40 Jahre Grüne im Bundestag - „Unser Gegengift lautet Realismus"

Aus den anfänglichen grünen Exoten ist seit 1983 eine etablierte Partei geworden. Trotz inhaltlicher Differenzen regieren aktuell vier von fünf CDU Ministerpräsidenten mit den Grünen. Wie sich seine Partei von grünen Dystopien abgrenzen muss, erklärt Carsten Linnemann, stellvertretender Parteivorsitzender der CDU, im Interview.

Carsten Linnemann sieht in grüner Politik „ den Geist von „Du-darfst-das-nicht-mehr“/ dpa
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Carsten Linnemann ist Vize-Chef der CDU. Bei der vergangenen Bundestagswahl holte er das Direktmandat im Wahlkreis Paderborn.

Herr Linnemann, vor 40 Jahren wurden die Grünen in den Bundestag gewählt. Gratulieren Sie zum Jubiläum?

Selbstverständlich gratuliere ich. Wir können dankbar sein, dass wir in einer Demokratie leben. Dazu gehören Parteien mit unterschiedlichen Programmen und Positionen. Deswegen: Herzlichen Glückwunsch!  

Was haben die Grünen in den 40 Jahren geleistet?

Auf der einen Seite haben sie natürlich das Thema Umwelt- und Klimaschutz befördert. Sie haben sich in diesem Feld Glaubwürdigkeit erarbeitet. Auf der anderen Seite erleben wir, dass sie in der praktischen Politik teilweise ideologisch und sehr weit weg von den Bürgern agieren. Die Grünen machen Politik mit einem anderen Gesellschaftsbild, als wir es zum Beispiel in der CDU tun.

Hat der Bürgerschreck nicht längst seinen Schrecken verloren? Was meinen Sie konkret?

Auch wenn nicht mehr die alten Revolutionslieder gesungen werden, die Grünen wollen ein anderes Land. Ihre Politik atmet den Geist von „Du-darfst-das-nicht-mehr“. Wir trauen den Menschen etwas zu, die Grünen wollen sie in ihrem Sinne erziehen. Beispiel: die Debatte um das Verbot von Gas- und Ölheizungen. Sie glauben gar nicht, wie viele E-Mails ich von völlig verunsicherten Bürgern dazu bekam. „In welcher Welt lebt ihr eigentlich“, war noch der harmloseste Vorwurf. Es würden Handwerker und Wärmepumpen fehlen, alles sei unausgegoren.

 

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Helmut Kohl sah die Grünen noch als eine Übergangserscheinung und wollte sie aussitzen. Das ist lange her. Heute regieren vier von fünf CDU-Ministerpräsidenten mit den Grünen. Also, so fern sind sich beide doch nicht mehr?

Die Wahlergebnisse ließen meist kein anderes Bündnis zu. Für mich wäre immer noch Schwarz-Gelb der Favorit. Und deshalb bin ich kein Freund davon, dass wir uns daran gewöhnen, auf Mehrheiten mit den Grünen zu schielen. Ich wünsche mir eine CDU, die Optimismus und Realismus ausstrahlt, nicht grüne Dystopie und Ideologie.

Aber da liegt doch der Kern des Problems, die Grünen scheinen zwar Hauptgegner der CDU zu sein, aber zugleich ist Schwarz-Grün die einzige Machtoption und eine Art Zukunftsmodell, siehe Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Hessen.

Dann müssen wir daran arbeiten, dass es noch andere Optionen gibt. So einfach ist das. Die CDU setzt beim Individuum an, nicht beim Kollektiv wie die Grünen. Welche Zukunft wollen wir für das Auto? Wir wollen Individualverkehr, wir verteufeln nicht den Verbrennungsmotor. Wir sind offen für neue Technologien. Oder nehmen Sie die Ernährung. Wir wollen gesunde Ernährung für unsere Kinder, aber keine Bevormundung, was beispielsweise Süßigkeiten angeht. Oder Energiepolitik: Wir brauchen billige Energie für den Industriestandort Deutschland. Dazu passt aber nicht, aus mehreren Technologien mit Grundlastfähigkeit gleichzeitig aussteigen zu wollen.

Trotzdem gibt es gerade in den Städten inzwischen so eine Art grünen Mainstream. Was ist denn das Gegengift der CDU gegen diese grüne Diskurshegemonie?

