Wahlen in der Türkei - Der Tag danach 

Die türkische Opposition gab sich siegessicher. Für türkische Politik-Verhältnisse einmalig zeigte sie sich als geschlossenes Bündnis und als demokratische Alternative zum Langzeit-Präsidenten Erdogan. Glaubt man den offiziellen Zahlen der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi, reichte es für sie dennoch nicht zum Sieg. 

Anhänger des Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu vor der Parteizentrale der CHP in Ankara / dpa
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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„Wer Allah auf seiner Seite hat, der gewinnt die Wahlen“, verkündeten deutsch-türkische Erdogan-Anhänger auf Social Media. Siegessicher blicken sie nun auf die erwartete Stichwahl, die über das politische und wirtschaftliche Schicksal der Türken entscheiden soll. Für liberale Türken – hier wie dort – bedeutet das Ergebnis ein Ende ihrer Hoffnungen auf eine demokratische und säkulare Türkei. Der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi zufolge erhielt Erdogan 49,25 % der Stimmen, während Herausforderer Kilicdaroglu mit 45,05% unterlag. Die AKP konnte sich bei diesen Wahlen wie in der Vergangenheit auch auf die Stimmen der mehrheitlich konservativen Deutsch-Türken verlassen: 64,82 % der Deutsch-Türken stimmten für Erdogan. Eine Stichwahl am 28. Mai soll das endgültige Ergebnis liefern.  

Dabei sah es zu Beginn des Wahlabends noch nach einem Sieg des Oppositionskandidaten Kilicdaroglu aus. An Orten, an denen das oppositionelle Sechserbündnis hohe Stimmanteile hatte, wurden von Mitgliedern der AKP vorgedruckte Einspruchsanträge eingereicht. Dadurch verzögerte sich die Auszählung von Millionen Stimmen, aus denen – so die Hoffnung liberaler Türken – ein Sieg der Opposition hervorgehen könne. Kilicdaroglu und die Oberbürgermeister Istanbuls (Ekrem Imamoglu, CHP) und Ankaras (Mansur Yavas, CHP) riefen Bevölkerung und Wahlbeobachter dazu auf, die abgegebenen Stimmen zu bewachen und die Nacht nicht zu schlafen. „Die längste Nacht der türkischen Demokratie“ titulierten türkische Zeitungen des linken und kemalistischen Spektrums die nächtliche Wache.  

Erstmals eine Hisbollah-Partei im türkischen Parlament

Den Tagen vor der Wahl waren angespannte Auftritte der führenden Oppositionspolitiker vorangegangen, die aus Angst vor Attentaten in kugelsicheren Westen auftraten. An eine Richtigkeit der Wahlergebnisse und an eine Fairness der Wahlen glauben Kemalisten, Linke und Minderheiten der Türkei nicht. Anders als Erdogan konnte die Opposition nur in drei regierungskritischen Kanälen auftreten, ihren Kandidaten blieben die medialen Möglichkeiten zur Erklärung ihrer politischen Ziele verwehrt. Zudem war die kemalistische Tageszeitung Sözcü während des Wahlabends Cyberattacken ausgesetzt, und auf andere Tageszeitungen wie Cumhuriyet oder Halk TV blieb für ausländische Nutzer zwischenzeitlich der Zugang verwehrt.  

 

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Nach der Ausrufung einer Stichwahl am 28. Mai sind sich auch Linke und Liberale sicher, dass Erdogan mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, die Wähler mobilisieren wird. Dass mit einer kurdisch-dschihadistischen Partei wie HÜDA-PAR erstmals eine mit der Terrororganisation Hisbollah assoziierte Partei mit drei Abgeordneten ins türkische Parlament einzieht, dürfte den Brain Drain aus der Türkei verstärken. Koalitionspartner Erdogans, HÜDA-PAR und Refah Partisi, hatten für die Zeit nach den Wahlen angekündigt, mit Gegnern des Islams und der „heiligen Familienordnung“ abzurechnen. Mit einem weiteren Sieg Erdogans und seines islamistischen Bündnisses dürfte sich nicht nur die Anspannung in der Türkei, sondern auch unter den Auslandstürken verschärfen. Die Türken in Deutschland gelten als die rechtesten Europas. Mit ihrer guten Organisation und zahlreichen Moscheeverbänden könnten sie, im Falle eines weiteren Siegs der AKP, endgültig die Deutungshoheit über muslimisches und türkisches Leben in Deutschland bekommen.  

Progressive Türken in Deutschland fordern von der deutschen Politik eine klare Haltung

„Die Opposition hatte leider nicht die gleichen Mittel wie die Regierung, die Regierung hat die Medien ganz klar unter ihrer Kontrolle“, bedauert Levent Taşkıran. Progressive Türken in Deutschland wie Taşkıran fordern von der deutschen Politik eine klare Haltung und ein Machtwort. Taşkıran, der zudem der Präsident des Vereins türkischer Studenten und des Vereins türkischer Akademiker in Köln ist, betrachtet mit Sorge die zunehmende Polarisierung unter Türken in Deutschland. „Wir beraten deutsch-türkische Studierende der Region und sehen in unserer Beratung, wie tief der Riss in der Community ist“, so Taşkıran. Eine derartige Polarisierung habe er bisher nicht erlebt, was er auf die schwierige wirtschaftliche und politische Situation in der Türkei zurückführt. „Das eine Lager bekennt sich eindeutig zu Erdogan. Das andere ist vehement gegen ihn. Selbst in Familien und unter Freunden kommt es aktuell zu heftigen Diskussionen“, gibt der Vorsitzende des türkischen Studentenvereins seine Erfahrung wieder.

Die politische Beeinflussung in Deutschland lebender Türken gefährdet ihm zufolge das friedliche Zusammenleben. „In Deutschland gibt es genug politische und soziale Herausforderungen. Wir sind in einer Zeit großer Umwälzungen. Was wir nicht brauchen, sind Probleme aus einem anderen Land auf unseren Straßen. Wir Deutsch-Türken sollten uns unbedingt auf das politische Leben in Deutschland konzentrieren und uns nicht von Funktionären aus der Türkei beeinflussen lassen“, fordert Taşkıran. Der Kölner wünscht sich von der deutschen Politik ein klares Bekenntnis zu progressiven und liberalen deutsch-türkischen Vereinen und Verbänden sowie ein Ende der Wahlmöglichkeit für Deutsch-Türken in Deutschland. „Es kann nicht sein, dass Menschen hier durch ihre Wahl die wirtschaftliche und politische Zukunft eines Landes beeinflussen, in dem sie nicht leben“, so Taşkıran.  

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