Daniel Kehlmann - Charmant gegen den Strom

Sechs Jahre nach „Tyll“ erscheint demnächst sein neuer Roman: Mit „Lichtspiel“ betritt Daniel Kehlmann diesmal Neuland – und geht in moralinsauren Zeiten ein Risiko ein.

Daniel Kehlmanns Bücher haben Bestsellergarantie / Peter Rigaud
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Autoreninfo

René Schlott, geboren in Mühlhausen/Thüringen, ist Historiker und Publizist in Berlin.

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In seinem 2009 erschienenen Roman „Ruhm“ persifliert Daniel Kehlmann das Leben des fiktiven Schriftstellers Leo Richter und dessen skurrile Erlebnisse auf den unvermeidlichen Lesereisen, die ein Literatenleben mit sich bringt. Richter bekommt dabei nicht nur immer dasselbe Abendessen serviert, sondern im Smalltalk auch die immer gleichen Fragen zu hören: Wo er zu seinen Ideen komme? Zu welcher Tageszeit er schreibe? Am Vormittag oder am Nachmittag? Und alle seine Gesprächspartner berichten ihm stets, auf welcher Reise man sein letztes Buch gelesen habe: im Flugzeug oder in der Bahn, „von Berlin nach München“ oder „von Bebra nach Dortmund“.

Wenn man annimmt, dass Kehlmann von solchen Kalamitäten auch aus eigener Erfahrung schrieb, dürfte ihm nun wieder Ähnliches bevorstehen. Denn am 10. Oktober erscheint sein neuer Roman „Lichtspiel“, und schon jetzt sind auf der Internetseite des Rowohlt-Verlags mehr als ein halbes Dutzend Veranstaltungstermine angekündigt, die den Autor mit seinem neuen Werk quer durch die Republik von Hamburg über Göttingen bis nach Karlsruhe führen.

Kehlmann geht ins Risiko

Die Buchpremiere selbst findet am Vorabend des Erscheinungstermins im großen Saal des Berliner Ensembles statt, denn Kehlmanns Bücher sind quasi mit einer Bestsellergarantie ausgestattete Publikumsmagneten. Davon war noch nichts zu ahnen, als der damals 22-jährige Kehlmann, seinerzeit noch Doktorand der Philosophie, 1997 seinen Debütroman vorlegte. In „Beerholms Vorstellung“ ging es nicht zufällig um einen Magier. Kehlmann selbst beherrscht einige Kartentricks, die er früher im privaten Kreis auch vorgeführt hat.

Es waren zwei spätere Werke, mit denen der 1975 in München geborene und in Wien aufgewachsene Kehlmann auch international bekannt wurde: „Die Vermessung der Welt“, das 2005 erschienene Doppelporträt der verschrobenen Charaktere Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt, und „Tyll“, das 2017 veröffentlichte Sprachkunstwerk rund um den Gaukler Till Eulenspiegel. Sein bislang letztes und, wie er selbst sagt, bestes Buch.

Im Mittelpunkt des neuen Romans steht auch diesmal wieder eine historische Persönlichkeit: der österreichische Filmregisseur G.W. Pabst (1885–1967). Und abermals ist es ein Buch im erfolgversprechenden „Kehlmann-Sound“ aus fein ziseliertem Sprachspiel und erzählerischer Finesse. Dennoch betritt Kehlmann mit „Lichtspiel“ Neuland. Denn das Werk bewegt sich nicht in weit zurückliegenden Zeiten, sondern inmitten des deutschen Zivilisationsbruchs der Jahre 1933 bis 1945. Und eine Erzählung über Nazis, die mit Fiktionen und auch mit Witz spielt, ist bei dem moralinsauren Zeitgeist, der durchs Land weht, nicht ohne Risiko. 

Der Autor der Berliner Republik

Sechs Jahre zwischen zwei Romanen, das ist zugleich eine lange und eine kurze Zeit. Denn man muss sich Kehlmann als viel beschäftigten Mann vorstellen, der stets an mehreren Dingen gleichzeitig arbeitet und notfalls abends noch mit dem 14-jährigen Sohn Lateinvokabeln paukt. Kehlmann ist nicht nur Romanautor, sondern schreibt auch Theaterstücke und Drehbücher, zuletzt für die Miniserie „Kafka“, die im nächsten Frühjahr in der ARD zu sehen sein wird. Gerade las er sich durch die Werke von Salman Rush­die, um die Laudatio für seinen Freund vorzubereiten, der am 22. Oktober mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt werden wird. Parallel arbeitet er mit dem Philosophen Omri Boehm an einem für das Frühjahr 2024 geplanten Gesprächsband zu Kant.

Kehlmann als Person des öffentlichen Lebens zu bezeichnen, ist arg untertrieben. Er ist für die Berliner Republik wohl das, was Günter Grass für die Bonner Republik war: ihr Schriftsteller. Der Autor wird im Kanzleramt genauso gern gesehen wie im Schloss Bellevue. Doch scheut er sich nicht davor, auch mit der Politik in Konflikt zu treten. Als einer der wenigen öffentlichen Intellektuellen kritisierte er früh und kontinuierlich die Freiheitseinschränkungen in der Corona-Pandemie.

 

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Dennoch lud ihn der Bundeskanzler im September 2022 zur gemeinsamen Reise in die USA ein, wo sich Olaf Scholz am Rande der UN-Vollversammlung von Kehlmann durch New York führen ließ. Der Kanzler war zum ersten Mal in der Metropole am Hudson River, in der Kehlmann viele Jahre gelebt hat. Aus dieser Zeit rühren die Freundschaften mit Rushdie und anderen Starautoren jenseits des Atlantiks.

Kehlmanns Romanfigur Leo Richter übrigens antwortet auf die eingangs zitierten, stets gleichen Fragen nach dem Ort der Inspiration und der Zeit des Schreibens: „Badewanne“ und „immer nachmittags“. Und auf die Schilderung der Lektüreerlebnisse seiner Leser reagiert er mit einem stoischen: „Interessant.“ Der Autor selbst agiert da sehr viel diplomatischer, Starallüren sind ihm fremd. Vielleicht ist das Kehlmanns Erfolgsgeheimnis als allseits beliebter Sympathieträger.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

 

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