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(picture alliance) Ein indonesischer Arbeiter läuft durch den Rauch eines Kohlekraftwerks in einem Slum in Jakarta.

US-Ökonom Rifkin - „Deutschland muss beim Klimaschutz Vorreiter sein“

Der US-Ökonom und Merkel-Berater Jeremy Rifkin wünscht sich eine deutsche Führungsrolle beim Umbau der Wirtschaft auf erneuerbare Energien. In seinem neuen Buch „Die dritte industrielle Revolution“ beschreibt er die Vision einer Welt ohne Öl, Kohle und Atomkraft. Im CICERO-ONLINE-Interview warnt Rifkin vor einem "Weiter so".

Herr Rifkin, Sie sind ein erfolgreicher Geschäftsmann und Politikberater, aber in Ihrem Buch treten Sie als Atomkraftgegner, Umweltaktivist, Pazifist und Unterstützer der Slow-Food-Bewegung auf. Was sind Sie eigentlich?
Seit fast 45 Jahren engagiere ich mich für soziale und umweltpolitische Themen. Zum Leben gehört alles dazu – ob Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft oder Regierung. Ich habe mich daher nie zerteilt.

US-Ökonom Jeremy Rifkin / picture allianceIhre Warnung liest sich wie ein Hilferuf aus den Sechzigern.
In einer gewissen Weise ist es das auch. Die Sechziger forderten mehr Macht für die Bürger, wollten Grenzen niederreißen. Und genau darum geht es der jungen Internetgeneration und den Vorreitern der Energiewende heute auch. Mit einem Unterschied: Unsere Spezies steht mit dem Klimawandel vor einem entscheidenden Moment der Weltgeschichte. Wir haben zu viel Kohlendioxid in die Erdatmosphäre ausgestoßen. Die Situation ist schlimmer, als die meisten glauben.

Sie prophezeien das Ende unserer derzeitigen Wirtschaftsweise?
Ja. Als der Ölpreis im Juli 2008 auf 147 Dollar pro Barrel anstieg, verteuerten sich auch alle anderen Wirtschaftsgüter, die am Öl hängen. Die Kaufkraft sank – und die Wirtschaft fiel in eine Rezession. Das war ein ökonomisches Erdbeben. Dieser Teufelskreis wiederholt sich alle drei bis vier Jahre: Mit der Konjunktur fiel der Ölpreis, bis er wieder so billig war, dass wir den Motor wieder anwerfen konnten.

Größere Sorgen bereitete uns aber im Herbst 2008 der Zusammenbruch der US-Investmentbank Lehman Brothers. Die Finanzkrise führte schließlich auch zur Krise des Euro.
Nein, die Finanzkrise hängt mit der Energiekrise zusammen. Mit unserer Lebensweise haben wir in kurzer Zeit den Wohlstand der vergangenen 40 Jahre komplett aufgezehrt. 1990 betrug die Sparquote der US-Bevölkerung noch neun Prozent, 2006 sank sie auf null Prozent. Jetzt sind wir sogar ins Defizit gerutscht: Die Privathaushalte in meinem Land haben Schulden in Höhe von 14 Billionen Dollar – so hoch ist allein unser Bruttoinlandsprodukt. Wir haben die Globalisierung auf amerikanischer Kaufkraft aufgebaut, aber die basierte auf dem Verbrauch der Ersparnisse der Öl-Ära. Mit dem hohen Ölpreis konnte die echte mit der fiktionalen Wirtschaft nicht mehr mithalten. Es ist vorbei, aus.

Wie soll es dann weiter gehen?
Ich setze ganz auf Europa. Hier ist das Labor für neue Ideen zur Frage, wie wir auf diesem Planeten zusammenleben wollen.

Welche Rolle sehen Sie da für Deutschland?
Deutschland ist nicht nur der ökonomische, sondern auch – wie es mir Angela Merkel in einem Gespräch sagte – wegen des zweiten Weltkrieges der moralische Motor Europas. Deutschland führt die dritte industrielle Revolution an.

