Antisemitismus im Kulturbetrieb - Die verfolgende Unschuld

Von der Berlinale zur Biennale: Wenn es um Antisemitismus geht, entdecken die Protagonisten der Cancel Culture auf einmal den Wert der Meinungsfreiheit für sich – und canceln derweil munter weiter.

Venedig dieses Jahr judenfrei? Tausende Künstler fordern den Ausschluss Israels von der Kunstausstellung / dpa
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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In Deutschland ist die Meinungsfreiheit gefährdet. Aber nicht etwa wegen der Bestrebungen von Innenministerium und Verfassungsschutz, nicht strafbare, also vollkommen zulässige Meinungsäußerungen unter Extremismusverdacht zu stellen, sofern sie das „Staatswohl“ beeinträchtigen oder den Staat „verächtlich machen“; nicht wegen der vereinten Anstrengung von Politik und Medien, jegliche grundlegende Kritik an der Migrations-, Energie- und Wirtschaftspolitik der Ampelkoalition in die rechtsradikale Schmuddelecke zu stellen; auch nicht wegen der im akademischen Milieu üblichen und von dort in die gesamte Gesellschaft ausstrahlenden Mobbing-Mentalität gegenüber Autoren und Wissenschaftlern, die bei Themen wie Gender, Klima oder Islam andere Ansichten vertreten, als es die Orthodoxie vorsieht.

Nein, die Meinungsfreiheit ist vielmehr gefährdet – so sehen es jedenfalls viele Akteure im deutschen und internationalen Kunst-, Kultur- und Universitätsbetrieb –, weil das Bundesland Berlin nach den Vorfällen auf der Berlinale erneut darüber nachdenkt, eine Antisemitismusklausel für die Kulturförderung einzuführen, damit, wie es Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) in den ARD-Tagesthemen formulierte, „diejenigen kein Geld mehr vom Staat bekommen, die antisemitisch sind“. Oder weil der Bundestagsabgeordnete Frank Müller-Rosentritt (FDP) forderte, die staatliche Förderung für die Berlinale ganz einzustellen. 

Wohlgemerkt, niemand soll seinen Job verlieren oder am öffentlichen Auftreten gehindert werden, es geht lediglich darum, dass Staatsknete nicht mehr unbedingt dahin fließen sollte, wo Israel die Legitimität abgesprochen und der gewaltsame palästinensische „Widerstand“ abgefeiert wird. Sämtliche Floskeln, die sonst gerne von linkswoker Seite gegen das weit verbreitete – und durchaus von Erfahrung gestützte – Gefühl vorgebracht werden, man könne in Deutschland seine Meinung nicht mehr frei sagen, gelten auf einmal nicht mehr: dass Meinungsfreiheit schließlich nicht bedeute, dass es keinen Widerspruch und keine Konsequenzen geben dürfe; dass es schließlich kein Menschenrecht auf Professorenstellen, Buchverträge und Einladungen zu Vorträgen gebe; und dass „Hass und Hetze“ schließlich keine Meinungen seien. 

Isoliert sich Deutschland?

Es sind im Falle der Berlinale leider nicht mehr nur die üblichen BDS-Unterstützer im Kulturbetrieb, die „Zensur“ schreien und davor warnen, dass das ach so philosemitische Deutschland sich international isoliere, weil die weltweite Kunst- und Kulturszene nun einmal auf der Seite der Palästinenser stehe. Es ist leider auch der PEN-Berlin-Chef Deniz Yücel, der es sich seit der Antisemitismus-Debatte in seinem eigenen Verein zur Aufgabe gemacht hat, die „Freiheit des dummen Wortes“ zu verteidigen, als wäre gerade diese in Gefahr. So bestreitet er in der Welt, dass „der deutsche Kulturbetrieb … ein besonders ausgeprägtes Problem mit Israelhass und Antisemitismus“ habe. Vielmehr sei es so, dass „die Markierungen der deutschen Debatte auf eine internationale Realität treffen, in der vieles, was hierzulande als skandalös empfunden wird, zumindest als zulässige Meinungsäußerung gilt oder mehr Konsens ist“. 

Also dürfe, wer „sicherstellen will, dass sich Vorfälle wie auf der Berlinale-Preisverleihung künftig nicht wiederholen, … internationale Preise nur noch an deutsche Preisträger verleihen, deutsche Lehrstühle nur noch mit deutschen Professoren besetzen und zu internationalen Festivals und Ausstellungen nur noch deutsche Künstler einladen, aber keine Gäste aus dem Ausland“, schreibt Yücel, damit gewollt oder ungewollt das Narrativ aus der BDS-Ecke bekräftigend, Deutschland unterwerfe sich aus „Staatsräson“ einem verordneten „Philosemitismus“, der verhindere, die Wahrheit über israelische Verbrechen auszusprechen.

