Jürgen Habermas mischt sich erneut in die Ukraine-Debatte ein - Das Orakel vom Starnberger See

Jürgen Habermas pocht in einem unlängst veröffentlichten Essay abermals auf Verhandlungen mit Russland. Doch das prätentiöse Schreiben trieft vor Banalitäten und analytischen Ungenauigkeiten. Warum fühlt sich der weltbekannte Philosoph dazu bemüßigt, der Politik Ratschläge zur Lösung ausweglos erscheinender Sachfragen zu geben, obwohl er keine Kompetenz dafür besitzt?

Er möchte der deutsche Philosoph mit Weltgeltung sein und bleiben: Jürgen Habermas / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Die alten Griechen hatten es noch gut. Immer dann, wenn sie ratlos waren, konnten sie das Orakel befragen. Orakel konnten dabei alles Mögliche sein: Stimmen, Eingeweide, das Summen der Bienen, ein Ort oder der Flug eines Vogels. Das Dumme an der Angelegenheit war nur: Die Orakel waren kompliziert und uneindeutig. Man brauchte für ihre Auslegung also geeignetes Fachpersonal.

Wenn es besonders knifflig und bedeutsam wurde, kam die Inspirationsmantik zum Einsatz. Ein inspirierter Seher spürte dem Willen der Götter nach und überließ es dann einem Propheten, die Angelegenheit dem gemeinen Volke auseinanderzusetzen. Beide konnten je nach den Umständen in die Zeichen hineininterpretieren, was sie wollten. Und das war der unschlagbare Vorteil des Verfahrens.

Olaf Scholz als Philosophenkönig

Wie die Griechen das Orakel von Delphi hatten, hat Deutschland mit Jürgen Habermas das Orakel vom Starnberger See. Auch bei ihm braucht es mitunter Auslegungskünste, um zu ermitteln, was er eigentlich sagen will. Vor wenigen Tagen, kurz nach Veröffentlichung eines Manifestes von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht (Die Linke), mischte er sich erneut in die Debatte um die Ukraine ein. Und alle zusammen forderten in zeitlicher Koinzidenz, mit Putin endlich in Verhandlungen über einen Frieden in der Ukraine einzutreten.

Das alles mag ein Zufall sein, aber dann ist es ein ziemlich zufälliger Zufall. Bereits im April des vorigen Jahres ereignete sich nämlich haargenau dasselbe. Auch damals initiierte Alice Schwarzer einen offenen Brief gegen die Fortsetzung des Krieges in der Ukraine, den Habermas nicht offiziell unterstützte. Stattdessen äußerte er sich nahezu zeitgleich ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung mit einer eigenen Intervention und im selben Sinne zu Wort. 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verklärte er darin in einem nahezu polit-erotischem Ausmaß für „sachlich umfassend informiert“ und „reflektiert“, dass man hätte meinen können, Deutschland würde von einem platonischen Philosophenkönig regiert. Gleichzeitig kanzelte der alte weiße europäische Philosoph die amtierende Außenministerin ab: Baerbock sei einer „spontanen“, „unvermittelten“, „kurzschlüssigen“ Identifizierung mit dem Schicksal der Ukrainer erlegen, und das sei Folge der Tatsache, dass sie eben zu jenen „Jüngeren“ gehöre, „die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden sind“ und die „ihre Emotionen nicht verstecken“. 

Sexismus in philosophischem Gewande

Hier der alte, weise, reflektierte, erfahrene Mann; dort die junge, emotionale, unreflektierte, naive Frau. Wohl selten hat dieser Tage ein Mann derart paternalistisch und im Rahmen sexistischer Vorurteile argumentiert und dafür auch noch Beifall bekommen. Aber das Kalkül dahinter war klar: Während Baerbock seinerzeit für Waffenlieferungen trommelte, war Scholz offiziell mehr als zurückhaltend. Und was Habermas offenbar nicht wollte, waren Waffenlieferungen. 

Das schrieb er so nicht, weil man ihn daran hätte vielleicht irgendwann messen können – dazu übrigens später mehr. Aber das brauchte der sprachgewandte Intellektuelle auch nicht, um sein Ziel dennoch zu erreichen. Es reichte hin, Scholz in den Olymp zu heben und gleichzeitig die Außenministerin mit ein paar abwegigen argumenta ad hominem zu überziehen. Für gewöhnlich reicht das aus, um Positionen beim Publikum auch ganz ohne Argumente in der Sache zu diskreditieren. Statt für Waffenlieferungen plädierte Habermas schon damals dafür, einen „für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss“ auszuhandeln. Nach Lage der Dinge wäre das allerdings auf eine Teilkapitulation der Ukraine hinausgelaufen. 

