
- „Eine wichtige Zäsur“
Mit der Bundestagswahl endet auch die Regierungszeit Angela Merkels. Als Bundeskanzlerin hat sie nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte geschrieben – im positiven wie im negativen Sinne. Wer auch immer ihr nachfolgt, wird es schwer haben. Denn die EU zerbröselt. Und daraus erwachsen große Gefahren.
Mit der deutschen Bundestagswahl endet die Ära von Angela Merkel. In ihre 16-jährige Regierungszeit fielen unter anderem die Finanzkrise von 2008 und die Einwanderungskrise von 2015. Man vergleiche Merkels Amtszeit mit der von Konrad Adenauer. Adenauer leitete die Erlösung der deutschen Seele ein, indem er die Verantwortung für den Holocaust anerkannte – aber zugleich sicherstellte, dass dieser Massenmord nicht das letzte Wort war, das über Deutschland gesprochen wurde. Er veränderte die Realität und die Wahrnehmung Deutschlands als Inkarnation des Bösen hin zu einer Nation, die Teil des Westens und Teil einer Machtstruktur war, welche der sowjetischen Bedrohung gegenüberstand. Kurz gesagt: Adenauer hat Deutschland in die Familie der Nationen zurückgeführt.
Merkel wiederum machte aus Deutschland die dominierende Macht innerhalb der Europäischen Union – einer Region, die einst der Nukleus wirtschaftlicher und militärischer Weltmacht war. Unter ihrer Führung wurde Deutschland zur viertgrößten Volkswirtschaft der Welt, zum Schiedsrichter Europas und zur treibenden Kraft seiner Wirtschaft. Am wichtigsten ist vielleicht, dass die Bundeskanzlerin dies bewerkstelligte, ohne mehr als nur das unvermeidliche Unbehagen über das Wiederauftauchen Deutschlands als europäischer Buhmann hervorzurufen. Sie trug dazu bei, dass Deutschland nur ein weiteres, wenn auch besonders mächtiges europäisches Land wurde. Sie übte ihre Macht aus, ohne den Schrecken zu verbreiten, den Deutschland noch einige Jahre vor ihrer Geburt hervorgerufen hatte.
Adenauers Weg
Angela Merkel hat viel Anerkennung verdient, aber einiges an Lob ist unangebracht. Wir neigen dazu, von Staatsoberhäuptern so zu denken, als ob sie persönlich ihre Nationen zu Größe, in den Schrecken oder in die Mittelmäßigkeit geführt hätten. Nationen sind riesige und hochkomplexe Unternehmen, die aus vielen unterschiedlichen Menschen und unterschiedlichen Milieus bestehen. Auch ohne Adenauer hätte sich Deutschland von der Last seiner historischen Schuld befreit. Die Deutschen hätten diese Last nicht über Generationen hinweg auf sich genommen, weil die Verbrechen einer Nation nicht dauerhaft den nachfolgenden Generationen angelastet werden können. Auch andere hätten einen Adenauer‘schen Weg gesucht – und gefunden. Und Deutschland so wieder zu einem menschlichen Land gemacht – mit anderen Persönlichkeiten, an die man sich heute erinnern würde.
So ist es auch mit Merkel, unter deren Führung Deutschland wieder zur mächtigsten Nation des Kontinents wurde. Aber sie war weniger ein Hirte als vielmehr ein Passagier auf einer Reise. Die Geschichte schreibt sich teilweise selbst, und irgendwann nimmt jemand eben den Lorbeerkranz entgegen.
Dennoch ist das Ende der Ära Merkel eine wichtige Zäsur. Es hat eine Wahl stattgefunden, wobei unklar ist, welche Bedeutung sie haben wird – wenn überhaupt. Zwei Parteien, die weitaus weniger unterschiedlich sind, als sie vorgeben, sind praktisch gleichauf. Keine der beiden Parteien wird stark genug sein, um die deutsche Geschichte neu zu definieren, und die deutsche Geschichte wird derzeit ohnehin keine Revision dulden.
Deutschland fürchtet sich vor militärischer Macht und sonnt sich in seiner wirtschaftlichen Potenz. Und wie jede andere Macht drängt es sich der europäischen Wirtschaft auf, weil es in seinem ureigenen Interesse ist, dies zu tun. Merkels Nachfolger werden so weitermachen und so tun, als sei dies ein genialer Schachzug ihrerseits. Vielleicht ändert sich die Geschichte und erlaubt ihnen, sich mit ihr zu verändern. Wenn nicht, dann werden ihre Namen zusammen mit denen der meisten anderen Politiker in Vergessenheit geraten.
