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Das Gute gegen das Böse: Wie Identitätspolitik die Gesellschaft zersetzt / Nadine Redlich

Cicero im September - Identitätspolitik: Das Datschendenken der neuen Spießer

Identitätspolitik teilt die Welt ein in Gut und Böse: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Der dahinterstehende Gedanke ist zutiefst totalitär. In der September-Ausgabe des „Cicero“ widmen wir uns den Ursprüngen von Cancel Culture und ihren Folgen im Lager der politischen Linken.

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Das erste Mal, dass ich im politischen Zusammenhang bewusst auf dieses Denkmuster gestoßen bin, liegt fast 20 Jahre zurück. Die Zwillingstürme des World Trade Center in New York waren nach den Flugzeugeinschlägen eingestürzt, der damalige US-Präsident George W. Bush erklärte dem islamistischen Terror den Krieg und ließ sich in einer umjubelten Rede vor dem Kongress am 20. September 2001 zu folgendem Diktum hinreißen: „Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für den Terrorismus.“ Und damit niemand etwas missverstehe: „Dies ist das Gute gegen das Böse.“

Die Wurzeln dieses fürchterlichen (An-)Satzes reichen hinein und hinab bis ins Neue Testament, in dem manche Evangelisten, nicht alle, Jesus einen ähnlichen Satz zuschreiben. Es bedürfte nicht des Umstands, dass auch die Nationalsozialisten so sprachen, um zu belegen: Dieser Satz und der dahinterstehende Gedanke sind zutiefst totalitär.

Grassierende Cancel Culture

Das müssen auch diejenigen wissen, die sich in jüngster Zeit das Vorrecht herausnehmen, in Gut und Böse zu scheiden. Und alle, die nicht ihrer Meinung sind, zu Feinden erklären und mit allen Mitteln mundtot machen. Sie kommen nicht aus einem klerikalen Konservatismus wie seinerzeit Bush junior, sondern vom anderen Ende des politischen Spektrums. 

Unser neuer Mann für den Salon, Ralf Hanselle, hat sich den Ursprüngen der aktuell grassierenden Cancel Culture und Identitätspolitik gewidmet und ist dabei im Antiquariat mit einem Buch aus dem Jahr 1975 in Frankreich fündig geworden. 

Die Datschen des Denkens

Was seither geschah, hat die Internationale der Arbeiterklasse seinem Befund nach in den vergangenen Jahren „parzelliert wie eine Laubenpieperkolonie“, verstärkt von unseliger Blasenbildung und Abschottung digitaler Netzwerke. 

Der Absolutheitsanspruch der neuen Spießer aus den umzäunten Datschen des Denkens fällt hinter die Errungenschaften der Aufklärung zurück. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen, hat sie postuliert. Heute müsste man diesem ersten Lehrsatz einen zweiten und einen dritten hinzufügen, um Dialektik und damit intellektuelles Vorankommen wieder zu ermöglichen: Habe Achtung davor, wenn jemand anderes das auch tut und zu einem anderen Ergebnis kommt. Und prüfe, ob sich in seinem Ergebnis ein Gran Erkenntnis finden könnte, auf die du selbst nicht gekommen bist.

coverDieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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gabriele bondzio | Mi., 26. August 2020 - 14:09

aus den umzäunten Datschen des Denkens“...was für ein schöne semantische Relation, Herr Schwennicke.
Statt intellektuelles Vorankommen, eher verschanzen hinter Spießertum, mit moralischer Attitüde. Die einem oft die Stirn in Falten legt, weil sie mit zwei-drei Sätzen widerlegbar wäre. Habe heute wider zwei Stirnfalten mehr: „Marx bei Marx“ war die auslösende Nachricht. Verkündet vom Erzbistum München. Ein kleiner Urlaubsausflug oder eine Hommage an erstrebenswerte Ziele? Der Besuchte war immerhin Juden und Schwarzen nicht freundlich gesinnt(Das Kapital. Band 1. Siebenter Abschnitt: Der Akkumulationsprozess des Kapitals. MEW 23, S. 779) Seinen eigenen Schwiegersohn Paul Lafargue, dessen Mutter eine kubanische Kreolin war, erniedrigte er in einem Brief an seine Tochter Jenny als „Negrillo“ und „Abkömmling eines Gorillas“.
Wo sucht denn unser guter Marx die Erkenntnis?

