Liberale Türken verzweifeln - „Allahu Akbar“

Während deutsch-türkische Erdogan-Anhänger den Sieg ihres Wunschkandidaten feiern, rechnen liberale Türken mit dem Schlimmsten. Oppositionelle, Journalisten und Menschenrechtler erwarten neue Verhaftungswellen und ein Erstarken islamistischer Bruderschaften.

Deutsch-türkische Erdogan-Anhänger feiern die Wiederwahl „ihres“ Präsidenten in Berlin / picture alliance
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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„Der Mann hat wieder gewonnen“ („Adam yine kazandı“) schreibt die kemalistische Tageszeitung Sözcü und macht aus ihrer Ablehnung Erdogans kein Geheimnis. „Wir werden bis zum Grab zusammen sein“ („Mezara kadar beraber olacaǧız“) schwört Erdogan seine Fans siegessicher bei seiner ersten Rede nach der offiziellen Verkündung der Wahlergebnisse ein. Auch wenn der Großteil der Erdogan-Kritiker an den offiziellen Ergebnissen der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı zweifelt, steht der Sieger der Wahlen fest: Recep Tayyip Erdogan.

Mit 52,18% der Stimmen führt er vor seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (47,86%). Während auf deutschen Straßen Erdogan-Anhänger mit Auto-Corsos den Sieg ihres Wunschkandidaten feiern, fürchten türkische Frauen das Schlimmste. Denn das vom inhaftierten kurdischen Politiker Selahattin Demirtas als „Taliban-Bündnis“ bezeichnete politische Gespann von Erdogan gilt als das frauenfeindlichste und radikalste der türkischen Parteiengeschichte.

Eine vermeintlich islamische Familienordnung

Mit HÜDA-PAR ist ein Ableger der kurdischen Hizbullah ins Parlament gewählt worden. Abgeordnete von HÜDA-PAR kündigten vor den Wahlen an, im Falle eines Wahlsiegs die Rechte von Frauen massiv einzuschränken. Gemeinsam mit dem ebenfalls ins Parlament gewählten Bündnispartner Yeni Refah Partisi drohten sie, nach einem Wahlsieg mit „Feinden“ einer vermeintlich islamischen Familienordnung, also queeren Menschen und emanzipierten Frauen, abzurechnen.

Beide Parteien möchten die Kinderehe legitimieren und die Lehrpläne an Schulen islamisch prägen, „die Jugend werde in Bildungseinrichtungen ab sofort auf das Jenseits vorbereitet“ ließ Fatih Erbakan von der Partei Yeni Refah Parti verkünden. Das neue Regierungsbündnis fiel in den letzten Wochen durch Drohungen und Hasstiraden gegen Oppositionellen und westlich geprägte Türken auf, die sie gern als „Agenten Amerikas und der Zionisten“ bezeichnen.

Schüsse auf Oppositionelle 

So überraschte es nicht, dass es bei den Feierlichkeiten nach dem Sieg zu Schüssen auf Mitglieder von Oppositionsparteien kam, zwei von ihnen starben, andere Wahlkampfhelfer der Oppositionsparteien wurden mit Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert. Islamisten feierten den Wahlsieg Erdogans in der Hagia Sofia mit „Allahu Akbar“ („Gott ist groß“)-Rufen. In AKP-Hochburgen wie Mannheim kam es zwischen Passanten und AKP-Anhängern zu Handgreiflichkeiten, Polizisten wurden mit Gegenständen beworfen.
 

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Mit dem erneuten Sieg Erdogans wird sich nicht nur die Polarisierung unter Türken in der Türkei und im Ausland verstärken, Soziologen und Politiker rechnen mit einem Erstarken des Brain-Drains und der Abwanderung von Millionen junger Türken sowie liberaler Frauen, die in einem zunehmend islamistischen Land keine Zukunft mehr für sich sehen.

Ein Erstarken islamistischer Bruderschaften

Während deutsche Erdogan-Anhänger mit türkischen Flaggen und nationalistischen Slogans den Sieg ihres Wunschkandidaten feierten, kündigte der türkische Oberste Rundfunk- und Fernsehrat ein hartes Vorgehen gegen die wenigen verbliebenen Erdogan-kritischen Fernsehsender an. Oppositionelle, Journalisten und Menschenrechtler rechnen mit weiteren Verhaftungswellen AKP-kritischer Bürger und einem Erstarken islamistischer Bruderschaften, in der Türkei und in Deutschland.

Schließlich wählten 67,22% der Deutsch-Türken Erdogan, Kilicdaroglu schaffte es in Deutschland gerade mal auf 32,78%. Eine ähnliche Zustimmung erhielt Erdogan bei Türken in Pakistan, in vielen westlichen Ländern wie in den USA führte Kilicdaroglu. Die hohe Zustimmung für Erdogan erklären türkische Soziologen anders als deutsche nicht mit einer vermeintlich konservativen Ausprägung der Deutsch-Türken, sondern einer Vorliebe für Machtdemonstration und einer hohen Zustimmung zu Nationalismus, Islamismus und einem autoritären politischen Führungsstil.  

„Was machen diese Leute aus Deutschland?“

Deutschland gehört daher auch zu den AKP-Hochburgen der Auslandstürken und ist für den hohen Organisationsgrad von Erdogan-Befürwortern und ihren Hunderten Vereinen, Moscheen und Verbänden bekannt. In der Türkei sehen viele die Reaktion auf die hohe Zustimmung, die der Präsident bei den Deutsch-Türken genießt, sehr kritisch. Deutsch-Türken haben dort keinen guten Ruf, in türkischen Filmen und TV-Serien werden sie wegen ihres „ausländischen“ Akzents, ihrer „Rückständigkeit“ und ihrer geringen Türkischkenntnissen oft karikiert.

Während sich säkulare türkische Meinungsforscher, Politiker und Soziologen in der eindeutig negativen Bewertung des deutsch-türkischen Wahlverhaltens einig sind und dies sowie ihre hohen Grad an Vernetzung als Gefahr für die deutsche Demokratie ansehen, schweigen sich deutsche Politiker und NGOs dazu aus. „Was machen diese Leute aus Deutschland?“, fragen liberale Türken skeptisch und fragen provokativ, wieso die Deutsch-Türken, die mit ihrer Stimmabgabe das politische Schicksal eines anderes Landes mitbestimmen und dabei die Vorzüge einer Demokratie wie Deutschland genießen, nicht in die Türkei ziehen.

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