Das Journal - Gegenwarts-Wracks und Prosa-Schäumchen

Wladimir Makanin verbindet klassische Erzähl-Motive mit kaukasischer Gegenwart, Walentin Katajew erweist sich als verlässliches Sowjet-Chamäleon

Der Kaukasus war bei den russischen Klassikern das Land der Träume. Alexander Puschkins Poem «Der Gefangene im Kaukasus» (1822) begründete die literarische Tradition der zivilisationsmüden russischen Offiziere, die glutvolle Tscherkessenmädchen lieben und dann ertrinken lassen. Für Lermontow war der Kaukasus das komplexe Zentralgebirge der Seele, Schauplatz seines autobiografisch inspirierten Hauptwerks «Ein Held unserer Zeit» (1840) und Ort seines Duelltods. Lew Tolstoij nahm ab 1851 als Freiwilliger an dem Dauerkrieg teil, den die russische Armee gegen die Bergvölker führte. Er beutete diese Erfahrung in der Novel­le «Die Kosaken» (1863) aus und noch kurz vor seinem Tod in dem Kurzroman «Hadschi Murat» – mit offener Kritik an den russischen Verstrickungen im kaukasischen Teufelskreis. Der Kaukasus: nirgendwo stößt das Land der Seele für die Russen so brutal mit dem zähen Stolz und Unabhängigkeitswillen der Bergvölker zusammen.

Wenn der 1937 geborene Wladimir Makanin noch einmal einer Erzählung den Titel «Der kaukasische Gefangene» verpasst, gehen beim russischen Leser alle Klassik- Lämpchen an. Das Putinsche Tschetschenien-Desaster gibt dem Stoff zusätzlich unfreiwillige Aktualität. Makanin ist spätestens seit der Buchmesse 2003, als sein Roman «Underground oder Ein Held unserer Zeit» auch hierzulande Furore machte, als Spezia­list fürs Abgewrackte bekannt, der unerbittlich die Defizite des heutigen Russland in schlüssige Parabeln kleidet.

Titel und Stoffe mögen Klassisches zitieren, die schlimmen Enden sind ganz von heute. Zwei Soldaten nehmen einen Kaukasier gefangen, den sie gegen eigene Männer austauschen wollen. Doch die Schönheit ihres Gefangenen beunruhigt sie tief. Als sie in einen Hinterhalt geraten, erwürgen sie ihn rasch und ohne Bedenken. «Mit dem Arm, der ihn umfing, nahm Rubachin seinen Kehlkopf in die Zange. Drückte zu. Schönheit war keine Rettung. Ein paar Zuckungen … und Schluss.» Ein Kaukasier sagt es dem Russen ins Gesicht: «Ich und ein Gefangener … Du bist hier der Gefangene!»


Beschissene Freiheit

In «Eine geglückte Liebesgeschichte» tritt der abgehalfterte Sowjetautor Tartassow auf. Auch er ein chronisch Abgebrannter, eine ziemlich miese Type. Als Moderator einer Talkshow schwadroniert er davon, dass die Literatur im Sterben liege. Seine Liebe zu Larissa, die einst seine Zensorin war und nach der Wende ein Bordell betreibt, ist ausgelaugt, aber aus Bequemlichkeit pumpt der Profiteur und Zyniker ihre Huren an.

Die dritte Erzählung «Der Buchstabe A» nimmt mit dem Gulag-Stoff wiederum Traditionelles auf – und lässt es ins Leere laufen. Die Gefangenen erleben zwar das Ende des Lagerregimes, aber mit der Freiheit wissen sie nichts anzufangen. Sie reißen Stacheldraht und Wachttürme nieder und verschmieren die Kulissen der Repression mit Kot und Kotze. Befreiung meint hier nur: beschissene Freiheit.
Erwürgte Schönheit hier, abgetakelte Liebe dort. Makanin ist ein unsentimentaler Beobachter der Gegenwart. Kein heite­res Russlandbild, gewiss. Doch überzeugend und kraftvoll führt Makanin die realistische russische Erzähltradition fort. Eine aufgewärmte Moderne bietet dagegen Walentin Katajews Pseudo-Roman «Kubik».

