Perspektive auf Ukraine-Debatte - „Die Ukrainer verstehen Putins mörderische Ziele“

In einem jüngst erschienenen Cicero-Interview vertritt der amerikanische Politologe John Mearsheimer die These, der Westen trage Verantwortung für die russische Invasion der Ukraine, weil Wladimir Putin sich wegen der Nato-Erweiterung bedroht gefühlt habe. Der in der Ukraine lebende und aus Deutschland stammende Schriftsteller Christoph Brumme bringt eine ganz andere Perspektive in die Debatte ein: Russland sei vom Westen bis zur Annexion der Krim vielmehr in vielfältiger Weise unterstützt und privilegiert behandelt worden.

Entsetzen nach einem russischen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Stadt Krementschuk am Montag / picture alliance
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Autoreninfo

Christoph Brumme, Jahrgang 1962, ist Schriftsteller und lebt seit 2016 in Poltawa in der Ukraine. Zuletzt ist das Buch „Im Schatten des Krieges. Tagebuchaufzeichnungen aus der Ukraine“ im S. Hirzel Verlag erschienen. 

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Wieder einmal heulen die Sirenen, zunächst eine, dann alle gleichzeitig. Trotz Luftalarm bleiben wir im Biergarten sitzen. Zuletzt hat unsere Luftabwehr kurz vor der Stadt einige russische Raketen abgeschossen. Die Staatsgrenze ist ja nur etwas mehr als 100 Kilometer entfernt, die Vorwarnzeit beträgt also nur ein paar Schluck Bier. Luftalarm wird schon ausgelöst, wenn Raketen in unseren Oblast Poltawa eindringen. Ob sie dann über uns hinweg fliegen und andere Städte treffen sollen oder ob sie direkt für uns bestimmt sind – das kann in dieser kurzen Zeit nicht vorhergesagt werden.

Ich erzähle meinen ukrainischen Freunden, welche Vorstellungen von einem Kriegsende in Deutschland (auch) diskutiert werden. Die Ukrainer sollten Kompromisse eingehen, heißt es, und den Russen einen bestimmten Teil ihres Territoriums „anbieten“ oder „überlassen“. Alle am Tisch sind entsetzt, lachen, fassen sich an den Kopf. „Welchen Kompromiss? Später oder gleich getötet zu werden?“, fragt der Englisch-Übersetzer Oleh. „Die Deutschen wünschen uns also, dass wir zuerst bei der Ermordung unserer Kinder zusehen, dann mit gefesselten Händen hingerichtet werden?“

Ehrentitel für die Mörder von Butscha

Ihr Zynismus kommt nicht von ungefähr: Die Mörder von Butscha wurden von Russlands Präsident Putin ausgezeichnet. Er verlieh der dort mordenden russischen Soldateska den Ehrentitel Garde. „Das geschickte und entschlossene Vorgehen der Brigade während der militärischen Spezialoperation in der Ukraine“ sei „Vorbild für die Ausführung der militärischen Pflichten, für Mut, Entschlossenheit und große Professionalität“, erklärte Putin. Die russischen Soldaten hätten das „Mutterland und staatliche Interessen“ verteidigt.

Ermordete Ukrainer sind im Interesse Moskaus, das ist für die Ukrainer nichts Neues. Davon können sie mehr als ein bitteres Lied singen. Die fast 300 Jahre russisch-ukrainische Kolonialgeschichte steht auch für fast 300 Jahre Repressionen, staatlich angeordnete Massenmorde und Verbote der ukrainischen Sprache und Kultur. In Moskau wird heute in denselben Gebäuden, in denen Stalins Schergen einst die genozidale Ausbeutung der Ukraine und die Auslöschung ihrer Kultur planten und organisierten, die Vernichtung, Aushungerung und „Umerziehung“ der Ukrainer vorbereitet und angeordnet.

 

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Diese historische Dimension des Krieges wird in den öffentlichen Diskursen im Westen nur selten mitgedacht. Zu gern glaubte man das Märchen, Russen und Ukrainer seien Brudervölker. Dabei ist diese Bezeichnung für Ukrainer schon lange das schlimmste Schimpfwort – spätestens seit 2014, seit der Annexion der Krim und dem feigen, unerklärten Krieg im Donbas. Aber schon im Jahr 1991 war es kein Zufall, dass bei dem Referendum über die Unabhängigkeit des Landes mehr als neunzig Prozent der Ukrainer für die Abspaltung von der Sowjetunion stimmten (bei einer Wahlbeteiligung von mehr als achtzig Prozent). Auch im Donbas mit 83 Prozent und in den südlichen russischsprachigen Gebieten mit 90 Prozent waren die Mehrheiten zugunsten der Unabhängigkeit eindeutig.

