
- „Merkwürdige Abweichungen“
In einer fünfteiligen Folge ziehen Beobachter aus dem Ausland eine Bilanz der Amtszeit von Angela Merkel. Hier schreibt der britische Historiker Anthony Glees, was ihn an der deutschen Kanzlerin erstaunt, befremdet und fasziniert hat. Und er beleuchtet die unterschiedlichen Anforderungen, die Deutsche und Engländer an Regierungschefs stellen.
Einige Beobachter – vielleicht vor allem diejenigen, die keine Deutschen sind – denken, dass Angela Merkel eine Frau mit offensichtlichen Qualitäten ist, die ihr Amt unter anderem deshalb erlangte, weil sie die Werte Deutschlands nach 1945 verkörperte. Sie war kompetent, verlässlich, zuverlässig, berechenbar, stabil, rational, vorsichtig und fantasielos – so wie eben die meisten Deutschen auch. Merkel war eine wissenschaftliche Politikerin in einem Land, das die Wissenschaft schätzt; beobachtend, urteilend, ohne den von britischen Politikern so gern gepriesenen „Instinkt“ und ohne den Hang zu Experimenten, fast immer reaktiv und selten proaktiv. An dieser nüchternen Analyse ist etwas Wahres dran, aber sie ist unvollständig.
Manche meinen nämlich auch, dass Angela Merkel ein Rätsel ist, vielleicht eine Art deutsche Babuschka, bei der man eine Puppe öffnet, um eine andere, kleinere Puppe darin zum Vorschein zu bringen, bis man die letzte Puppe erreicht, bei der es nichts mehr zu sehen gibt. Die Lösung des Merkel-Rätsels wäre letztlich ihre Leere.