Linke Politik - Die Bewältigung von Pseudo-Problemen

Das soeben beschlossene Selbstbestimmungsgesetz ist nicht nur der Sache nach fragwürdig. Es verfestigt auch einen Trend linker Politik, sich an symbolischen Problemen abzuarbeiten, um die kulturelle Deutungshoheit zu erlangen. Das frustriert die Mehrheit der Bevölkerung.

Jährlicher Geschlechtswechsel und legales Kiffen: Wen stören da noch Rezession und Zensurgesetze? / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Es ist ja nicht so, als ob wir in Deutschland keine Probleme hätten: wirtschaftliche Rezession, Industrieabwanderung, hohe Energiepreise, kollabierende Infrastruktur, ein Krieg vor der eigenen osteuropäischen Haustür, implodierende Rentenkassen, überforderte Sozialsysteme, unkontrollierte Masseneinwanderung, nicht integrierte Zuwanderer. Es gäbe also genug zu tun. Könnte man meinen.

Doch offensichtlich sind aus Sicht der politischen Linken diese Probleme gar keine ernsthaften Probleme. Oder vielleicht sogar gar keine Probleme. Denn mit größter Akribie und entsprechendem Fanatismus widmet man sich stattdessen der Erfindung angeblich viel dringenderer Probleme, von denen, glaubt man dem Getöse, das um sie gemacht wird, offensichtlich Wohl und Wehe der Menschheit abhängt.

Eines dieser aufgebauschten Probleme wurde gestern im Bundestag debattiert: das Transgenderthema in Form des sogenannten Selbstbestimmungsgesetzes. Es ist noch keine fünfzehn Jahre her, da war – so der Fachausdruck – Geschlechtsdysphorie allenfalls ein Nischenthema einer sehr kleinen Nische. Inzwischen hat sich unter dem Einfluss von NGOs, politischen Netzwerken, universitären Ideologien und vor allem den sozialen Medien, die das Thema zu einer Lifestyle-Frage für identitätskriselnde Jugendliche hochjazzen, die Anzahl genderdysphorischer Jugendlicher vertausendfacht.

Das Gender-Thema hat im Alltag niemand vermisst

Das ist nur möglich, weil das Thema derzeit angesagt ist und die betroffenen Jugendlichen das bekommen, wonach viele in diesem Alter sich sehnen: Aufmerksamkeit, Individualität, Sinn. Massiv forciert wird dieser Trend dadurch, dass aktivistische Vorstellungen in die Politik eingespeist wurden – und die bürgerlichen Parteien, auch das ein sich wiederholendes Muster, dem Unsinn keinen Riegel vorgeschoben haben. Nun also darf man einmal im Jahr sein Geschlecht wechseln – es ist zum Totlachen.

Ein weiteres Pseudo-Problem, das unsere Gesellschaft beschäftigt und für Konflikte sorgt, obwohl es zutiefst belanglos ist, ist die sogenannte Gendersprache. Noch vor zwei Jahrzehnten waren Binnen-I, Gender-Sternchen und Unterstriche allenfalls das Privileg von feministischen Asta-Ausschüssen oder entsprechenden autonomen Uni-Cafés.

 

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Über politische Parteien, Initiativen, NGOs und vor allem die Medien wurde das Thema jedoch massiv in den Alltag gedrückt, obwohl es dort von niemandem vermisst wurde. Gleiches gilt übrigens für die Verwendung angeblich diskriminierender Ausdrücke.

In dieselbe Kategorie der künstlich geschaffenen Probleme fällt auch die Cannabis-Legalisierung. Verfolgte man die Diskussion in den Wochen vor Inkrafttreten des Gesetzes, konnte man meinen, dass die Freiheit dieses Landes und seine Modernität davon abhängen, dass alle legal kiffen dürfen.

Die Strategie ist dank des Versagens liberaler und konservativer Parteien erfolgreich

Aber das ist natürlich nicht der Fall. Vielmehr wurde ein Symbolthema zur Schlüsselfrage einer freiheitlichen Gesellschaft hochgefahren, während Frau Faeser und Frau Paus die Debattenräume mit staatlichen Mitteln einschränken und unliebsame Meinungen kriminalisieren wollen.

Das Paradefeld überflüssiger Debatten aus ideologischen Gründen ist jedoch die Bildungspolitik. Angefangen bei den Bildungsexperimenten seit den 60er Jahren über die schrittweise Ersetzung der deutschen Normalschrift erst durch die vereinfachte Ausgangsschrift und schließlich die Grundschrift in Druckbuchstaben bis hin zur Abschaffung des Fehlerquotienten bei Schulaufsätzen – im Grunde wird hier an Problemen herumgedoktert, die man ohne die Reformen, die sie beseitigen sollen, nie gehabt hätte.

War es früher mal ein Aushängeschild linker Parteien, handfeste Probleme deutlich zu benennen, so hat sich die politische Linke in den letzten Jahrzehnten auf Symbolpolitik verlegt. Man will nicht mehr die Probleme lösen, sondern verlegt sich auf Nischenfragen, mit deren Hilfe man das traditionelle Normgefüge bürgerlicher Gesellschaften aushebeln kann, um so die politische Deutungshoheit zu erringen. Tatsächlich ist diese Strategie dank des Versagens liberaler und konservativer Parteien auch erfolgreich. Der Preis ist eine Spaltung der Gesellschaft und politische Frustration.

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