
- „Die Flüchtlingsfrage kommt wie ein Bumerang zu uns zurück“
Am Wochenende haben tausende Menschen bei Demos antisemitische Parolen skandiert. Den Psychologen Ahmad Mansour wundert das Ausmaß des Hasses nicht. Im Interview spricht er über die Ursprünge des Nahost-Konfliktes, den Terror der Hamas und darüber, warum die Palästinenser-Frage auch hierzulande explosiv ist.
Ahmad Mansour wurde in Israel geboren und lebt seit 2004 in Deutschland. Er ist Psychologe und Autor und beschäftigt sich in verschiedenen Projekten mit Radikalisierung und Antisemitismus unter Muslimen.
Herr Mansour, Sie sind gebürtiger Israeli. Ihre Eltern leben im Norden von Tel Aviv. Was denken Sie, wenn Sie Bilder von Raketen sehen, die auf die Stadt zielen?
Ich habe Angst. Es ist so ein Déjà-vu-Gefühl. So etwas wiederholt sich alle paar Jahre. In den letzten Monaten hatte ich so eine Sehnsucht entwickelt, wieder in Israel zu sein. Aber wegen Corona waren Reisen nicht möglich. Und jetzt hat die Sehnsucht der Angst Platz gemacht. Der Angst um meine Familie, aber auch um das Land.
Die Hamas deklariert die Raketenangriffe als Vergeltung dafür, dass eine Handvoll Palästinenser im Ost-Jerusalemer Stadttel Scheik Jarrah von jüdischen Siedlern enteignet werden sollen. Worum geht es ihr wirklich?
Wenn man sich die Geschichte der Hamas anschaut, dann sieht man, dass die Hamas niemals die Chance verpasst hat, Terror und Schrecken zu verbreiten. Groß geworden ist die Bewegung ja in den Neunzigerjahren, während der Friedensverhandlungen zwischen Arafat und der israelischen Regierung. Die Hamas war so unzufrieden mit der Situation, dass sie dieses Abkommen sehr erfolgreich mit Bombenangriffen und Selbstmordattentaten zu verhindern versuchte. Es geht ihr um die Vernichtung Israels. Allerdings ist nicht die Hamas die große Gefahr.
Sondern?
Das, was in den letzten Tagen in den Städten wie Acco, Haifa oder Helo passiert ist, in denen israelische und arabische Juden bislang friedlich zusammengelebt haben. Diese gesellschaftliche Spaltung.
Die Hamas hat sich 2007 in Gaza an an die Macht geputscht. Wie sieht der Alltag der Bewohner aus?
Es ist ein diktatorisches Regime, das die Meinungsfreiheit und Frauen unterdrückt. Die Bevölkerung in Gaza ist sehr, sehr arm. Und das hat nicht nur mit der Blockade Israels zu tun, sondern auch damit, dass sich Funktionäre der Hamas selbst bereichern.
Alle reden jetzt von den neun Todesopfern auf israelischer Seite, aber niemand von den 212 Toten in Gaza, darunter 61 Kinder. Verdienen die kein Mitleid?
Natürlich verdienen sie Mitleid. Jedes Kind, das dabei stirbt, ist ein Kind zu viel. Und in den sozialen Medien werden diese Opfer ja auch beklagt. Aber ich wünsche mir, dass wir die zivilen Opfer auf beiden Seiten sehen. Auf israelischer Seite sind die Opferzahlen dank des Iron Domes, des Raketenabwehrsystems, sehr viel geringer. Trotzdem frage ich mich seit Tagen: War der Konflikt im Irak anders? In Syrien oder in Afghanistan? Es handelt sich um Krieg, und es klingt hart und unmenschlich, aber im Krieg sterben immer Zivilisten.
Ist die Bevölkerung in Gaza nicht doppelt Opfer – einmal Opfer der Hamas und jetzt auch noch Opfer der israelischen Luftwaffe?