„Deutschland-Psychogramm“ - Schmerzfreie Resignation, stoisches Phlegma, schamloses Durchwursteln

Krieg, Inflation, Unsicherheit: Die Aufbruchstimmung, die man mit dem Jahreswechsel normalerweise verbindet, ist so schwach wie nie. Dafür entwickeln die Deutschen eine Krisenresilienz und Krisentoleranz – und neue Sekundärtugenden.

Deutschland auf der Couch / picture alliance
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Autoreninfo

Dirk Ziems ist Gesellschafts- und Marktforscher mit mehr als 30 Jahren internationaler Forschungserfahrung. Er ist Gesellschafter und Co-Founder des Forschungs- und Beratungsinstituts concept m. Das Institut analysiert auf Basis tiefenpsychologischer Interviews gesellschaftliche Strömungen und Trend-Themen und berät in über 40 Ländern und 12 Branchen.

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Mit dem „Deutschland-Psychogramm“ fühlt der Gesellschaftsforscher Dirk Ziems vom concept m Institut den Bürgern den psychologischen Puls. Für 2024 gibt er einen ernüchternden Trend-Ausblick, den er auf der Basis von aktuellen Tiefeninterviews und Beobachtungen aus dem westlichen Ausland ableitet.

Wie wird die zu erwartende Stimmung im Jahre 2024 sein? Nach den vielen unerwartet hereinplatzenden Krisen und Kriegen – Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, Gaza-Krieg – sind wir inzwischen daran gewöhnt, dass es erstens anders kommt und zweitens als man denkt. Gesichert ist nichts. Doch sicher ist: Die Aufbruchstimmung, die man mit dem Jahreswechsel normalerweise verbindet, ist so schwach wie nie. Dafür entwickeln die Deutschen eine Krisenresilienz und Krisentoleranz – und neue Sekundärtugenden.

Als Gesellschaftsforscher haben wir in der laufenden Forschung mit dem Tiefeninterviewpanel „Deutschland-Psychogramm“ einen intensiven Einblick in die Seelenlage der Deutschen. Aus diesen aktuellen Befragungen und den Entwicklungen der vergangenen Jahre lassen sich eine Reihe von wahrscheinlichen Trends extrapolieren, die der Fortschreibung von bisher angelegten Tendenzen entsprechen. 

Zudem liegt die Annahme nahe, dass sich in Deutschland in modifizierter Form Entwicklungen wiederholen, die in anderen westlichen Ländern längst vollzogen wurden. Weil wir als global tätige Marketing- und Kulturforscher das Privileg genießen, uns ständig interkulturell informiert zu halten, können wir auch dazu bestimmte Trend-Hypothesen wagen.

Belastung durch Kriege nimmt weiter zu

Die Annahme, dass die Kriegssituation in der Ukraine weiter eskaliert, ist sicher nicht aus der Luft gegriffen. Aktuell gewinnt Russland zunehmend die Oberhand, und im fortlaufenden Abnutzungskrieg stellen sich bei den Ukrainern Ermüdungserscheinungen ein. Wenn man sich ausmalt, was passieren würde, wenn sich Putin mit seinem Angriffskrieg weiter durchsetzt, dann kann man leicht schwarzsehen. Nach der Ukraine stehen für Putin weitere Kriegsziele an: Moldawien, Georgien und die baltischen Staaten sind unmittelbar bedroht. Parallel erscheint die Lage im Gazastreifen und im Westjordanland aussichtslos. Was Israel auch unternimmt, es ist immer eine schlechte Option. Gut denkbar, dass der Konflikt doch noch zum Flächenbrand eskaliert. 

Die Deutschen (und auch die Europäer) sind bei beiden kriegerischen Konflikten eher Zaungäste als mitwirkende Mächte. Die relevanten militärischen Entscheidungen werden über ihre Köpfe hinweg in den USA, auch in China und in arabischen Ländern getroffen. Die eher zweitrangige und passive Rolle der Deutschen ist belastend, weil sie den näher rückenden Kriegsfolgen ohne aktive Eingriffsmöglichkeiten ausgeliefert sind. Das war auch bei der anlaufenden Corona-Pandemie und der Inflation eine Belastung. Falls 2024 eine Ausweitung der Kriege eintreten sollte oder ein fauler, ungerechter Waffenstillstand, dann kann das zu einer lähmenden Angstentwicklung führen.