Im Westen nichts Neues

Jetzt, wo sich Habermas’ Hoffnungen um Bundeskanzler Scholz mit der Lieferung schwerer Panzer offenkundig erledigt haben, legt dieser noch einmal nach. Im Grunde hat er dabei nichts zu sagen, was er nicht schon vor Monaten gesagt hatte: Wegen der immer weiter zunehmenden Waffenlieferungen könne man nämlich „mehr oder weniger unbemerkt über die Schwelle zu einem dritten Weltkrieg hinaustreiben“. Und den Westen treffe auch eine „moralische Mitverantwortung“ für das durch seine Waffenlieferungen ausgelöste Leid. Welches Leid durch die Nicht-Waffenlieferung hätte ausgelöst werden können, beschweigt der Philosoph und fordert stattdessen erneut sofortige Friedensverhandlungen. Hätte die Welt allerdings bereits im April 2022 auf den Philosophen gehört, stünden bedeutende Teile der Ostukraine heute wohl immer noch unter russischer Besatzung.

Der aktuelle Text „Ein Plädoyer für Verhandlungen“ ist dabei wieder einmal ein echter Habermas. Im Grunde werden bloß Banalitäten mit der Weihe gedrechselter Sprache versehen, um ihnen so mehr Gewicht zu verleihen. Der Kern der Argumentation: „Wenn der Ausbruch bewaffneter Konflikte nicht durch schmerzhafte, auch für die Verteidiger des gebrochenen internationalen Rechts selbst schmerzhafte Sanktionen verhindert werden kann, ist die gebotene Alternative – gegenüber einer Fortsetzung des Krieges mit immer mehr Opfern – die Suche nach erträglichen Kompromissen.“ Wahrscheinlich wurde in der jüngeren Geschichte der Philosophie auf keine schönere Weise die Kapitulation vor dem Recht des Stärkeren erklärt. Des Philosophen dringende Empfehlung: Man solle doch einfach auf eine Kompromisslösung drängen, „die der russischen Seite keinen über die Zeit vor dem Kriegsbeginn hinausreichenden territorialen Gewinn beschert und doch ihr Gesicht zu wahren erlaubt.“ 

 

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Nun hat der Krieg aber eigentlich im Jahre 2014 mit der Annexion der Krim begonnen, im September 2022 wurden außerdem mehrere ost- und südukrainische Gebiete zu russischem Staatsgebiet erklärt. In ihrem strengsten Verständnis liefe die Empfehlung von Habermas daher darauf hinaus, dass er sich der ukrainischen Position zu 100 Prozent anschließt. Und die lautet: Ein Friedensvertrag ist möglich, wenn sich Russland komplett aus der Ukraine zurückzieht.

Aber auch dann, wenn Habermas den Krieg erst im Februar 2022 beginnen lässt, bleibt völlig rätselhaft, wie Putin mit bloßen Worten dazu bewegt werden könnte, die nunmehr zu russischem Staatsgebiet erklärten Gebiete der Ukraine wieder zurückzugeben und dabei zugleich sein „Gesicht zu wahren“. Freilich liefert Habermas für dieses Rätsel auch keine Interpretationshilfen und keine Hinweise. Wahrscheinlich, weil er weder das eine noch das andere hat. Es bleibt nur eine Frage: Warum fühlt sich ein Philosoph eigentlich dazu bemüßigt, der Politik Ratschläge zur Lösung ausweglos erscheinender Sachfragen zu geben, obwohl er offenkundig keine Kompetenz dafür besitzt und ihm die dafür erforderlichen Informationen fehlen?

Die Süddeutsche Zeitung als Prophet des Sehers

Auch die Süddeutsche Zeitung hat das wohl erkannt und dem Text, wie schon im April 2022, vorsichtshalber eine redaktionelle Interpretation beigesellt. Ganz nach antikem Muster gibt der Philosoph den göttlich inspirierten Seher, der einen auslegenden Propheten braucht, um vom Volk überhaupt verstanden werden zu können. Und Habermas’ Prophet heißt Kurt Kister. Nur: Was ist eigentlich von einem Text zu halten, der es nicht schafft, für sich selbst zu sprechen? Ganz einfach: Man hätte ihn am besten gar nicht erst gedruckt.

Kister gibt zwar zu, dass Habermas’ Text alles andere als „analytisch“ ist. Das bedeutet so viel wie: dass es ihm nicht gelingt, den eigentlichen Erkenntnisgegenstand zu zerlegen, um anschließend klarer zu sehen als zuvor. Aber genau das müsste man von einem kritischen „Erzintellektuellen“, einem „Theoretiker hohen Grades“, wie Kister Habermas umschmeichelt, doch eigentlich erwarten dürfen. Und so begründet Kister auch weniger mit der Qualität des Textes, mit der Stringenz der Argumentation dessen Abdruck als mit der generellen Bedeutung des Autors. Er sei ja immerhin der „weltweit bekannteste lebende deutsche Philosoph“. Mag sein, mag sein. Aber hat er, in der Sache, auch etwas Bedeutsames zu sagen?

