Ziele im Ukraine-Krieg - Von der Notwendigkeit einer überfälligen Debatte

Während der Kreml mit weiteren Eskalationen droht, glaubt Kiew an die Macht der derzeitigen Erfolge auf dem Schlachtfeld: Bei realistischer Betrachtung könnten die Aussichten auf einen Verhandlungsfrieden im Ukraine-Krieg zur Zeit daher kaum schlechter sein. Dennoch braucht es eine lebhaftere Diskussion darüber, welche Ziele die deutsche Außenpolitik verfolgt – und welchen Preis man bereit ist, dafür zu zahlen.

Ukrainische Soldaten sitzen auf einem gepanzerten Fahrzeug, während sie durch das Dorf Shandrygolovo fahren / dpa
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Michael Sommer lehrt an der Universität Oldenburg Alte Geschichte und moderiert gemeinsam mit Evolutionsbiologe Axel Meyer den Cicero-Wissenschafts-Podcast

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Mehr oder weniger täglich können wir den ukrainischen Streitkräften beim Siegen zusehen. Erst rücken sie östlich von Charkiw in atemberaubenden Tempo ostwärts vor, dann stehen sie an der Schwelle zum von Russland zeitweise vollständig besetzten Oblast Luhansk, und jetzt sind sie offenbar im Begriff, starken russischen Kräften im Raum Cherson die Rückzugswege über den Dnjepr abzuschneiden.

Die russische Armee befindet sich in einer desolaten Verfassung, eine Wende sehen auch russische Militär-Blogger nicht heraufziehen. Ganz im Gegenteil, mit schonungslosen Bestandsaufnahmen des Frontgeschehens setzen sie Putin, seinen Verteidigungsminister und den Generalstabschef unter Druck. Denn: Szenarien, die jeder vernünftige Beobachter vor Monatsfrist noch als Traumtänzerei abgetan hätte, erscheinen plötzlich plausibel; ein Frieden, den die Ukraine auf dem Schlachtfeld gegen das zu Beginn des Waffengangs hochfavorisierte Russland erzwingt, rückt in den Bereich des Denkbaren.

Kretschmers Forderungen scheinen aus der Zeit gefallen

Forderungen nach Verhandlungen, wie sie seit geraumer Zeit Sahra Wagenknecht (Linke) und Michael Kretschmer (CDU) erheben, scheinen da aus der Zeit gefallen. Kretschmer und Wagenknecht könnte man noch als Putinversteher aus der ostdeutschen Provinz abtun, die so reden, wie sie reden, weil sie besondere Befindlichkeiten ihrer Wählerklientel im Blick haben. Dieser Einwand immerhin lässt sich gegen Elon Musk, der jüngst ebenfalls mit der Forderung nach einer Verhandlungslösung an die Öffentlichkeit getreten ist, nicht erheben. Gleich in den ersten Kriegstagen öffnete er für die Ukrainer sein Starlink-Netz und verschaffte ihnen damit einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Invasoren.

Seine Initiative stieß erwartungsgemäß in der Ukraine auf wenig Beifall. In Kiew glaubt man an die Kraft des Momentum und möchte sich die erwarteten Siege nicht aus der Hand nehmen lassen. Öffentlichkeit und Regierung im Westen unterstützen diese Haltung der Ukraine. Selenskyjs Ankündigung, nicht nur keine Verhandlungen mit dem Kreml zu führen, sondern entsprechende Versuche sogar zu ächten, blieb in Europa und den USA so gut wie unkommentiert. Waffen werden weiter auf das Schlachtfeld geliefert. In Kiew, Washington und Berlin setzt man, das ist die einzige logische Schlussfolgerung, auf einen „Siegfrieden“: Wenn der Krieg eines schönen Tages an ein Ende kommt, dann deshalb, weil die Ukraine aufgrund der militärischen Lage imstande ist, Moskau einen Frieden zu diktieren.

An moralischen Argumenten herrscht kein Mangel

Dies ist selbstverständlich ein Standpunkt, den man einnehmen kann. An moralischen und realpolitischen Argumenten, die ihn begründen helfen, herrscht kein Mangel. Erstens wurde die Ukraine überfallen und hat deshalb auch das Recht, einen Friedensschluss so lange zu verweigern, bis sie mit militärischen Mitteln ihre territoriale Integrität wiederhergestellt hat. Zweitens steht es dem Westen, zumal Deutschland, schlecht an, sich in Kiews Belange einzumischen. Zu groß ist die historische Mitverantwortung für Fehler der Vergangenheit.

Drittens würde jeder Frieden, der Russland die Annexion der von ihm eroberten Gebiete oder von Teilen davon gestattet, Putin wie den Sieger aussehen lassen. Die bittere Lektion, die von einem solchen Frieden ausginge, lautete: Angriffskriege lohnen sich. Für die liberale Weltordnung, die für viele im Westen axiomatische Geltung hat, wäre jeder Annexionsfrieden ein Menetekel. Verwunderlich ist hingegen, dass über diese Argumente nicht diskutiert wird. Denn so valide sie sind, es gibt durchaus Gegenargumente, deren Plausibilität ebenfalls nicht zu bestreiten ist.