Kurzfristiges Krisenmanagement

Die aktuelle Haushaltskrise zeigt, dass die Ampelregierung kaum noch eine gestaltende Kraft aufbringt. Das Vertrauenskapital der Regierung ist weitgehend aufgebraucht. Eine Besserung ist kaum in Sicht. Kurzatmige Krisenmaßnahmen drohen zur Schnappatmung zu mutieren. 2024 dürften neue Koalitionsstreitereien ausbrechen, insbesondere wenn sich der Siegeszug der AfD fortsetzt und sich am Rande auch noch das Bündnis Sahra Wagenknecht hinzugesellt. Die ideologischen Differenzen zwischen den Ampel-Partnern sind zu groß, als dass die Koalition dem neuen Populismus entschiedene Gegenentwürfe entgegensetzen könnte. Das Vertrauen in die CDU als Alternative ist nicht besonders hoch.

Zudem verschärft sich der ideologische Kulturkampf weiter. In unseren Interviews zeichnet sich jetzt schon ab, dass zwischen den unterschiedlichen weltanschaulichen Haltungen Welten liegen. Vereinfacht gesagt, bestimmen zwei Lager die ideologische Polarisierung: Das linke, „progressive“, grüne Lager verlangt nach einem entschiedenen Kampf gegen die Klimakrise und einer Umwandlung des „zerstörerischen Konsum-Kapitalismus“ in einen nachhaltigen De-Growth-Modus. Gesellschaftsthemen sind die weitere Gender-Emanzipation in Richtung Gender-Fluidity und die Ermächtigung des globalen Südens in der Ära des Postkolonialismus. Die Haltungen driften in linke Vereinfachungen ab, nach denen die internationalen Konzerne an allem schuld sind und eine Besteuerung der Superreichen alle finanziellen und Integrationsprobleme lösen würde.
 

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Welten davon entfernt sind die rechtspopulistischen und nationalistischen Narrative, nach denen Wokeness, Genderwahn, Diversity-Träumereien und die ungezügelte Einwanderung in den Sozialstaat das Fundament der Gesellschaft zerstören. Am nationalkonservativen Wesen soll das Land genesen. Die deutschen Verbrennerautos sollen weiter für alle Zeiten ohne Tempolimit über die Autobahn fahren. Die Kernkraftwerke sollen alle wieder ans Netz, und schon wären alle Energie- und Klimaprobleme gelöst, die von den Grünen ohnedies nur aus „verbohrt ideologischen Gründen“ aufgebauscht würden.

Weil die Europa- und diversen Landtagswahlen sowieso für eine aufgeheizte Stimmung im Jahr 2024 sorgen werden, ist abzusehen, dass sich die beschriebene Polarisierung in unversöhnliche und auch kaum noch kommunizierfähige Weltanschauungen verschärfen wird. Es drohen also amerikanische Verhältnisse, wie der des ideologischen Dauerstreits zwischen Demokraten und Republikanern. Die Begleitmusik des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs zwischen Trump und Biden (den wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten) passt da für 2024 ins Bild.

Auswirkungen der Polarisierung im privaten Alltag

In Italien hat der unversöhnliche Konflikt zwischen rechten und linken Ideologien eine Tradition, die seit den 1950er-Jahren anhält. Eine Grundregel des Soziallebens in Italien besagt, dass man in Alltagskonversationen politische Themen tunlichst vermeiden soll. Wenn sich die Großfamilie zu einem Geburtstagsfest oder ähnlichem trifft, dann redet man besser nur über das fantastische Essen, als dass man das Fest durch Streitereien über politische Themen belastet. Geht es gelegentlich doch einmal schief, dann kann ein Familienfest in Italien auch in stundenlanges Anschreien ausarten. 