Obwohl deutsche Medien jahrelang von „pro-russischen“ Kräften in der Ukraine sprachen, war der Anteil der Ukrainer, die eine staatliche Einheit mit Russland wollten, immer sehr gering. Selbst auf der Krim bekam bei den letzten freien Wahlen die einzige Partei, die für einen Anschluss an Russland plädierte, nur wenige Prozent der Stimmen. Richtig ist vielmehr, dass eher russischsprachige Menschen mehr als ukrainischsprachige auf freundliche Beziehungen zu Russland hofften und sie für möglich hielten. Aber auch sie träumten nicht von einer „ruski mir“ – einer russischen Welt –, schon gar nicht, wenn der Preis dafür ein Krieg ist. Und weil sie nie unterdrückt wurden, wollten sie von den Russen auch nicht befreit werden.

Welche „Kompromisse“?

Nun denkt man in Deutschland darüber nach, wie viele Opfer die Ukrainer noch zu bringen bereit sind, bis sie Putin-Russland irgendwelche „Kompromisse“ anbieten (müssen). Irgendwann seien doch sowieso alle Panzer zerstört und keine Waffen mehr da, erklärte mir ein deutscher Radio-Moderator. Am Ende würden die Ukrainer verlieren, also sollten sie lieber gleich kapitulieren. Russland habe leider auf eine etwas brutale Art seine Sicherheitsinteressen durchgesetzt, mit dieser „Spezialoperation“, die in Russland nicht Krieg genannt werden darf. Aber Putin habe sich eben von der Nato bedroht „gefühlt“, der Westen sei mitschuldig.

So, als hätten westliche Demokratien die gleichen kriminellen und kriegerischen Absichten gehabt wie der russische Mafia-Geheimdienst-Staat, den gleichen Willen, das Faustrecht durchzusetzen. So, als hätte jemals ein Vertreter der Nato Russland gegenüber militärische Drohungen ausgesprochen. Das Gegenteil ist der Fall: Russland wurde vom Westen bis zur Annexion der Krim in vielfältiger Weise unterstützt und privilegiert behandelt, anfangs mit Lebensmittellieferungen und Krediten, dann mit Modernisierungspartnerschaften und zahlreichen kulturellen und politischen Austauschprogrammen.

Selbst für die Verschrottung ukrainischer Atomwaffen hat Russland etliche Milliarden Dollar von den USA bekommen. Tatsächlich hofften die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Stabilität der internationalen Ordnung insbesondere im postsowjetischen Raum zusammen mit Russland gestalten zu können. Sie vertrauten Russland so sehr, dass sie die Ukraine zugunsten Russlands atomar entwaffneten! Sie bezahlten Russland dafür, dass die Ukraine ein militärisch harmloses Land wurde.

Im Gegensatz zu fast allen Deutschen brauchen Ukrainer keine Übersetzer, um die bösartigen Absichten und mörderischen Ziele des Putinismus zu verstehen. Illusionen und Wunschdenken können sie sich nicht leisten, sie müssen die Realität des Krieges jetzt und für lange Zeit aushalten. Im russischen Staatsfernsehen wurde in den letzten Jahren in den wichtigsten Propaganda-Sendungen immer wieder detailliert dargelegt, wie man im Falle eines „leider notwendigen Einmarsches“ und natürlich unumgänglichen Sieges gegen die Ukraine vorzugehen gedenke. Geplant war demnach beispielsweise, mindestens eineinhalb Millionen ukrainischer „Nationalisten“ in Konzentrationslagern zu internieren und umzuerziehen, das Ukrainische aus ihnen herauszuprügeln wie in dem berüchtigten Folter-KZ „Isolazija“ in Donezk.

Kampf ums Überleben

Die Ukrainer wissen das und kämpfen heute schlichtweg für ihr Überleben. „Wenn wir keine Waffen erhalten, in Ordnung, dann werden wir mit Schaufeln kämpfen, aber wir werden uns verteidigen, denn dieser Krieg ist ein Krieg um unsere Existenz“, erklärte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba unlängst in der ARD-Talksendung Anne Will. Und mein Freund Oleh im Biergarten von Poltawa stellt sachlich fest: „Wir haben eine andere Mentalität als die Deutschen.“

In Deutschland wird der Wert der Freiheit nicht hochgeschätzt, weil man nie gegen einen Feind kämpfen musste, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der deutschen Nation war, der deutschen Sprache und Kultur. „Es fehlt die Erfahrung des erfolgreichen Kampfes gegen einen Gegner, der einen vernichten will“, so die Historikerin Franziska Davies.