Man müsse sich eben der Debatte mit Vertretern solcher Positionen stellen, findet Yücel. Gut und schön. Debattieren bedeutet allerdings nicht den Verzicht auf eine eigene klare Haltung. Eine solche scheut sich Yücel aber einzunehmen, wenn es nicht um Flugverbotszonen, sondern um Antisemitismus geht. Yücel hat die Video-Dokumentation der Hamas-Massaker vom 7. Oktober zwar gesehen, diese Erfahrung scheint aber spurlos an ihm vorübergegangen zu sein. Anscheinend ist ihm der Burgfrieden im Vorstand des PEN Berlin wichtiger, oder er möchte es den bekennenden Anti-Philosemiten unter den Neumitgliedern wie Deborah Feldman oder Per Leo recht gemütlich machen. 

Real gecancelt wird jüdisches Leben in Deutschland

Wer sich der Debatte verweigert, sind jedoch vor allem die teils prominenten Unterzeichner des Aufrufs „Strike Germany“, der dazu aufruft, Veranstaltungen deutscher Kultureinrichtungen zu boykottieren, weil Deutschland angeblich zu israelfreundlich sei und dadurch (!) die Kunstfreiheit gefährde. Die Damen und Herren Kulturschaffenden canceln sich also vorsorglich selbst. Real gecancelt wird derzeit vor allem jüdisches Leben in Deutschland. Studenten, die es wagen, sich pro-israelisch zu äußern, werden von Kommilitonen niedergeschrien und nicht selten körperlich angegriffen

 

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Und während die Pro-Palästina-Fraktion Zensur und die Einschränkung ihrer Meinungs- und Kunstfreiheit beklagt, cancelt sie gleichzeitig munter weiter. 19.000 (!) internationale Künstler und Kunststudenten haben – Stand heute – eine Petition gegen eine israelische Beteiligung an der Biennale von Venedig unterzeichnet. In dem Aufruf einer „Art Not Genocide Alliance“ (ANGA) wird Israel als „ völkermordender Apartheidstaat“ bezeichnet und die Biennale aufgefordert, den israelischen Pavillon nicht zuzulassen. Israel wird als Aggressor dargestellt, und das genozidale Hamas-Massaker, das der Auslöser für den jüngsten Gaza-Krieg war, wird mit keiner Silbe erwähnt. 

Derweil wird in Deutschland – Stichwort: Man könne nicht „behaupten, der deutsche Kulturbetrieb habe ein besonders ausgeprägtes Problem mit Israelhass und Antisemitismus“ (Yücel) – in einem von 2000 Filmschaffenden unterzeichneten offenen Brief zum Boykott der Oberhausener Kurzfilmtage aufgerufen, weil sich deren Leiter Lars Henrik Gass nach dem 7. Oktober mit den Opfern der Hamas solidarisiert und sich gegen Judenhass ausgesprochen hatte. Die Unterzeichner fordern Gass‘ Rücktritt, in der Branche wird er als Rassist diffamiert. „Solche Kampagnen haben eine Funktion nach innen, nämlich Gesinnungsgemeinschaft, und eine nach außen, nämlich Isolation und Beschädigung alles Abweichenden. Wir werden boykottiert, weniger durch einzelne Filmemacher als institutionell“, so Gass im Interview mit der Berliner Zeitung. „Es geht nicht um Aufklärung, sondern darum, dass wir nicht auf der ,richtigen‘ Seite stehen, um das, was wir nicht sagen: dass in Gaza angeblich ein ,Genozid‘ stattfinde und Israel verschwinden müsse.“

Nicht Meinung, sondern Tatsachenverdrehung

Es ist eben nicht nur Meinung, sondern schlicht Tatsachenverdrehung, wenn der Gaza-Krieg so dargestellt wird, als wäre Israel der Aggressor und als hätte es das Pogrom vom 7. Oktober nicht gegeben. Und es ist projektive Schuldumkehr, wenn Israel vorgeworfen wird, einen Genozid zu verüben, während genozidale Tat und Absicht im Falle der Hamas und ihrer Unterstützer doch offenkundig sind. Sage mir, wessen du die Juden beschuldigst, und ich sage dir, was du mit den Juden vorhast.

Die Palästina-Solidarität inner- und außerhalb des Kulturbetriebs agiert dabei nicht selten wie eine irre Psycho-Sekte. In Washington zündet sich Aaron Bushnell, ein ranghohes Mitglied der US Air Force, vor der israelischen Botschaft unter „Free Palestine“-Rufen selbst an und stirbt kurz darauf an seinen Verletzungen. In New York setzt der Dramatiker Victor I. Cazares, nach eigener Beschreibung ein „non-binary Poz Queer Indigenous Mexican Artist“, seine HIV-Medikamente ab, um sein Theater dazu zu zwingen, zu einem Waffenstillstand in Gaza aufzurufen. Das sind zwar extreme Beispiele, die aber zeigen, zu welchen Auswüchsen die Palästina-Solidarität fähig ist. Mit der Sorge um die Menschen in Gaza hat das alles nichts mehr zu tun. Mit Sicherheit wäre diesen Aktivisten das Schicksal der palästinensischen Zivilbevölkerung völlig egal, würde nicht Israel den Gazastreifen bombardieren, sondern zum Beispiel Ägypten. Wer da noch debattieren will, möge das tun. Selbst dem engagiertesten Vertreter der Meinungsfreiheit wäre aber verziehen, wenn das nicht der Hügel ist, auf dem er sterben möchte.

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