Klaus Stöhr zu Corona-Maßnahmen im Herbst - „Deutschland sollte dringend zurück zur Verhältnismäßigkeit kommen“

2G, 3G, Testpflicht, Maske, Kontaktbeschränkungen: Der Sommer hat kaum begonnen, schon werden die Rufe nach Verbotsinstrumenten zur Bewältigung einer Corona-Welle im Herbst wieder lauter. Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen werden nervös: Man müsse jetzt doch nur (wieder) schnell die Gesetze ändern – und da spricht ja wohl nichts dagegen, oder? Doch, sagt Epidemiologe Klaus Stöhr. Und räumt mit ein paar Vorurteilen auf.

Erfahrungswerte: Von 2001 bis 2006 leitete Klaus Stöhr das globale Influenzaprogramm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) / dpa (Archivbild)
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Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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Klaus Stöhr ist einer der bekanntesten und profiliertesten Epidemiologen Deutschlands und neues Mitglied der Sachverständigenkommission zur Evaluation der Corona-Maßnahmen. Von 2001 bis 2006 leitete er das globale Influenzaprogramm der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Der Herbst rückt näher. „Winter is coming“, heißt es in der US-Erfolgsserie „Game of Thrones“ – ein Satz, der es auch schon einmal auf eine von Markus Söders Teetassen geschafft hat, die der bayerische Ministerpräsident gerne publikumswirksam mit populärkulturellen Motiven schmückt. Der Freistaat war immer ganz vorne mit dabei, wenn es um anscheinend ebenso publikumswirksame Pandemie-Maßnahmen mit teilweise unverhältnismäßigen Grundrechtseinschränkungen ging.

Und auch diesmal ist Bayern eines jener Bundesländer, die schon im Vorfeld der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) als Speerspitze der Pandemic Preparedness mit der Forderung nach einem Verbots-Werkzeugkasten voranpreschten. Die Allianz aus Bayern, NRW, Hessen und Baden-Württemberg will unbedingt schon jetzt „schnell die gesetzlichen Voraussetzungen“ schaffen, um die drohende nächste Welle zu brechen. Auch der Städtetag hatte im Vorfeld der GMK eine schnelle Anpassung des Infektionsschutzgesetzes gefordert.

Abgesehen davon, dass „schnelle“ Gesetzesänderungen im politischen wie im populärkulturellen Gedächtnis als Warnsignal ebenso angekommen sein müssten wie Motive Söderscher Teetassen: Waren wir nicht schon einen Schritt weiter? Und wie war das nochmal mit der Evidenz? Ein Gespräch mit dem Epidemiologen Klaus Stöhr.

Herr Stöhr, unter den Ländern, die jetzt das Infektionsschutzgesetz erneut ändern wollen, ist auch Baden-Württemberg. Deshalb bemerkenswert, weil gerade von dort der Ruf nach einem Übergang in die endemische Phase kam.

Ja, wir hatten ja darüber gesprochen. Die Gesundheitsämter haben die Situation damals schon richtig eingeschätzt. Wir sind am Ende der Phase, in der wir mit Containment noch etwas erreichen. Das Virus lässt sich nicht aufhalten und zirkuliert bereits frei. Früher oder später wird leider jeder infiziert. Solange das Allgemeinwohl durch Überlastung des Gesundheitswesens nicht gefährdet ist, verschieben wir mit diesen Maßnahmen diesen Zeitpunkt nur nach hinten, ohne am Ergebnis der Infektion des Einzelnen etwas zu ändern.

Karl Lauterbach / dpa

Auch nicht mit Masken? Karl Lauterbach fordert ja schon jetzt zum Tragen auf und hat außerdem eine „O-bis-O-Regel“ angeregt, also eine regelmäßig wiederkehrende Maskenpflicht von Oktober bis Ostern.

