
- Wir gegen uns
Ein Blick in einen Kaulquappenteich ist wie ein Blick in die Zukunft des Westens. Donald Trump und der Brexit machen derzeit vor, wie der Gemeinsinn schwindet und sich jeder nur noch selbst der Nächste ist
Vielleicht sollte man einfach nicht die falschen Bücher im falschen Augenblick lesen. Das macht so schwermütig. Drei Tage vor der Amtseinführung Donald Trumps als 45. Präsident der USA und am Tag der Hard-Brexit-Rede der britischen Premierministerin Theresa May sind zum Beispiel Walter Laqueurs „Letzte Tage von Europa“ aus dem Jahre 2006 und Niall Fergusons „Der Westen und der Rest der Welt“ von 2011 keine Erbauungsliteratur für die morgendliche Fahrt in der S-Bahn.
Der Historiker Laqueur hat ein reichlich unkorrektes, aber aus heutiger Sicht weitsichtiges Buch über den europäischen Kontinent und den Migrationsdruck aus der islamischen Welt geschrieben. Er nimmt den Leser an die Hand und führt ihn mit einer Fülle an Details und Literaturhinweisen durch die einschlägigen Viertel von Paris, London und Berlin, macht in Neukölln und La Courneuve Entwicklungen fest, an denen sich zeige, „wie es bald in vielen Teilen Europas aussehen wird“. Es werde ein langsamer Prozess sein, sagte Laqueur vor elf Jahren voraus, „und am Ende wird ein Europa stehen, das sich von dem, das wir kennen und schätzen, stark unterscheiden wird“.
Die europäische Solidarität bröckelt
Laqueurs britischer Kollege Ferguson wird fünf Jahre nach diesem Befund sein mit die „Geschichte vom Wettstreit der Kulturen“ untertiteltes Buch vorlegen und dem Westen attestieren, mit seiner globalen Hegemonie an ein Ende gekommen zu sein. Diese Überlegenheit hätte sich in 500 Jahren auf sechs „Killerapplikationen“ gegründet. Als da sind oder waren: Wettbewerb, Wissenschaft, Eigentum, Medizin, Konsum und Arbeitsmoral.
„Zusammenhalt!“, hätte man Ferguson noch zurufen können: Zusammenhalt gehört zu dem, was den Westen ausmacht, oder besser: bisher ausmachte. Denn genau der beginnt nun zu bröckeln. Unter dem Druck des globalen Wettbewerbs und der Massenmigration beginnt der Westen, sich selbst zu zerlegen.
Trumps Botschaft: „America first!“
Der neue amerikanische Präsident trumpelt wie eine Herde Büffel über die beiden westlichen Bündnisse, Europäische Union und Nato, hinweg. Er weiß, wie viele Follower er bei Twitter hat, kennt aber nicht die Zahl der Mitglieder im transatlantischen Sicherheitsbündnis. Und ganz genau weiß er, dass die USA für die gemeinsame Sicherheit zu viel zahlen und die anderen zu wenig (was stimmt), weshalb die Nato „obsolet“ sei (was nicht stimmt). „Amerika zuerst!“, das ist seine Botschaft, wenn er droht, dass Autobauer und andere Firmen ihre Fabriken gefälligst in den USA zu bauen hätten, wenn sie ihre Waren ohne Strafzölle verkaufen wollen.
„Rette sich, wer kann!“, das ist das Signal, das der Westen in diesen Tagen und Wochen aussendet. Jeder ist sich jetzt selbst der nächste, Solidarität ein altmodischer und kostspieliger Luxus.
Mays Botschaft: „Britain first!“
Auf der britischen Insel kündigt die Brexit-Premierministerin Theresa May trotzig-selbstbewusst an, eine Art kapitalistisches Kuba zu errichten, das lieber auf Privilegien wie Zollfreiheit im Binnenmarkt und eine weitere Anbindung an die Europäische Union verzichtet, als sich dem Zustrom europäischer und außereuropäischer Arbeitssuchenden weiter auszusetzen. „Britain first!“, das ist der Schlachtruf, mit dem sich May in die Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens stürzt.
Der amerikanische Präsident hat Europa längst totgesagt. Wenn ihn von dort „freundliche Menschen“ (Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker) anrufen, lohnt es sich für ihn nicht einmal, sich deren Namen zu merken. Dass sich das Europäische Parlament just in den Tagen der Trumpelei und der eindeutigen Festlegung auf den harten Brexit der bisherigen „Misses Maybe“ nun über den neuen Präsidenten und Nachfolger von Martin Schulz streitet, rundet das unschöne Bild ab.
Es geht in Europa, es geht im Westen zu wie in einem Kaulquappenteich. Kaulquappen sind possierliche und friedfertige Wesen, solange das Wasser und das Futter für alle reicht. Fängt aber der Teich an zu schrumpfen, dann gehen sie dazu über, sich gegenseitig aufzufressen. Weil nicht mehr alle Frösche werden können. Im Kaulquappenteich des Westens hat das große Fressen begonnen.