Wie sieht diese „dritte industrielle Revolution“ aus?
Grundsätzlich entstehen industrielle Revolutionen durch neue Energieregime. Wenn sie mit neuen Kommunikationstechnologien einhergehen, ändern sie nicht nur den Lauf der Geschichte, sondern auch das menschliche Bewusstsein. Im 19. Jahrhundert revolutionierte die Dampfmaschine auch die Druckverfahren – mit der Linotype-Setzmaschine konnten Printerzeugnisse massenproduziert werden. Die zweite industrielle Revolution im 20. Jahrhundert basierte auf Elektrizität und der Erfindung des Automobils; Radio und Fernsehen waren die Kommunikationsvehikel, um Märkte zu organisieren. Doch die auf Kohlenstoff basierte Infrastruktur fällt auseinander.

Und jetzt?
Wir sind auf der Schwelle einer dritten industriellen Revolution, einer neuen Konvergenz von Kommunikation und Energie. Bislang sehen wir mit dem Internet aber nur den Kommunikationsteil dieser Revolution. IT hat uns nicht den enormen Produktivitätsanstieg gebracht, den die zweite industrielle Revolution brachte. Uns fehlen also noch die erneuerbaren Energien.
Die konventionelle Energie ist zentral organisiert, die neue Energie wird dagegen gemeinschaftlich verteilt, funktioniert horizontal, nicht vertikal. Nehmen wir das Beispiel Internet: Innerhalb von 15 Jahren nutzt ein Drittel der Menschheit kleine Geräte, mit denen sie Videos und Texte in einen riesigen sozialen Raum verschickt. Vor 25 Jahren hätte man das noch für Science Fiction gehalten. Und jetzt lasst uns die Internetrevolution mit den erneuerbaren Energien kombinieren – wir reden davon, dass Deutschland in der Mitte all dessen ist.

Inwiefern?
Der Wendepunkt war die deutsche Ratspräsidentschaft 2007, unter der die Europäische Union ein Konzept für eine fünfsäulige Energie-Infrastruktur der dritten industriellen Revolution entwickelte.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Rifkin unter den fünf Säulen versteht.

Wie sehen diese fünf Säulen aus?
Erstens hat sich die EU verpflichtet, bis 2020 die CO2-Emissionen auf 20 Prozent des Werts von 1990 zu reduzieren. Deutschland hat das Ziel vor einem Monat erreicht, ein Fünftel des Stroms ist jetzt erneuerbar.
Säule zwei: Wo kommt die grüne Energie her? Die vielen Häuser in der EU sind einer der Hauptgründe für den Klimawandel. Das Ziel muss sein, in den nächsten 40 Jahren jedes einzelne Gebäude in der EU in ein Mikrokraftwerk zu verwandeln. Wir sollten Solarenergie vom Dach, Wind von den Außenwänden, Erdwärme aus dem Boden sammeln und Müll bakteriell zersetzen, alles. Wir brauchen Plusenergiehäuser. Dieser Plan würde der Bauwirtschaft einen wahnsinnigen Anstoß geben, Millionen und Millionen Jobs würden geschaffen. Im Vergleich zu anderen Ländern ist Deutschland in Städten wie Freiburg oder Tübingen da schon am meisten vorangeschritten.
Säule drei, wir müssen diese Energie speichern. Die Sonne scheint nur Tags, der Wind bläst nicht immer. Die beste Lösung: Brennstoffzellen. Sie basieren auf Wasserstoff, dem simpelsten Element in der Natur. Das Prinzip der Elektrolyse kennt jeder Schüler aus dem Physikunterricht. Steck zwei Elektroden in einen Tank mit Wasser und wandle es in Sauerstoff und Wasserstoff um – und rückwärts, wenn nötig. Für die Erforschung von Brennstoffzellen hat die EU hat im vergangenen Jahr acht Milliarden Euro bewilligt, Merkel hat 500 Millionen bereitgestellt. Die deutsche Kanzlerin versteht es, sie ist eine Physikerin, und sie war mal Umweltministerin.
In Säule vier kommt die Internettechnologie dazu: Schaffen wir ein Energie-Internet! Der an den Gebäuden gesammelte und gespeicherte Strom wird durch ganz Europa geschickt – so wie wir heute schon unsere Information online bearbeiten, digital speichern und dann weiterschicken. Die deutsche Regierung testet dieses sogenannte Smart Grid, eine intelligente Software für Stromnetze, bereits an sechs Standorten.
Schließlich brauchen wir in der fünften Säule Elektroanschlüsse für nachhaltige Autos. Daimler hat bei der Internationalen Automobil Ausstellung Wasserstoffautos bis 2014 angekündigt. Zusammen entstehen durch diese fünf Säulen Synergieeffekte, die einer Technologierevolution nahe kommen – die Energie-Infrastruktur ist die Technologierevolution.
Als ich Angela Merkel das erste Mal traf, sagte sie mir bei einem Glas Wein, dass ihr diese fünf-Säulen-Infrastruktur gefällt. Ich erwartete eine physikalische Begründung. Stattdessen sagte sie: "Deutschland ist ein föderaler Staat. Die dezentrale Struktur passt perfekt auf Deutschland."