Kampfmoral schlecht, Führung inkompetent

Erstens wissen weder wir noch die Ukrainer, was die Zukunft bringen wird. Wir wissen, dass die russische Armee in einer verheerenden Verfassung ist, dass die Kampfmoral schlecht, die Führung inkompetent und die Logistik miserabel ist. Wir wissen auch, dass Ausbildung und Führung nach westlichen Standards und vor allem die Lieferung westlicher Waffen die ukrainischen Streitkräfte enorm ertüchtigt haben. Die Garantie für eine Fortsetzung des Siegeszuges ist das nicht.
 

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Selbst wenn die gegenwärtige Dynamik Bestand haben sollte, wissen wir, zweitens, nicht, wie lange es noch dauert, bis Russland womöglich kapitulationsbereit ist. Jeder Monat Krieg bedeutet immense Kosten, ökonomisch und an Menschenleben, für die Ukraine wie ihre westlichen De-facto-Alliierten. Jeder Aufruf zum Durchhalten ist unehrlich, wenn er diese Rechnung verschweigt.

Drittens: Zu den Kosten des anhaltenden Krieges gehört das Risiko der Eskalation. Nicht nur den Deutschen bereiten Putins regelmäßige Drohungen mit der Bombe Kopfschmerzen. Wir wissen zwar viel über das Kriegsgeschehen in der Ukraine und über den Zustand der russischen Armee, aber kaum etwas über das Innenleben des Kreml. Wie dort entschieden werden würde, sobald eine russische Niederlage auf dem Schlachtfeld und ein daraus nahezu sicher resultierender Regime Change in Moskau sich als reale Möglichkeiten abzeichnen, weiß im Moment niemand sicher zu sagen.

Irrationalität eines waidwunden Diktators

Das Gegenargument gegen den letzten Einwand liegt auf der Hand: Die Irrationalität eines waidwunden Diktators mit Atomarsenal darf nicht der Grund für Zugeständnisse am Verhandlungstisch sein. Andernfalls würden Atommächte weltweit Carte blanche für expansive Abenteuer jeder Art erhalten. Das darf nicht geschehen. Wer als westlicher Politiker redlich seinen Standpunkt in der Ukraine-Frage darlegen will, tut aber gut daran, Risiken und Nebenwirkungen eines möglicherweise noch Jahre dauernden Konflikts klar zu benennen. Auch wer wie Musk und Kretschmer dafür ist, Verhandlungen zu führen, darf sich um das Kleingedruckte nicht herumwinden.

Wie sähe eine Verhandlungslösung aus, die für den Westen akzeptabel wäre? Musk hat ein paar Eckpunkte genannt: Volksabstimmungen unter UN-Aufsicht, die Krim wird an Russland abgetreten. Abstimmungen haben immerhin den Charme, dass sich beide Seiten Chancen ausrechnen mögen, sie zu gewinnen. Das senkt, zumindest für die russische Seite, die Hürden. Kiew würde einer solchen Prämisse für Verhandlungen trotzdem nicht zustimmen, jedenfalls dann nicht, wenn der Westen das eine Druckmittel, das er hat – ein Junktim zwischen Verhandlungsbereitschaft und Waffenlieferungen – ungenutzt lässt. Will der Westen die Ukrainer mit den Waffenlieferungen erpressen? Das ist eine Debatte, die man führen müsste.

Joe Bidens Armageddon-Rede

Bei realistischer Betrachtung könnten die Aussichten auf einen Verhandlungsfrieden zur Zeit kaum schlechter sein. Dennoch wünscht man sich eine lebhaftere Diskussion darüber, was im deutschen und europäischen Interesse liegt. „Solidarität mit der Ukraine“ gilt seit der Rede der Bundesaußenministerin vor der UN-Vollversammlung als unhinterfragbare Staatsräson. Dass daran ein Preisschild hängt, ist aber jedem klar.

Die Steuerzahler, die im Begriff sind, ein drittes Hilfspaket (Kanzler-Sprech: „Doppelwumms“) zu schultern, die vielen Mittelständler, die sich fragen, wie es weitergehen soll, die Rentner, die nicht wissen, wie sie ihre Heizrechnung bezahlen sollen: Sie verdienen eine offene und ehrliche Debatte über die Ziele, die deutsche Außenpolitik erreichen will, und die Kosten, die sie dafür bereit ist zu zahlen.

Im Angesicht von Bidens Armageddon-Rede und Selenskyjs (richtig oder falsch verstandener) Forderung nach einem Präventivschlag der Nato, wirkt die Formel von der „uneingeschränkten Solidarität mit der Ukraine“ vielleicht doch etwas unterkomplex. Im deutschen Interesse sind die Lokalisierung des Konflikts und seine möglichst rasche Beendigung. Deutsche Politiker sollten ihren Wählern verraten, wie sie diese Ziele erreichen wollen.

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