Deutschlands Aufstieg zur Wirtschaftsmacht
Politik ist grausam, und man kann von einer bekannten Persönlichkeit zu einer bedeutungslosen Figur werden, wenn die Geschichte ihr unerbittliches Spiel treibt.
Das historische Vermächtnis Deutschlands sind Krieg und Unglück. Es gab schon immer ein germanisches Volk, aber eine deutsche Nation entstand erst im Jahr 1871, nach einem kurzen Krieg gegen Frankreich. Das vereinte Deutschland bot einen überwältigenden Anblick: Aus den verstreuten Fürstentümern wurde um die Jahrhundertwende die größte Wirtschaftsmacht des Kontinents, die Großbritannien als den globalen Wirtschaftsriesen herausforderte.
Warum ein vereinigtes Deutschland etwas zustande brachte, wovon ein geteiltes Deutschland nicht einmal zu träumen wagte, ist eine lange Geschichte. Jedenfalls kam es so, und der Rest Europas fürchtete sich davor. Großbritannien und Frankreich hatten ihre eigenen Imperien, aus denen sie Rohstoffe importieren und in die sie ihre Produkte exportieren konnten. Deutschland dagegen war kein solches Imperium. Aber es hatte Einfluss über Ost- und Südeuropa, so dass es, anders als Großbritannien und Frankreich, seine Macht in diesem Teil des Kontinents ausüben musste.
Die Einzelheiten sind hier nicht von Belang, aber das Erstarken der deutschen Macht, gepaart mit einer zunehmenden deutschen Unsicherheit, führte zum Ersten Weltkrieg – einem Konflikt, der zur Zerschlagung Deutschland und in eine wirtschaftliche Depression führte, die bis in die 1920er Jahre andauerte. Bis Hitler auftauchte und Deutschland aus Wut auf das übrige Europa und aus einem Gefühl der Opferrolle heraus wiedervereinigte.
Abermals wurde Europa durch die außergewöhnliche Macht Deutschlands in Angst und Schrecken versetzt. Innerhalb weniger Jahre hatte es sich von einem Krüppel zu einem Wirtschafts- und Militärwunder entwickelt.
Ausbund des Wahnsinns
Der Zweite Weltkrieg war ein deutscher „Wiedergutmachungskrieg“ – ein Krieg, der die deutsche Vorherrschaft in Europa wiederherstellen sollte, die Deutschland 1913 fast erreicht hatte. Aber dieses Mal wurde Deutschland von einer europäischen Macht, die in europäischen Begriffen verstanden werden konnte, zu einem Ausbund des Wahnsinns: Europa konnte mit normalen Begriffen verstanden werden; die Deutschen aber machten sich ein abnormales Verständnis von Europa zu eigen, in dem die Juden angeblich sowohl den Kommunismus als auch den Kapitalismus kontrollierten und einen inneren Feind darstellten, mit dem es keinen Frieden geben konnte.
Die Nazis glaubten, Europa könne nur durch einen totalen Krieg gegen die Verschwörer gesäubert werden. Deutschland hatte sich ein Ziel gesetzt, das nicht erreicht werden konnte – so dass es sich in einen Krieg gegen ganz Europa stürzte und in einem letzten Akt des Wahnsinns auch gegen die Vereinigten Staaten. Es führte einen Krieg, den es ohne mystische Kräfte (die nur in der deutschen Phantasie existierten) nicht gewinnen konnte.
Deutschland ist vom Krieg zum Scheitern zu einem weiteren Krieg und zu einem weiteren Scheitern vorangeschritten. Vielleicht hätte es den Zweiten Weltkrieg sogar gewonnen, wenn es mit Vernunft und Klugheit gehandelt hätte. Aber seine Begierden waren so extrem wie sein Wahnsinn. Als die Deutschen 1945 aus ihrem Wahnsinn erwachten, wurde ihnen klar, was sie sich vor allem selbst angetan hatten. Wie ein Junkie war das Land an seinem Tiefpunkt angelangt und stand vor der Wahl zwischen dem Tod und dem Entzug.