Merkel unterstützte aber dennoch lange Zeit die Atomkraft. Erst Fukushima führte sie offenbar zum Sinneswandel.
Man muss ihr zugutehalten, dass sie den Atomausstieg schnell über die Bühne gebracht hat. In der CDU will niemand mehr zur Kernkraft zurück.

Ist Deutschlands Alleingang in der Kernenergie überhaupt sinnvoll?
Vom ökonomischen Standpunkt her war die Atomkraft schon seit 30 Jahren keine funktionale Technologie mehr. Ihr Comeback in den 1990er Jahren hing nur damit zusammen, dass sie sich im Zuge des Klimawandels als CO2-freie Energie vermarktet hat. Um auch nur einen minimalen Effekt zu erreichen, müsste die Kernkraft einen Anteil von 20 Prozent am Energiemix erreichen. Derzeit liegt er bei fünf Prozent. Um das Ziel zu erreichen, müsste man also in den nächsten 60 Jahren alle 30 Tage drei neue Kernkraftwerke bauen. Das ist völlig utopisch.

Deutschland importiert momentan Strom aus Frankreich und Tschechien, wo Kernkraftwerke stehen.
Deutschland muss mit den anderen 26 EU-Ländern beim Umbau der Energieinfrastruktur zusammenarbeiten. Warum? Europa und die Partnerregionen am Mittelmeer bilden einen potenziellen Markt von einer Milliarde Menschen. Hier könnte die erste CO2-freie Region der Welt entstehen. Die Afrikanische und die Südamerikanische Union haben diesen Prozess gerade erst begonnen. Sie alle folgen Europa. Und Europa folgt Deutschland.

Lesen Sie auch, was Rifkin über die Bemühungen der USA zum Klimawandel denkt.

Was ist mit den USA? Die sind doch auch ein föderaler Staat.
Barack Obama hat das Narrativ, die Story hinter den fünf Säulen nicht verstanden. Er wollte die Wirtschaft ergrünen lassen, stattdessen hat er Millionen in Einzelprojekte investiert. Eine Autofirma hier, ein Solarpark da – das schafft keine Synergien, keine neue Infrastruktur. Die zentralisierte Energiegewinnung ist Denken des 20. Jahrhunderts, basiert auf fossilen Energieträgern, die wir an wenigen Orten gesammelt und dann verschifft haben. Meine Hoffnung ist, dass der Wind von Europa zurück in die USA wehen wird, und dann in die ganze Welt.