Außerdem urteilen die Deutschen gerne vom moralischen Thron herab, weil sie sich daran gewöhnt haben, dass andere für sie die Kohlen aus dem Feuer holen, ihre Sicherheit von den USA gewährleistet wird. Überheblichkeit aufgrund von Erfahrungslosigkeit und Ignoranz: „Wir kennen Russland besser als die Osteuropäer, wir sind Russland aus historischen Gründen verpflichtet, euch aber nicht“ – deshalb Gashandel und Militärexporte; Geschäftstüchtigkeit verbrämt mit Moral und historischem Gewissen.

Der einfältige Glaube

Hinzu kommt die Denktradition des Habermasmus, der einfältige Glaube, alle Konflikte mit kommunikativer Vernunft lösen zu können. „Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude“, 1980er-Jahre-Soziologie und Musik, Deutschland als Wolkenkuckucksheim. Kein strategisch-analytisches Denken, symptomatisch dafür ist beispielsweise das Versagen des BND, der vom Krieg völlig überrascht wurde und den Ukrainern eine Niederlage innerhalb weniger Tage prophezeite.

Wann und wie dieser Krieg enden wird – darüber können westliche „Experten“ auf ihren Sofas im Westen wohlfeile Gespräche führen und Wünsche zu ihrer Selbstbefriedigung formulieren. Wie man einen Sieg definiert, das wird man in der Ukraine erst wissen, wenn man ihn erreicht hat. Präsident Selenskyj meint: „Es wird enden, wie es immer endet, indem es endet.“

Zunächst einmal ist das wichtigste Ziel die Selbstverteidigung. Besetztes Territorium soll zurückerobert werden, um die Ukrainer zu befreien, die sich jetzt in den von den Russen eroberten Gebieten in ständiger Lebensgefahr befinden, die gefoltert, deportiert und „liquidiert“ werden. Ukrainische Soldaten kommen zu ihnen als Friedenssoldaten und Lebensretter. Schon mehr als eintausend Siedlungen konnten sie laut Präsident Selenskyj von den Russen zurückerobern und wurden dort – anders als die Russen – von den Einheimischen tatsächlich mit Applaus empfangen und als Befreier begrüßt.

Dann gnade uns Gott

Um die Chancen auf Frieden auszuloten, wird im Westen auch gerne darüber diskutiert, ob der russische Kriegsherr Putin rational oder irrational handle, ob er ein guter Stratege oder nur ein guter Taktiker sei. Wenn rational, dann wäre sein Verhalten womöglich berechenbar, dann könnte man vielleicht seine Interessen und eine Logik auch in seinen grausamsten Verbrechen erkennen. Wenn irrational, dann müsse man mit dem Schlimmsten rechnen, dann gnade uns Gott, dann wäre der Oberbefehlshaber über die Atomraketen ja vielleicht verrückt.

Die Ukrainer wissen, dass auch Serienmörder rational denken und planend handeln können. Sie erkennen deshalb eine dritte Variante. Weder rational noch irrational, sondern emotional. Das ist mehr als ein Gefühl. Es ist der Rausch der Macht und die Lust, über Leben und Tod entscheiden zu können. Wie Stalin ist Putin ein Sadist, der es genießt zu herrschen und zu töten. Er und seine Geheimdienst-Clique wissen ganz genau, dass sie im friedlichen Wettbewerb mit den westlichen Volkswirtschaften niemals mithalten können. Niemals wird ihr Russland so attraktiv für Geldanleger und Touristen sein, solche Softpower entfalten können wie freie, nach Fairness strebende Gesellschaften.

Der Westen erniedrigt Russland schon dadurch, dass er reicher ist, dass man dort besser lebt und dass viele gut ausgebildete Russen gerne dorthin auswandern. Das Glück und der Wohlstand der Europäer befeuern im Kreml Hass und Neid. Deshalb will Putin nicht nur die schöne Ukraine zum Beischlaf zwingen, wie er ja öffentlich erklärte, sondern auch den Westen quälen. Die westlichen Gesprächsangebote steigerten in den letzten Jahren nur seine Wut und seine Empörung. Er will kämpfen und siegen, nicht reden. Er will, dass man ihn fürchtet, nicht, dass man ihm vertraut. Falls jemand wirklich wüsste, wie man diesen Krieg beenden kann, so hätte sie oder er mindestens drei Friedensnobelpreise verdient.

Im Cicero-Podcast erzählt unser Chefreporter Moritz Gathmann von seinen Erfahrungen im Ukraine-Krieg.

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