Unser Gegengift lautet Realismus. Wir erarbeiten ein neues Grundsatzprogramm für die CDU, und ich achte extrem darauf, dass wir nicht moralisieren, sondern wirklich bei den Fakten bleiben und dann aufgrund unserer Werte Positionen entwickeln und Lösungen vorschlagen. Das ist ein ganz anderer Ansatz als bei den Grünen. Bei denen steht die Wunschvorstellung im Zentrum, und dann muss sich alles unterordnen. Und am Ende stehen scheinheilige Lösungen. Nehmen Sie das Beispiel Landwirtschaft. In Deutschland wurde schon vor langer Zeit die Käfighaltung von Legehennen verboten. Nun ist unsere Idylle vom glücklichen Huhn gewahrt, weil unser Frühstücksei nicht aus dem Käfig kommt. Aber der Großteil der Eier in verarbeiteten Lebensmitteln kommt jetzt aus Osteuropa, von Tieren aus der Käfighaltung mit relativ schlechten Tierschutzstandards. Wir stehen jetzt in Deutschland vermeintlich moralisch gut da, aber in Wahrheit machen wir uns etwas vor.

Gleichwohl ist Schwarz-Grün aber längst eine Realität, und es gibt eine andere Strategie, die es in der CDU auch schon immer gab: Veränderung durch Anschmiegen. Nach dem Motto: So schlimm sind die Grünen nicht, wenn wir mit ihnen regieren.

Natürlich braucht man am Ende Partner, um Mehrheiten zu organisieren. Das weiß jeder. Aber vorher braucht es 100 Prozent Union! Wir dürfen nicht vorher schon den Kompromiss schmieden und versuchen, damit allen zu gefallen. Das führt uns nur in die Sackgasse. Wir müssen Politik aus unserem Wertesystem heraus entwickeln und dann Menschen überzeugen wollen. Wir haben eine klare Orientierung: Erstens gehen wir vom Einzelnen aus und nicht vom Kollektiv. Zweitens begreifen wir uns als Teil von etwas Größerem, das wir nicht komplett überblicken können, deswegen geben wir nur vorletzte Antworten und verkünden keine absoluten und endgültigen Wahrheiten. Drittens orientieren wir uns an Solidarität und Subsidiarität, wir wollen die Eigenverantwortung stärken und den Schwachen helfen. Allein anhand dieser drei Punkte unterscheiden wir uns von allen Mitbewerbern deutlich.

Gibt es ein konkretes Beispiel aus der aktuellen Politik?

Nehmen Sie das Bürgergeld. Allein der Begriff zeigt, wie weit wir von den Grünen entfernt sind. Der Begriff suggeriert, jeder Bürger bekommt dieses Geld. Das Bürgergeld ist nichts anderes als eine Vorstufe zum bedingungslosen Grundeinkommen. Wir betonen vielmehr, dass zunächst jeder für sich selbst sorgen muss, bevor die Gemeinschaft einspringt. Was die Grünen, aber auch die SPD und die Linken immer wieder vergessen: Bevor Geld verteilt werden kann, muss es erst erwirtschaftet werden. Das Geld erwirtschaftet aber nicht der Staat, sondern derjenige, der Steuern zahlt.

Und doch entsteht durch diese schwarz-grünen Bündnisse in den Ländern eine Art Beißhemmung in Ihrer Partei, oder?

Es ist doch total normal, dass ein Ministerpräsident schauen muss, dass er den Laden zusammenhält. Insofern macht beispielsweise mein Landesvorsitzender Hendrik Wüst das total richtig. Aber es muss in der Partei auch Leute geben, die stärker die Unterschiede herausarbeiten, und dafür machen wir den Grundsatzprogramm-Prozess. Letztlich kann man nur gut in Koalitionen gehen, wenn man weiß, woher man kommt und von wo aus man auf den anderen zugehen will.

Warum sind eigentlich die Grünen in bestimmten Milieus so attraktiv?

Ich bin davon überzeugt, dass in bestimmten Kreisen in Deutschland das Verständnis und die Sensibilität dafür verloren gegangen ist, woher unser Wohlstand kommt und wie er erarbeitet wird. Viele beschäftigen sich nur noch mit der Frage „wie“ wir in Zukunft leben wollen und eben nicht mehr mit der Frage, „wovon“ wir eigentlich leben wollen. Erst wenn der Industriestandort Deutschland nicht mehr da ist und die Auswirkungen richtig spürbar sind, wird für viele wieder ein Umdenken erfolgen. Dann wird es nämlich nur noch Verlierer geben, nicht zuletzt das Klima selbst. Denn wenn wir selbst nicht mit besten Beispiel vorangehen, wird niemand in der Welt uns nachahmen wollen. Soweit darf es aber nicht kommen.

Fragen: Volker Resing

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