Das ist – Entschuldigung – Quatsch. Man macht keine kalenderbezogene Pandemiebekämpfung. Masken und Abstand waren am Anfang der Pandemie vernünftig und sinnvoll, als es darum ging, Erstinfektionen bis zur Impfstoffverfügbarkeit zu verschieben. Jetzt im Sommer, nachdem alle ein Impfangebot hatten, sind sie kontraproduktiv, weil sie durch das Hinauszögern in der Allgemeinbevölkerung für eine größere Winterwelle sorgen werden. Und: Nicht die Inzidenz ist der Handlungsparameter, sondern laut Gesetz die Hospitalisierungsrate: und die ist stabil. Also warum jetzt nach Masken rufen? Deutschland steht mit dieser Sicht auch ziemlich alleine da. Die Schweiz hat schon Anfang des Jahres die meisten Maßnahmen aufgehoben, das Gleiche gilt für Dänemark, Schweden oder Spanien. Wir sollten in Deutschland dringend zurück zur Verhältnismäßigkeit kommen.

Die Schweiz hat im April auch die Maskenpflicht im ÖPNV abgeschafft. Und hat aktuell niedrigere Inzidenzen als Deutschland, wo noch FFP2-Pflicht gilt. 

Das ist richtig, spielt aber anscheinend für die Politik keine Rolle. Wobei die Aussagekraft der Inzidenzwerte, wie Sie wissen, ja äußerst begrenzt ist. Dass es bei uns überhaupt noch eine FFP2-Masken Pflicht gibt, ist nicht nachvollziehbar.   

FFP2-Masken sind sicherer als medizinische Masken, heißt es.   

Das stimmt im Einzelfall, aber nicht für die breite Bevölkerung: FFP2-Masken haben wegen der Passform beim Infektionsschutz eine geringere Wirkung als medizinische Masken. Laut der deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene sind sie für den Einsatz gegen Atemwegserkrankungen sogar kontraindiziert und schaden mehr als sie nützen. Ich habe kürzlich mit Bundestagsabgeordneten in Ausschüssen gesprochen, die waren ganz baff und erstaunt, dass das so ist. Offensichtlich wissen die Wenigsten das; schauen Sie sich doch mal um, zum Beispiel in der Bahn oder im Bus, wie die FFP2-Masken getragen werden und wie die Größen passen.

Die Wenigsten wissen auch, dass die WHO erst seit dem 5. Juni 2020 den Einsatz von medizinischen Masken zur Prävention empfiehlt. Die Empfehlung galt vormals nur für Erkrankte und Menschen, die Erkrankte pflegen.   

Da haben Sie Recht. Seit Corona hat eine Neubewertung stattgefunden. Konsens war zuvor, dass medizinische Masken bei Atemwegserkrankungen, die sich über Aerosole ausbreiten, eine untergeordnete Rolle spielen. Man hat den Fokus eher auf Schmierinfektionen gelegt. Das war auch für gestandene Epidemiologen wie mich und sicherlich auch für meinen vormaligen Kollegen Mike Ryan (Direktor des Health Emergencies Programme der WHO; Anm. d. Red.) ein in Stein gemeißeltes Grundwissen. 

Und das hat sich so plötzlich gewandelt? 

Wissen Sie, der Grundsatz, die Essenz für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung ist: Theoretisches Fachwissen, multidisziplinäre Erfahrungen und angewandte Seuchenhygiene. Die Erfahrung räumt mit den Widersprüchen aus der Theorie auf. Und in dem Fall muss ich sagen, dass auch ich die Wirksamkeit von medizinischen Masken unterschätzt habe.  

 

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Sie sind seit kurzem Mitglied der Sachverständigenkommission zur Evaluation der Corona-Maßnahmen und ersetzen damit Christian Drosten, der das Gremium Ende April verlassen hat. Karl Lauterbach sagte vor ein paar Tagen im ARD-Morgenmagazin, dass er mit einem „guten Bericht“ der Kommission rechne und das erwartete „Drama“ ausbleiben werde. Das ist also schon klar?   

Es ist mir nicht verständlich, woher er das wissen kann. Auf keinen Fall geht es konform mit meinem Verständnis der Geschäftsordnung der Kommission, dass Interna nicht nach außen getragen werden. Und wenn er etwas gehört hat, ist es Interimswissen, das braucht alles seine Zeit. Aber als Mitglied kann ich Ihnen auch keine Einzeldetails preisgeben. 

Schade. Der Vorsitzende der Kommission, Stefan Huster, hat erst kürzlich mit dem Spiegel gesprochen. Und ziemlich klare Ansagen gemacht.