Der 1897 geborene und 1986 verstorbene Autor war jahrzehntelang ein braves Sowjet-Chamäleon. Im Jahr 1932 lieferte er den strammen Produktionsroman «Im Sturm­schritt vorwärts!» (über die enthusiastische Norm-Übererfüllung in Magnitogorsk). Nach dem Großen Vaterländischen Krieg folgte der «Sohn des Regiments» (1945), für den Kata­jew den Stalinpreis 3. Klasse bekam. In «Die Katakomben» (1949) stellte er seine Heimatstadt Odessa im Weltkrieg dar, wurde wegen Vernachlässigung der glorreichen Rolle der Partei ein bisschen angemurrt und schrieb darauf sein Opus um zum Roman mit dem vielsagenden Titel «Für die Macht der Sowjets» (1951).

Alles schillert, selbst der Pudel

Auf seine alten Tage besann sich der Mann, dass es auch in Russland einmal eine Moderne gab und fing an (jetzt, wo sie nicht mehr Kopf und Kragen kostete), in tollkühn abgehackten Bruchstücken, mit fliegendem Identitätswechsel und schwindendem Plot seine Erinnerungen zu verbraten. Aus dieser Produktionssträhne stammt «Kubik» von 1969. Um der pseudomodernen Grafomanie eine Theorie zu verpassen, kreierte Katajew den «Mauvismus». Wer vorschnell an Malvenfarbenes denkt, wird belehrt: Der Terminus stammt vom französischen «mau­vais». Die Kunst, schlecht zu schreiben, sollte Freiräume öffnen.

Das Schlitzohr Katajew war mit seinem Stalinpreis und seinen zwei Leninpreisen ein derart solide gepanzertes Fossil, dass man ihm offiziellerseits sogar den verspäteten Modernismusverschnitt nachsah. Wenn es aber galt, seine Zugehörigkeit unter Beweis zu stellen, etwa in den infamen Hetzkampagnen gegen Pasternak oder Solschenizyn, konnte das  Establishment blindlings auf den loyalen Unterzeichner (und Mit-Hetzer) zählen.

In «Kubik» wird in verrätseltem Fetzchenplot die Geschichte zweier Kinder in Odessa (nicht) erzählt, die auch einmal erwachsen werden und dann «Monsieur Ehemaliger Junge» und «Madame Ehemaliges Mädchen» heißen. Mit «Es blinkt ein einsam Segel» hatte Katajew 1936 einen Klassiker der sow­jetischen Jugendliteratur verfasst und danach gern immer wieder den Blick von Kindern adoptiert. In «Kubik» ein­gestreut sind neben Erinnerungssplittern an Odessa und Paris auch Gedanken an den «Lehrer», in dem unschwer der russische Nobelpreisträger Iwan Bunin zu erkennen ist, und an den «Verbannten», hinter dessen Maske sich Ossip Mandelstam knapp verbergen darf. So gewinnt das süße kleine Machwerk wenigstens den Abglanz jener russischen Exilliteratur, die mit Bunin und Nabokov triumphierte, und lehnt sich außerdem bei jener «inneren Emigration» und authentischen Moderne an, die im Gulag endete.

Durch das Werkchen schwänzelt auch ein Mephistophelisches Pudelchen, das einmal sogar zubeißt. Leitmotivisch kehrt das Wort «Brambacher» wieder, das einmal ein deutsches Mineralwasser bezeichnet, dann den Laut von Luthers Tintenfass, als es gegen die Wand krachte, sowie das Knacken einer zerdrückten Wespe. Der Pudel heißt «Kubik» und schillert bedeutungsvoll. Wohl­wollende meinen in Katajew, anything goes, einen Begründer postmodernen Schreibens entdeckt zu haben.

So schillert allmählich alles, die Genres und Identitäten sind aufgelöst, die Plots verpulvert, und das Etikett der «wiedergeborenen Moderne» – schön wär’s! – wird 1969 aufs Eingemachte gepappt. Neben Makanins spätrealistischen GegenwartsWracks nehmen sich Katajews Prosa-Schäum­chen aus wie eine abgeschmackte kleine Harmlosigkeit.

 

Wladimir Makanin
Der kaukasische Gefangene. Drei Erzählungen
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
Luchterhand, München 2005. 240 S., 19,90 €

Walentin Katajew
Kubik. Roman
Aus dem Russischen übersetzt und mit einem Nachwort von Swetlana Geier.
Dörlemann, Zürich 2005. 200 S., 17,80 €

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