Bernd Hartke | Mi., 26. August 2020 - 14:23

Auch ich finde "cancel culture" und Schwarz-Weiß-Malerei (aka "Gut gegen Böse") furchtbar, aber 9/11 ist einer der wenigen Anlässe, bei dem so etwas tatsächlich verständlich ist. Wenn jemand voll besetzte Passagierflugzeuge gezielt in voll besetzte Wolkenkratzer fliegt oder fliegen läßt, ist der Prozentsatz des Guten dabei wirklich bei Null.

aber meines Wissens benutzte George W.Bush diese Redewendung auch bezüglich der Angriffs- ääh ich meinte Demokratisierungs-Kriege gegen Afghanistan und den Irak.
Und da diese beiden Kriege, auch aus damaliger Sicht, nicht rational begründbar waren, hat Bush damit versucht die westliche Welt zu spalten.
Ob absichtlich oder aus Dummheit will ich mal dahingestellt lassen.
Das sich die Begründung für den Irak-Krieg hinterher dann auch noch als vorsätzliche Lüge herausstellte, das macht die Sache noch besonders heikel.

Die linke, moralisierende Cancel Culture hat das totalitäre Sortieren von gut/böse auf neue Höhen, und auch in die Breite getrieben. Weil sie auf 9/11 Bezug nehmen erinnern wir uns, wie empört und beleidigt das vorgeblich konservative Amerika war, als Frankreich und Deutschland beim Irak-Krieg nicht mitgemacht haben. In weiten Teilen der USA wurden aus french-fries für Jahre freedom-fries. Termine mit Deutschen wurden abgesagt (canceled). Trump hat kürzlich etwas von Goodyear in die Hand bekommen was ihm politisch missfiel - prompt hat er per twitter seine 60-80 Mio. follower aufgefordert die Reifen der Firma nicht mehr zu kaufen. Einige Millionen werden dies möglicherweise auch tun. Das ist dann der Denali ( Mount McKinley/Alaska) der cancel culture.

es gibt Grenzen der Toleranz, die immer dann ereicht sind, wenn Gewalt mit ins Spiel kommt, namentlich in Form von Terrorismus, der mit 9/11 nicht nur von der Anzahl der Opfer, sondern auch von der Perfidie des Anschlags her kaum noch zu topen ist. Das schlichtweg Böse existiert, nicht nur in diesem Fall, und so man es trifft, soll man es auch bei seinem Namen nennen, ohne wenn und aber. Mit der - überfälligen - Debatte zu "culturel cancel" hat 9/11 schlechterdings nichts zu tun.

Dirk Weller | Mi., 26. August 2020 - 14:42

Spätestens seit 2015 sollte jedem aufmerksamen Medienkonsumenten aufgefallen sein,
das diese Art der Aufspaltung der Gesellschaft in gut und böse auch in Deutschland skurile Ausmaße angenohmen hat.
Man wird von Journalisten und Kommentatoren häufig sofort in Schubladen gesteckt.

1. sachliche Hinweise auf mögliche Risiken der Migration
= AfD-nah / Rechtsextremistisch / NAZI

2. keine reflexartige Pauschalverurteilung von Putin
= Putin-Versteher / Putinist / Putin-Fanboy

3. Kritik an bestimmten Verhaltensweisen der USA
= Antiamerikanische-Reflexe / Antiamerikanist

4. sachliche Kritik an Dingen/Vorgängen die irgendwie mit dem Islam zu tun haben
= Islamophob / Rassist / Islam-Feind

Eine sachliche Auseinandersetzung ist mit immer mehr Menschen nicht mehr möglich.
Denn einige Menschen halten ihre eigene Weltanschauung für absolut und unfehlbar.
Daher ist es auch gut, das vom CICERO neue Regeln bezüglich der Kommentarfunktion erlassen wurden.
Das ist traurig, aber es war notwendig.

zustimmen, aber die Spaltung hat nicht 2015 begonnen da wurde sie nur sichtbarer.
Und den Satz wer nicht mit uns ist, ist gegen uns kenne ich von Herrn Rumsfeld (ehemaliger Verteidigungsminister der USA) also ganz sicher kein Linker (das an die Redaktion). Aber sie haben recht sobald man aus der Schublade "betreutes Denken" ausbricht wird's kritisch und schwuppdiewupp sind sie einer von deeer (falschen) Seite.