Meine Beobachtung ist: Alle, die darüber sprechen, wollen entweder den Bericht in seiner Aussagekraft reduzieren, oder jetzt schon Ergebnisse in eine Richtung kanalisieren, die „Politik-genehm“ ist. Das entspricht nicht meinem Anspruch an diesen Bericht. 

Der da wäre?

Dass auf der Grundlage gesicherter, belastbarer, wissenschaftlicher Erkenntnisse in Kombination mit angewandter Erfahrung konkrete, kurz- und mittelfristige Empfehlungen ausgeben werden, welche Maßnahmen zum Infektionsschutz mehr und welche weniger eingesetzt werden sollen. Ich bin der Meinung, dass dafür auch die beteiligten Krisenmanagement-Organe, Prozesse, und Mechanismen der Umsetzung, der Kommunikation der Maßnahmen evaluiert werden müssen. Wir müssen uns die ganze Infrastruktur anschauen, mit der das Krisenmanagement organisiert wurde.

Christian Dürr / dpa

FDP-Fraktionschef Christian Dürr will ja die für den 30. Juni geplante Veröffentlichung des Berichts abwarten, bevor neue Maßnahmen beschlossen werden. Die FDP wird deshalb als „Bremse“ dargestellt. Aber Maßnahmen können ja auch wirken, wenn es keine Evidenz dafür gibt. Das sagt zumindest die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt von der Süddeutschen Zeitung

Ich kenne diese Aussage. Sie müssen natürlich zwei Situationen unterscheiden: Einerseits muss man im Krisenmanagment oftmals ohne belastbare Daten agieren. Aber: Dann braucht es auch ein begleitendes Forschungskonzept zur Evaluation, das zur Anpassung der Maßnahmen oder eben bei der nächsten vergleichbaren Situation herangezogen wird. Darum hat man sich in Deutschland aber wenig gekümmert. Eine Datengrundlage und ein einheitliches, auch international abgestimmtes Forschungskonzept, um die drängenden epidemiologischen und diagnostischen Fragen zu klären, fehlen noch immer. 

Aber die sogenannte Bundesnotbremse war doch ziemlich einheitlich, oder? 

Sie war ein Schritt in Richtung abgestimmter Stufenplan mit Parametern, an die bestimmte Maßnahmen gebunden sind. Das kann die Hospitalisierung sein oder die Belegung von Intensivstationen. Wichtig ist, dass gilt: wenn Stufe X erreicht ist, folgt Maßnahme Y. Und zwar je nach regionalem Infektionsgeschehen. Zu erwarten, dass in allen Bundesländern immer der gleiche Infektionsdruck herrscht und damit die gleichen Maßnahmen angezeigt sind, ist naiv. Aber bei vergleichbaren Situationen in unterschiedlichen Bundesländern, sollten gleiche Maßnahmen umgesetzt werden, ob auf Sylt oder in Bayern. 

Was die Parameter angeht: Die haben sich nicht zuletzt aufgrund gewisser Anreizstrukturen vielfach als zumindest zweifelhaft erwiesen – ob Intensivbetten, Hospitalisierung oder millionenschwerer Betrug mit Corona-Tests ...

Das stimmt. Aber legale Schlupflöcher zu finden, liegt wohl in der menschlichen Natur. So etwas lässt sich ja schon vorhersagen und mit einer guten begleitenden Evaluierung reduzieren. Aber ich kann nicht wegen der, sagen wir mal, „Kreativität“ der Menschen auf Regeln und Kriterien verzichten. Weil Sie die Hospitalisierung ansprechen: In Deutschland berichten Krankenhäuser gegenwärtig von über 60 bis 90 Prozent Patienten, die „mit“ statt „wegen“ Corona eingeliefert, also erst im Krankenhaus positiv getestet wurden. Das zeigt wie weit das Virus bereits unentdeckt in der Bevölkerung zirkuliert. Übrigens: in Südafrika war das ähnlich, nach dem Beginn der Omikron-Welle.

Trotzdem gibt es angesichts der meist milden Verläufe derzeit keinen Grund zur Panik. Auch wenn die Rede von einer „Sommerwelle“ mit Inzidenzen über 100.000 einen anderen Eindruck erwecken könnte, oder?