Habermas’ dräuender Hinweis jedenfalls, wer Waffen liefere, trage auch eine „moralische Mitverantwortung“ für das, was mit ihnen geschehe, ist an Banalität schwer zu überbieten. Ganz ähnlich ist es mit dem Gedanken, dass ein Krieg, je länger er dauert, um so unerträglicher wird. Nur kann es eben Umstände geben, unter denen seine Nicht-Fortsetzung noch viel unerträglicher wäre – und die Nicht-Lieferung von Waffen ebenfalls. Man muss sich, um das zu verstehen, nur ein wenig in die Gemütswelt der USA während des Zweiten Weltkrieges versetzen. Hätte Präsident Roosevelt tatsächlich keine Waffen an Stalin liefern sollen, um Hitler zu besiegen und um das Leid der Zivilbevölkerung nicht weiter zu strapazieren? Wirklich? Aber das sind Gedanken, denen sich Jürgen Habermas konsequent verweigert.

Der Philosoph des entschiedenen „Vielleicht!“

Habermas ist dabei der Intellektuelle des konsequenten Sowohl - Als auch, des Entweder - Oder, des Einerseits - Andererseits. Er ist der Meisterdenker des entschiedenen sozialdemokratischen: „Vielleicht!“ Natürlich könne die Ukraine gegen Russland militärisch nicht „siegen“, aber „verlieren“ dürfe sie natürlich auch nicht. Natürlich sei der Angriff Russlands auf die Ukraine menschenverachtend und „völkerrechtswidrig“, aber natürlich könne die Reaktion Russlands auch als eine berechtigte Reaktion auf die Verletzung der russischen Sicherheitsinteressen durch den Westen interpretiert werden. Natürlich könnten Waffenlieferungen den Dritten Weltkrieg auslösen und sollten daher lieber unterbleiben, aber ebenso erfolge die Lieferung von Waffen an die Ukraine natürlich „aus guten Gründen“.

Was Kister als dialektisch verklärt, ist in Wahrheit ein Denken, das auf klare Urteilsprinzipien verzichtet – und genau deshalb schwer zu fassen und zu kritisieren, aber genau deshalb anschlussfähig in alle politischen Himmelsrichtungen ist. Und es ist zugleich genau dieser Grund, warum Habermas als politischer Ratgeber nicht taugt, nicht taugen kann. Politik kann sich nicht am ewigen Vielleicht, am widersprüchlichen Hin und Her wärmen, sondern muss sich irgendwann bekennen und unmissverständlich „Nein“ oder „Ja“ sagen. Und Verantwortung übernehmen. Ein Philosoph muss das nicht. 

Aber wer sich klar positioniert, macht sich angreifbar. Und das will Habermas nicht – schon lange nicht. Er möchte der deutsche Philosoph mit Weltgeltung sein und bleiben. Seine politisch intervenierenden Texte sind stets wie opulente Präsentkörbe. Ob Leberwurst oder Linsenpastete: Sowohl für Karnivoren als auch Veganer ist immer etwas dabei. Kein Wunder daher, dass er sich vor einer klaren Positionierung ziert und die Initiativen von Alice Schwarzer nie offiziell unterstützt hat. Dann ginge es ihm am Ende vielleicht wie Harald Welzer und Richard David Precht. Auch diese medial verwöhnten Autoren hatten Mühe damit zu ertragen, dass sie in Sachen Ukraine einmal nicht die Lieblinge des Feuilletons waren.

Die Macht des Zeitgeistes

Wie anpassungsbereit an den Zeitgeist Habermas mitunter sein kann, zeigt dabei das Jahr 1999. Damals intervenierte die Nato militärisch in Jugoslawien – und zwar ganz ohne völkerrechtliches Mandat des UN-Sicherheitsrates. Für Habermas war das damals kein Problem, weil Geist und institutionelle Realität des Völkerrechts aus seiner Sicht zu sehr auseinander fielen. Die Nato wäre seinerzeit also moralisch berechtigt gewesen, dem Weltgeist mit militärischen Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen.

So, wie Wladimir Iljitsch Lenin im Jahre 1917 dem Verlauf der Weltgeschichte mit Hilfe einer Revolution etwas auf die Sprünge helfen wollte, sah es Habermas auch mit dem Kosovo. Der Kosovo-Krieg könne einen „Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft bedeuten“. Der von politisch rechter Seite immer wieder erhobene Vorwurf, die Menschenrechte dienten dem Westen bloß als Instrument zur Legitimierung militärischer Interventionen, hätte wortgewaltiger kaum bestätigt werden können.

Habermas’ Haltung war damals also ganz klar und klingt heute ganz anders als das, was er in Sachen Ukraine heutigentags zum Besten gibt. Seinerzeit bekannte er noch unzweideutig, dass es trotz Fehlens eines Mandats des Sicherheitsrates moralisch keinesfalls geboten sei, „die Opfer ihren Schergen zu überlassen. (…) Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur völkerrechtlich legitimierten Nothilfe eilen dürfen.“ 

Als Rechtfertigung für diesen außergewöhnlichen, durch Habermas legitimierten Bruch des Völkerrechts galt seinerzeit der so genannte „Hufeisenplan“ zur Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo. Bis heute konnte dessen tatsächliche Existenz allerdings nicht nachgewiesen werden.

Man tut daher vielleicht besser daran, auf Seher und Propheten künftig einfach zu verzichten. Die können aus dem Vogelflug oder Eingeweiden ohnehin alles schlussfolgern, was sie wollen. Und viel zu oft heulen sie einfach mit den Wölfen.

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