Manfred Sonntag | Mi., 26. August 2020 - 16:10

Ich habe den Artikel von Herrn Hanselle im Cicero Heft gelesen. Ausgezeichnet! Was mich aber etwas verstört hat ist die Erscheinung von Foucault. Er war ein von Wahnvorstellungen Getriebener. Seine Texte kaum lesbar. Bei Nietzsche ist es ähnlich. Er wollte ja auch sein Pferd heiraten bevor er in der Finsternis versank. Die Texte schwer lesbar. Und dann Frau Buttler. Ihre Texte verquirlen symbolisch Milch mit Zitronensaft, so dass ein vollkommen ungenießbares Etwas entsteht. Douglas Murray hat Recht, es ist der "Wahnsinn der Massen" die solche obskuren Gedanken hoffähig machen. Nach diesem Text von Herrn Hanselle verstehe ich die Hintergründe dieser Totalselektion viel besser. Identitätspolitik ist erzreaktionär. Die Botschaften "Mein Sozialismus ist nicht dein Sozialismus." oder "Ich bin anders als du, und zusammen haben wir eigentlich wenig zusammen." sollten bei jedem Demokraten die Alarmglocken klingen. Identitätspolitik zerstört unsere Gemeinwesen!

Tomas Poth | Mi., 26. August 2020 - 16:57

Das Credo, wer nicht für mich ist der ist gegen mich, ist so alt wie der Mensch. Heute nennen wir es Cancel Culture.
Aber es war in den Medien im deutschen Sprachraum seit der Wiedervereinigung noch nie so heftig und krass, wie wir es spätestens seit 2015 erleben. Besonders mitverantwortlich dafür ist eine verbohrte Politik die sich als alternativlos versteht und in diesem Sinne auch medial getragen wird.
Dieser totalitäre Anspruch vergiftet unsere Gesellschaft, spaltet sie. Es ist nur eine Frage der Zeit wann dieses totalitäre Geschwür platzt.

Ernst-Günther Konrad | Mi., 26. August 2020 - 18:42

Egal ob rechts, links oder religiös bestimmt. Ist es nicht immer ein Zeichen von Diktaturen, wenn sich im Volk Gegenstimmen erheben, dieselben als "böse", als staatszersetzend zu bezeichnen? Sie haben recht mit Bush, Herr Schwennicke, das fiel mir damals auch auf. Das Wesen einer Diktatur zeichnet sich dadurch aus, Meinungsfreiheit zu unterbinden, Staatsgläubige zu indoktrinieren und für die "guten" zu bezeichnen, wenn es einem so passt. Hat nicht schon die Religion zu allen Zeiten damit hantiert? Warum also nicht auch die Politik? Es braucht immer einen Feind? Für Hitler die Juden, Homosexuelle, Kommunisten usw. Für Bush alle aus den islamischen Staaten. Für alle Muslime all diejenigen, die Ungläubig, weil nicht im Islam geboren. Heute sind es die Andersdenkenden, die AFD, Teile der FDP, Werteunion, Impfgegner, Virus-Kritiker usw. Ich habe nur eine Befürchtung. Der Staat macht sich inzwischen sehr viele Gegner. Wir haben eine Merkelkratie. Nicht besser als andere Diktaturen

Holger Jürges | Mi., 26. August 2020 - 19:30

...entstiegen aus den muffigen Stuben der Alt-68er, maßen sich an, die Werte der Aufklärung zu verhöhnen. - Es sei Ihnen recht herzliche gedankt, werter Herr Schwennicke, dafür, dass Ihr Magazin in diesem Sinne ein wertvolles Gegengewicht erzeugt.

Ganz recht: das "Sapere aude!" muss sich neues Gehör suchen - eine Notwendigkeit, die bis vor kurzem nicht von Nöten war. - Der apriorische Gedanke einer progressiv positiven gesellschaftlichen Entwicklung ist durch die virulente Verbreitung linker Thesen, mit Cancel Culture als Werkzeug respektive Mittel zum Zweck, in Gefahr geraten. - Eigentlich zeichnen sich Krisen durch das Formieren einer Gegenbewegung aus: Dieses Mittel der Vernunft ist zu Zeit nicht erkennbar, weil alles Wirken - noch verstärkt durch die unselige PK - im Sinne der Neujakobiner wirkt. Gleich einer höhnischen Verspottung, ist Linker Zeitgeist in jeden Winkel der gesellschaftlichen Wahrnehmung gedrungen. - Wehret den Anfängen ?: Nein, wir sind mittendrin im Gefecht...

Yvonne Stange | Do., 27. August 2020 - 10:51

... für möglich gehalten, so etwas noch einmal erleben zu müssen. Die ehemaligen DDR-Bürger werden jetzt vom (mittlerweile) derart linkslastigen, roten Westen dafür abgestraft, daß sie das angebliche Paradies zum Einsturz gebracht haben. Nun sind sie halt das Schlimmste überhaupt: Nazis. Und das ungefiltert und pauschal. Alle.