Dass man jetzt so viel Corona findet, liegt aber daran, dass man weiterhin asymptomatische Personen massenhaft testet, also aktiv danach sucht. Gegenwärtig liegen mehr Kinder mit RSV (Respiratorische Synzytial-Viren) im Krankenhaus als mit Corona. Wir könnten jetzt auch anfangen, alle Kinder auf RSV zu testen. Das wäre aber nicht kompatibel mit der jahrzehntelangen Praxis und würde auch keinen Therapievorteil bringen. Genauso ist es jetzt auch mit Corona: Man muss unterschieden zwischen Endemie und Pandemie. Anlassloses Testen von Asymptomatischen passt nicht in die gegenwärtige Phase. Am Anfang war das notwendig, aber mit Quarantäne und Isolierung, die die Viruszirkulation nicht beeinflussen kann, ist das mittlerweile nicht mehr so. Das ist es bei Influenza oder anderen Atemwegserkrankungen ja auch nicht. 

Aber das kann ja noch kommen. Pro Tag sterben in Deutschland durchschnittlich rund 2.500 Menschen. Da gibt es noch viele Todesfälle zu verhindern. Hat die Corona-Krise nicht zu einem Paradigmenwechsel geführt, in dem das – bislang noch für alle kostenlose – Testen für Früherkennung, für Prävention, für „Preparedness“ steht? 

Also zuerst: Die wenigsten der täglich circa 2.500 Sterbefälle sind durch Atemwegserkrankungen verursacht. Aber: Nein, es gab keinen Paradigmenwechsel. Bei einer Endemie sind Tests nur dann angezeigt, wenn das Ergebnis einen Vorteil bei der klinischen Behandlung des Patienten bringt. Das heißt, ob jemand zum Beispiel mit einer viralen Pneumonie oder mit Corona kommt, ändert nichts daran, dass man symptomatisch therapiert, also versucht, die lebenswichtigen Organe zu erhalten – die Diagnostik ändert nichts an der Therapie. Es gibt aber auch andere Fälle, in denen die Diagnostik die Behandlung stützen kann, zum Beispiel bei den sogenannten Risikopatienten wie Alten, Übergewichtigen, Diabetikern, und Rauchern. Wenn ein Test da Corona-positiv ist, gibt man dem Patienten vielleicht eher spezielle Medikamente, wie zum Beispiel Paxlovid.

Der Großteil der politischen Parteien und Behörden hält aber an der Impfung als dem einzigen Weg aus der Pandemie fest, obwohl auch Lauterbach mittlerweile das „Post-Vac-Syndrom“ und mögliche Risiken der Impfung anerkennt. 

Die Impfung ist wichtig, aber die natürliche Immunisierung wird den „Exit“ in die Endemie ermöglichen. Rein epidemiologisch, wird Corona sehr bald eine wiederkehrende, saisonale Atemwegserkrankung sein, von der hauptsächlich vulnerable Personengruppen stärker betroffen sind. Allerdings gibt es aktuell noch viele, die ihre Infektion noch nicht hatten. Die wird aber notwendig sein für einen breiten Immunschutz. Die Impfung reduziert die Auswirkungen der Erstinfektion, der Booster die der Reinfektion und die natürliche Infektion komplettiert den Immunschutz. Dafür braucht es nicht nur das Oberflächen-(Spike-)Protein sondern auch die andern Virusproteine. Letztendlich beendet das Virus die Pandemie, nicht die Impfung.

Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Janosch Dahmen, will sich jetzt aber für den zweiten Booster, die vierte Impfung, einsetzen. Und Karl Lauterbach hat empfohlen, „großzügig“ mit der vierten Impfung umzugehen.

Die vierte Impfung für alle im Sommer ist medizinisch unvernünftig. Die Wirkung ist besonders bei den Jüngeren kurz und gering und im Herbst auch für die Älteren verpufft. Dann müssten die Vulnerablen die fünfte Impfung bekommen in Vorbereitung auf den Winter? Mit nach den vielen Boostern vielleicht schlechterer Immunantwort vor der Saison mit dem höchsten Ansteckungsrisiko? Außerdem: Es gibt gute Studien aus Israel, die darauf hindeuten, dass der beste Immunschutz aus einer Kombination aus Impfung und Infektion rührt und dass die Infektion allein auch noch besser abschneidet als die Grundimmunisierung.