In den letzten Jahren wird auch aus den USA berichtet, dass sich das Thanksgiving-Fest zur Belastungsprobe für den Familienfrieden entwickelt. Fängt eventuell der Onkel aus der Provinz damit an, Trump-Parolen zu verbreiten? Im postfaktischen Zeitalter kann man sich auf nichts mehr verständigen. War etwa die Corona-Maske ein unverzichtbarer Schutz oder eine Freiheitsberaubung?

Die genannten Tendenzen in Italien und in den USA nehmen auch zunehmend im deutschen Alltag Einzug. Der Streit in Alltagskonversationen rankt dann beispielsweise um Themen wie „die Krim gehört nun mal zu Russland“/ „Friedensverhandlungen sofort“ oder „die AfD ist ein notwendiges Übel, sonst wachen die Altparteien nicht auf“.

Wunsch nach harmonischem Privatleben

Gerade weil die Stapelkrisen so belastend sind und die Politisierung des Alltags zu unlösbaren Konfliktkonstellationen führt, sehnt sich eine große Mehrheit der Menschen nach Harmonie im Privaten. Auch hier scheinen italienische Lösungsstrategien in die deutsche Lebenswelt einzuziehen. Das gemeinsame Futtern – in Italien Pizza, in Deutschland Blechkuchen – ist der denkbar harmonisierendste Akt. Gespräche ranken um private Freizeitpläne am nächsten Brückentagswochenende – letzteres ein deutsches Symbol für die verdiente kleine Auszeit von aller Last. 

Wo die Krisen und Kriege einen immer mehr zu umzingeln drohen, ist die persönliche Gesunderhaltung umso wichtiger. In diesem Feld bietet die Kultur diverse Fitness- und Balance-Bilder an, sei es Muskelaufbau im Fitnessstudio oder Körperbalance beim Yoga. Die seelische Gesundheit in Form von Work-Life-Balance oder mentaler Renaturierung („Eselspaziergang in Brandenburg“) ist eine weitere Spielwiese der Harmoniesuche.

Schließlich sind noch die diversen Angebote des privaten Freizeit-Eskapismus zu nennen, etwa die nach Corona neu entflammte Reiseeuphorie oder das alltägliche Abhauen in Netflix-Serienwelten. Äußerer Statuskonsum ist dagegen in den 20er-Jahren offenbar nicht mehr so gefragt wie in früheren Konsum-Epochen.

Krisentoleranz und Krisenresilienz 

Ein mögliches Gegenszenario zu der sich steigernden Kriegs- und Krisenbelastung ist es, dass die Deutschen sich über die Jahre immer mehr an die Dauer-, Poly- und Stapelkrise gewöhnen. Für die Krisentoleranz und Krisenresilienz spricht, dass die Menschen lernen, sich effektiv von der Krisenberichterstattung abzuschotten oder sich privat von der Krise abzukoppeln. Nachrichten werden schon jetzt in der jungen Generation immer häufiger nur über Instagram und TikTok konsumiert, also gefiltert durch Einbettung in rosaroten Lifestyle-Glamour und anarchische Unterhaltung.

Wenn die Krise offensichtlich der neue Normalzustand ist, dann zählt umso mehr das „Hurra, wir leben noch!“. Anderen Menschen mag es schlecht gehen, die Ukrainer mögen täglich in den Luftschutzkeller fliehen müssen, aber hier in Düsseldorf oder Nürnberg ist noch nicht so viel angekommen. Entsolidarisierung und Ignoranz könnte man das nennen, aber diese Deutung des psychologisch nachvollziehbaren Selbstschutzverhaltens ist vielleicht doch zu moralisierend. Partiell ist man ja auch mit Betroffenheit dabei, in der fragmentierten Medienwelt fluktuiert diese Empathie jedoch.

Krisenresilienz bedeutet auch, dass man lernt zu unterscheiden, auf welchem Feld man überhaupt etwas gegen die Krise unternehmen kann, also realistisch eingreifen und aktiv tätig werden, und auf welchem Feld nicht. Die naive politische Aufbruchsstimmung und Selbstwirksamkeits-Euphorie der Fridays-for-Future-Bewegung ist längst verflogen, Greta ist fast schon Geschichte. In den Jahren 2023 und 2024 scheinen die Spielräume für Engagement viel enger geworden zu sein. Aber andererseits sind auch die Kapazitäten gewachsen, sich durch die Krise nicht unterkriegen zu lassen.

