten, ihnen auf die Spur zu kommen, sind nicht ersichtlich. So fehlen große Puzzleteile des Gesamtbildes. Klassische Clankriminalität. 

Einer kann mit Freispruch rechnen

Angesichts des Deals geht es beim Strafmaß nun nur noch um Nuancen. Ein paar Monate weniger oder mehr Freiheitsstrafe. Durch die „strafverfahrensrechtliche Verständigung“ ist die Strafkammer an den „Strafkorridor“ bei vier Angeklagten gebunden: Zwischen fünf Jahren und neun Monaten und sechs Jahren und neun Monaten. „Ertrag“ des Deals pro Angeklagtem: Gefühlt zwei, drei Jahre Strafnachlass. Und noch weniger könnten bei zwei der Angeklagten herauskommen, wenn die Kammer feststellt, dass das Jugendstrafrecht greift: Die Remmo-Zwillinge Mohamed und Abdul-Majed waren beim Einstieg ins Grüne Gewölbe 20 Jahre und neun Monate alt.

Einer der Angeklagten kann sogar mit einem Freispruch rechnen – er hat sich an dem Deal nicht beteiligt. Am Tatort fanden sich von ihm keine Spuren. Anders als bei den anderen Angeklagten. Und sein Alibi – in der Tatnacht in einem Vivantes-Krankenhaus in Berlin-Neukölln – entpuppte sich als unerschütterlich. Trotz mehrerer Belastungsproben der Ermittler. Aber gleichwohl wird der 25-Jährige nach der Urteilsverkündung nicht auf freien Fuß kommen. Er hat noch eine Haftstrafe wegen des Diebstahls der Goldmünze aus dem Berliner Bode Museum abzusitzen.

Ganoven vom Schlage der Remmos

Noch offen in dem Verfahren sind zwei Punkte: Zum einen, ob Abdul-Majed Remmo als Gehilfe oder als Täter – sprich: Mitglied des Einbruchskommandos – verurteilt wird. In auffälliger Weise hatten seine Komplizen in ihren Einlassungen erklären lassen, der 24-Jährige sei viel zu tollpatschig, um ihn bei dem Bruch in Dresden einzusetzen. Deshalb sei er nicht mit von der Partie gewesen. Und der räumte freimütig ein, Beihilfe geleistet, beispielsweise die Äxte in einem Obi-Baumarkt in Berlin-Neukölln gestohlen zu haben, mit denen die Täter die Vitrinen aufhackten. Hingegen meinen die Staatsanwälte, dass er in Wahrheit mit in Dresden war. So haben sie seine Verurteilung nicht als Gehilfe, sondern als Täter beantragt.

Und zweite Frage: Werden die Remmos, die den Deal geschlossen haben, nach der Urteilsverkündung den Gerichtssaal als „freie Bürger“ erhobenen Hauptes durch den Haupteingang verlassen oder sich von Justizbeamten noch einmal durch den Hinterausgang führen und in die Haftanstalt fahren lassen, um ihre Sachen zu packen? Denn Teil des Deals ist auch, dass mit Verkündung des Urteils die U-Haftbefehle aufgehoben oder außer Vollzug gesetzt werden. Sollte Revision einlegt werden, vergehen mindestens zwei Jahre, bis der Bundesgerichtshof entscheidet. Erst dann können die Verurteilten zum Strafantritt geladen werden.

Als Schaden verbleiben dem Freistaat Sachsen 88 Millionen Euro – angesichts der demolierten und fehlenden Schmuckstücke, erklärte seine Verfahrensvertreterin den Richtern. Nichts im Grünen Gewölbe hatte der Freistaat gegen Diebstahl versichert. Für ihn waren Ganoven vom Schlage der Remmos unvorstellbar.
 

Cicero-Podcast mit Autor Butz Peters zum Fall:

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