Nicht wenige Studien kommen sogar zu dem Schluss, dass die natürliche Immunität der Impfung insgesamt überlegen ist. 

Klar, aber verstehen Sie mich nicht falsch: Die Impfung sollte besonders für die Vulnerablen vor der Infektion kommen. Für die Leute, die eine Infektion überleben, zeigen Studien, dass sie drei mal mehr schützend als das reine Impfen und Boostern ist. Besonders für Jüngere ist der Vorteil marginal. Aber es gibt halt auch diejenigen, die eine Infektion nicht überleben. Deshalb zuerst impfen.    

Selbst Christian Drosten hat kürzlich wiederholt, dass er sich nicht ewig boostern lassen will. Und der Immunologe Andreas Radbruch warnt vor einer Art immunologischer Übersättigung, gar vor einer langfristig schlechteren Immunantwort.

Völlig zu Recht. Für die vierte Impfung gibt es eindeutige Belege, dass nur eine geringfügig höhere Antikörperkonzentration erreicht wird, und die ist von kurzer Dauer, vor allem für Jüngere. Mutmaßlich nach zwei Monaten ist der Vorteil durch die Impfung verschwunden. Deshalb macht ein Booster ja im Sommer so wenig Sinn, außer für die Höchstvulnerablen wie zum Beispiel Personen vor einer Krebstherapie oder andere Immunsupprimierte.

Für die Beendigung der Schweinegrippe hat sich die WHO 2009 unter anderem auf die hohe Populationsimmunität berufen. In Deutschland gibt es keine Untersuchungen, die aktuell entsprechende Rückschlüsse erlauben, heißt es. 

Ja, das Bundesgesundheitsministerium hat ja auf die Anfrage von FDP-Vize Wolfgang Kubicki geantwortet, dass der „reine Nachweis des Antikörperstatus keine Aussagekraft bezüglich der Ausprägung des Immunschutzes“ hat. 

WHO-Chef Tedros / dpa

Dieses Argument ist Cicero-Lesern bekannt. Es wurde auch bei der (mutmaßlich bereits vor Sars-CoV-2 bestehenden) T-Zell-Immunität vorgebracht, zu der die Website ich-bin-schon-immun.de eigenständig Daten erhoben und erst vor kurzem veröffentlicht hat. Wie kommt es dann aber, dass sich Großbritannien in Bezug auf eine „hybride“ (Herden-)Immunität trotzdem darauf beruft

Was T-Zellen-Untersuchungen angeht, sind wir wieder bei der Diskrepanz zwischen Laborforschern und angewandter Seuchenbekämpfung: Was nützt die Information, wenn die Untersuchung immer noch teurer ist als die Immunisierung und auch nur in sehr wenigen Fällen Therapieentscheidungen beeinflusst? Es gibt kein Korrelat zwischen T-Zellen, Antikörpern und Immunschutz, auch wenn das bei Hinweisen auf die Impfeffektivität herangezogen wird. Aber eigentlich ist dieses Argument, dass ein Schwellenwert fehlt, eine Ausrede. 

Warum?

Bei so einer Antikörper-Studie geht es ja in erster Linie nicht um den Schutzstatus von Einzelpersonen, sondern darum, welche Personengruppen noch keine Antikörper haben. Darüber lässt sich die Immunitätslücke bestimmen und eine angepasste, zielorientierte Impfkampagne für den Herbst aufbauen, bei der man dann denjenigen noch ein Impfangebot macht, die besonders gefährdet sind. Statt einer gezielten Impfkampagne verschwenden wir Steuergelder für Impfstofflieferungen, von denen man schon vorab garantieren kann, dass sie verfallen. Normalerweise prüft das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Auftrag der gesetzlichen Krankenversicherungen Medikamente- und Impfstoffeinführungen auf deren gesundheitsökonomische Vernünftigkeit. Für Corona scheint das außer Kraft gesetzt zu sein. Und wohl auch für die Affenpocken: Ansonsten hätte das BMG nicht 240.000 Impfdosen bestellt. 