Gewöhnung an dysfunktionale Systeme

Der Blick nach Italien oder England zeigt, dass die Deutschen noch nicht bei dem stoischen Phlegma angekommen sind, das diese Nationen im Umgang mit dem dysfunktionalen Alltag erlernt haben. Jüngst hat das Boulevardblatt Daily Mirror die Geschichte gebracht, dass eine größere Anzahl ukrainischer Flüchtlinge nach Kiew zurückgekehrt ist, weil sie in dem dortigen Krankenhaus trotz Bombardierung im Krieg schneller an einen Operationstermin herankamen als im englischen NHS-System (Wartezeit dort für Krebsoperationen: ein Jahr und mehr). 

In Berlin habe ich es mehr als einmal erlebt, dass Besucher aus Rom verwundert waren, dass es an der Bushaltestelle einen Fahrplan mit Abfahrtszeiten gab. In Rom waren sie daran gewöhnt, an der Bushaltestelle einfach zu warten. Der Bus würde schon kommen, nach fünf Minuten oder nach einer Stunde, das habe man stoisch und schicksalsergeben abzuwarten. Wir Deutschen leben angesichts der dysfunktionalen Systeme im Alltag noch im Modus der Aufregung, des Dauermotzens und der Skandalisierung. Andere Länder, andere Perspektiven: Die Deutschen empfinden es als Skandal, wenn der Fernzug 20 Minuten zu spät fährt. Die Engländer und Italiener freuen sich dagegen darüber, dass der Zug überhaupt fährt. 

In Deutschland herrscht der naive Glaube vor, Systeme hätten auf jeden Fall zu funktionieren und Regeln müssten eingehalten werden. In vielen unserer Nachbarländer ist man einen Schritt weiter: Man hat verstanden, dass die Systeme im Alltag viel zu komplex, belastet und anfällig sind, als dass sie immer funktionieren könnten. Das Phlegma ist ein Schutz, sich mit dem Mangel, den man eh nicht vermeiden kann, gut zu arrangieren, statt sich ständig vergeblich darüber aufzuregen.

Networking und Tauschhandel als neue Überlebens-Skills 

„Continent isolated!“ hieß einmal die Headline im englischen Boulevardblatt The Sun, als der Schiffsverkehr über den Ärmelkanal wieder einmal wegen Streik eingestellt war. Und Romano Prodi, ein ehemaliger Ministerpräsident, hat die Italiener einmal augenzwinkernd als „das Volk der Zweite-Reihe-Parker“ bezeichnet. Womit wir bei den neuen Skills wären, die für die neuen Zeiten der Stapelkrisen und dysfunktionalen Alltagssysteme psychologisch überlebenswichtig werden. Die Trias von schmerzfreier Resignation, stoischem Phlegma und schamlosem Durchwursteln scheint die neuen Sekundärtugenden für die kommenden Jahre treffend zu umschreiben. 

Daneben wird auch die Kunst des sozialen Networkings zum Überlebensfaktor. Jemanden in der Versicherung zu kennen, der im Notfall mit dem Schadenssachbearbeiter spricht, die Verlegung des neuen Internet-Anschlusses flottzukriegen, weil der Schwager bei der Telekom ist – solche Beispiele zeigen: Wer richtig verdrahtet ist, kann am System vorbei seinen Vorteil realisieren. Damit soll hier nicht eine Lanze für die Alltagskorruption gebrochen werden, wie sie am Ende zum Beispiel Griechenland lahmgelegt hat. 

Es bleibt aber zu vermuten: In Zukunft werden an den dysfunktionalen Systemen vorbei Marktplätze des informellen Tauschhandels entstehen, wie sie immer schon in der darbenden sozialistischen Mangelwirtschaft bekannt waren (West-CDs gegen Trabi-Teile). Glücklich, wer einen Handwerker im Verwandtenkreis hat und Vorzugstermine organisieren kann, wenn im Gegenzug ein Facharzttermin herausspringt. Der Alltag wird unter solchen Vorzeichen sicher komplexer, aber er bleibt spannend.
 

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