Adenauer führte den Vorsitz über Letzteres, und Merkel führte den Vorsitz über die Fortentwicklung eines Wirtschaftswunders, welches so unwahrscheinlich war, dass man die Gebrüder Grimm als Urheber hätte vermuten können. Und wieder einmal versuchte Deutschland, Europa zu einer „deutschen Welt“ zusammenzuführen, diesmal mit dem Eifer der Europäer und ohne Bosheit.
Zweifel am europäischen Selbstverständnis
Doch in den letzten Jahren von Merkels Herrschaft geriet die Vorstellung ins Wanken, dass ganz Europa einfach eine Einheit mit gemeinsamen Wünschen und Werten ist, die sich für Frieden und Wohlstand einsetzt. Das Jahr 2008 warf die Frage auf, wie verlässlich die Vorstellung von immerwährendem Wohlstand überhaupt ist. Und mit der Migrationskrise kamen dann auch Zweifel an der Vorstellung von ewigem Frieden auf. Die Verbitterung über die Einwanderer (und über die Mächte, die die Migration befördert hatten) trübte das Bild von einer gemeinsamen europäischen Identität ganz erheblich.
Ja, Europa hatte den Frieden erreicht – aber nur, wenn der Balkan nicht als Teil Europas betrachtet wurde. Etwa 100.000 Menschen sollen in diesem Krieg gestorben sein. Die EU aber betrieb angesichts der Realität wenig mehr als eine Selbstvergewisserung ihrer eigenen Rechtschaffenheit. Als Großbritannien die Union verließ, versuchte die EU, dies zu verharmlosen.
Wie ist Deutschland im Kontext eines geeinten und vereinten Europas zu sehen? Es nimmt seine wirtschaftliche Vormachtstellung wieder auf, verzichtet auf ein bedeutendes Militär und gibt seine schlechten Gewohnheiten zugunsten von etwas Tugendhafterem auf. Aber die EU steht unter enormem Druck, weil ihre einzelnen Mitglieder unterschiedliche Interessen haben. Deutschland will Italien nicht mitnehmen, es will die polnischen Ängste vor russischen Pipelines nicht zerstreuen – und bei Lichte besehen schätzt es weder die Bedeutung Frankreichs noch die Bedeutung Großbritanniens.
Der sichere Raum, den Deutschland in Form der EU mit aufbauen wollte, franst aus. Nicht genug, um tiefe deutsche Ängste auszulösen. Aber genug, um deutsche Irritationen hervorzurufen.
Was passiert, wenn die Union zerbricht?
Die Zukunft Deutschlands hängt von der Zukunft der EU ab. Wenn die EU auseinanderfällt, wird Deutschland zwar nicht zusammenbrechen. Im Gegenteil: Es wird keine andere Wahl haben, als seine Ängste zu schüren und seine Kräfte zu vergrößern. Aber ein ängstliches und starkes Deutschland ist etwas, das in ferner (oder gar nicht so ferner) Zukunft Europa zu einem anderen Ort machen kann. Die EU war aus deutscher Perspektive vor allem dazu gedacht, die Geschichte in seliger Behaglichkeit zu beenden. Aber was passiert, wenn die Union zerbricht und weitere Länder aus ihr austreten oder sich nicht mehr unterordnen?
Merkel hat die EU in einer Zeit, in der sie zu zersplittern begann, gut geführt. Die EU will nicht scheitern, und Merkel hat gut daran getan, zu vermeiden, was nicht gewollt war. Jetzt ist diese Ära vorbei – und Merkel als Wahrzeichen dieser Ära ist ebenfalls bald weg. In der neuen Periode wird es darum gehen, die widersprüchlichen Bedürfnisse der Nationen innerhalb der EU zu befriedigen. Dies wird den Einsatz der deutschen Macht erfordern, denn Deutschland ist das wirtschaftliche Herz der EU.
Deutschland hat sich davor gefürchtet, seine sorgfältig wiederbelebte Macht auszuüben. In gewisser Weise ist die Situation also beinahe schon besorgniserregend, denn es herrscht die allgemeine Überzeugung, dass Deutschland es schon schaffen wird. Merkel hat eine neue Dimension des deutschen Selbstbewusstseins erzeugt. Aber in der Vergangenheit konnte Deutschland mit seiner Macht stets besser umgehen als mit seinem Selbstbewusstsein.
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