Zentralisierte Energieunternehmen haben wir in Deutschland auch, etwa den Atomkraftwerksbetreiber EnBW.
Da gibt es einen riesigen Kampf zwischen den über 50-Jährigen und den unter 40-Jährigen. Die Alten wollen zentralisierte Energie, die Jungen dezentralisierte. Mit dem alten Modell werden die Konzerne aber langfristig Geld verlieren, da die Technologie für die Erneuerbaren wird immer billiger wird. Damit wird sich auch das Geschäftsfeld der Energieunternehmen ändern müssen: vom Stromverkauf zum Management von Energie. Man muss dem Verbraucher helfen, die Energiekosten möglichst niedrig zu halten.

Was soll dieser massive Umbau der Energieinfrastruktur überhaupt kosten?
In den nächsten zehn Jahren sind für die Schaffung des Energie-Internets eine Billion Euro nötig, als öffentlich-private Investitionen.

Führen die hohen Subventionen der Erneuerbaren nicht dazu, dass ineffiziente Technologien unterstützt werden und die Energie künstlich verteuert wird, wie es in Deutschland über das Erneuerbare-Energien-Gesetz passiert?
Nein. Für dieses Projekt brauchen wir massive staatliche Subventionen, so wie auch in der ersten und zweiten industriellen Revolution. Es ist im Übrigen ein amerikanischer Mythos, dass der Markt Infrastruktur schafft. Wie hätten wir sonst Eisenbahn, Highways oder das erste Telegrafennetz errichten können? Die Regierung subventioniert das Ölgeschäft und die Pipelines mit Milliarden.

Sie fordern also eine massive staatliche Förderung der Erneuerbaren?
Ja – und eine leichte Anhebung des Strompreises, die kaum jemandem wehtun wird. Steuern sind dafür da, die öffentliche Infrastruktur zu finanzieren oder zu unterhalten.

Und was ist mit den kleinen Hausbesitzern? Wie sollen die den Umbau ihrer Gebäude bezahlen?
In Italien haben sich die großen Banken zu einem Konsortium zusammengeschlossen und bieten grüne Kredite mit einer geringen Discountrate an. Für 30.000 Euro erhält ein Hausbesitzer eine Photovoltaikanlage auf dem Dach. Die Differenz aus alter Stromrechnung und Einsparung geht an die Bank, das Motto lautet "Zahlen durch Sparen".

Wer ist schwieriger von Ihrer Vision zu überzeugen: die Industrie oder die Politik?
Meine Umweltberatungs-Gruppe hat mit den Stadtverwaltungen von San Antonio in Texas, Utrecht, Rom und mit Prinz Albert von Monaco zusammengearbeitet. Sie berät aber auch globale Unternehmen wie IBM, Cisco oder Philips. Wir sehen, dass das Interesse an Nachhaltigkeit nicht mehr eine Frage des politischen Lagers ist – die Christdemokratin Merkel, der konservative britische Premier Cameron und der Sozialist Zapatero in Spanien haben es verstanden, der frühere Labour-Politiker David Miliband nicht. 25-Jährige denken heute nicht mehr in Rechts-links-Kategorien, sie bewerten institutionelles Handeln anders: Ist es zentralisiert, patriarchalisch, top-down, geschlossen und eigentumsorientiert oder ist es dezentralisiert, gemeinschaftlich, kollateral, offen und transparent? Die Musikfirmen haben es nicht verstanden. Millionen Kinder haben sich zusammengeschlossen und Songs kostenlos verbreitet. Verteilte Macht kann man nicht besiegen!

Was ist die Rolle des Menschen in der neuen Gesellschaft?
Wenn Kohle, Öl, Gas und Atom tot sind, müssen wir unsere biologische Uhr wieder an die Energierhythmen anpassen. Scheint die Sonne, weht der Wind, wie ist der hydrologische Kreislauf? Wir müssen Biosphären wieder mit der urbanen Welt und die Wildnis mit den Städten verknüpfen. Denn wir sind genauso im Ökosystem vernetzt wie im Internet.

Herr Rifkin, vielen Dank für das Gespräch.

Jeremy Rifkin: „Die dritte industrielle Revolution – Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter“; Sachbuch, Campus-Verlag, New York/Frankfurt am Main 2011; 304 Seiten, 24,99 Euro

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