Das war nicht nötig? Immerhin hat die WHO erwogen, wegen der Affenpocken die erneute Ausrufung des Internationalen Gesundheitsnotfalls zu prüfen. 

Nein, die Affenpocken sind eine Erkrankung, die sich durch Hygienemaßnahmen, Quarantäne und Isolierung gut regulieren lässt; die auch ohne Maßnahmen irgendwann „ausbrennen“ würde, weil ihr Reservoir bei Tieren ist. Bei damals weniger als 300 Fällen in Deutschland und, angenommen, 50 Kontakten pro Person und 20 Prozent Impfwilligen, hätten sicher 5.000 Dosen gereicht. Ich frage mich, ob solche Aktionen nicht den Bundesrechnungshof auf den Plan rufen. Was die WHO angeht: Das hat sie nicht selbst erwogen, da haben eher die Mitgliedsländer Druck auf die WHO ausgeübt, damit der Expertenrat tagt. 

Wo wir gerade bei der WHO sind: Auf dem G20-Gipfel wird erneut unter anderem darüber beraten, die Befugnisse der WHO zu erweitern und den Einsatz der (nicht immer echten) digitalen Impfzertifikate auszuweiten. Im Entwurf für einen Pandemievertrag sind auch Massentestungen als besagte Frühwarninstrumente aufgeführt.  

Dazu kann ich nur sagen: Pandemien werden nicht durch Testen gefunden. Dieser einseitige Fokus auf die Diagnostik geht an der Realität vorbei. Es ist illusorisch zu glauben, dass man die Laborkapazität in allen Ländern – und vor allem solchen, in denen die Zoonose-Gefahr hoch ist – für eine permanente, flächendeckende Diagnostik für unbekannte Erreger aufbauen und halten kann. Das ist Humbug, irrational. Die Infrastruktur der WHO beruht auf der Realität. Darauf, dass neue Infektionserreger zuerst durch atypische Erkrankungen und Ausbrüche gefunden werden. Die gilt es schnell zu finden und dafür hat die WHO ein weltumspannendes System etabliert. Diese International Health Regulations liefern den rechtlichen Rahmen für die internationale Entdeckung, Bekämpfung und Berichterstattung von neuen Infektionserkrankungen. Sie schließen auch sogenannte „Focal Points“ in fast jedem Land ein, die gemeinsam mit der WHO bei ungewöhnlichen Ausbruchsgeschehen aktiv werden und dann die labortechnische Untersuchungen einleiten und auch die Bekämpfung vor Ort initiieren.

Naja, aber die Maskenpflicht ist ja nicht das einzige Prinzip, mit dem die UN-Behörde in der Corona-Krise anscheinend gebrochen hat: Lockdowns und anlasslose Massentestungen waren in der Pandemiebekämpfung ja vorher auch nicht üblich. Auf dem G20-Gipfel wird zudem erneut über einen Financial Intermediary Fund (FIF) beraten, mit dem Anreize geschaffen werden könnten, Direktiven der WHO stärker Folge zu leisten – ob sie nun evidenzbasiert sind oder eher interessengeleitet anmuten. Ist das noch die WHO, bei der Sie einmal gearbeitet haben?

Sicherlich muss man die existierende WHO-Infrastruktur stärken und weiter entwickeln, aber für die Pandemieentdeckung sind routinemäßige Probenentnahmen und diagnostische Daueruntersuchungen nicht geeignet. Dafür braucht es ein globales Überwachungssystem, das Ausbrüche erkennt, untersucht und darüber international informiert. Den rechtlichen Rahmen und die Instrumente für die 196 beteiligten Länder liefern hier die International Health Regulations. Dass diese groß angekündigten Pläne für einen Pandemiepakt die Herangehensweisen und Infrastrukturen der WHO für die Erkennung von Pandemien also grundlegend verändern, halte ich aus Plausibilitätsgründen nicht für vorstellbar. Außerdem: Ja, man kann und muss Pandemien schnell entdecken und bekämpfen. Aber: Das Entstehen von Erregern mit Pandemiepotential zu verhindern, ist sowieso eine Illusion.

Das Gespräch führte Philipp Fess.

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