George Friedman über die aktuellen ukrainischen Kriegserfolge - „Eine Niederlage kann Putin sich nicht leisten“

Im Kampf gegen die russischen Invasoren hat die ukrainische Armee in den vergangenen Tagen beachtliche Geländegewinne erzielt. Doch ein endgültiger Sieg ist deswegen noch lange nicht in Sicht. Denn Russland bleibt kaum eine andere Möglichkeit, als weiterzukämpfen. Es ist damit zu rechnen, dass Putin schon bald die Anzahl seiner Soldaten massiv erhöht.

Ein ukrainischer Soldat nach der Rückeroberung von Territorium nahe Charkiw / picture alliance
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Autoreninfo

George Friedman, 74, ist einer der bekanntesten geopolitischen Analysten der Vereinigten Staaten. Er leitet die von ihm gegründete Denkfabrik   Geopolitical Futures  und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien „Der Sturm vor der Ruhe: Amerikas Spaltung, die heraufziehende Krise und der folgende Triumph“ im Plassen-Verlag.

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Während des Zweiten Weltkriegs brauchte man nur „der Krieg“ zu sagen, damit die anderen wussten, worum es geht. Mit dem russisch-ukrainischen Krieg sind wir inzwischen an demselben Punkt angelangt. Die Russen hatten nicht erwartet, dass es so kommen würde. Sie rechneten mit einem schnellen Ende ihrer „Spezialoperation“, weil sie ihr Militär als dem der Ukrainer eindeutig überlegen ansahen. 

Wohl keine Nation beginnt einen Krieg in der Annahme, dass sie ihn verlieren wird. Kriege werden immer mit der gleichen Erwartung vom Zaun gebrochen: hart zuschlagen und an Weihnachten zu Hause sein. Aber die Historie ist voller Geschichten über große Armeen und große Krieger, die lange und verzweifelte Schlachten geschlagen haben. Und die Geschichte der Kriegsführung ist voll von Beispielen, in denen kühne Erwartungen auf die bittere Realität treffen.

Es ist noch lange nicht klar, wie der Ukrainekrieg ausgehen wird. Die anfängliche russische Offensive scheiterte weniger an den ukrainischen Streitkräften, so tapfer sie auch gewesen sein mögen, als an einer schlecht entwickelten russischen Strategie, die zu Versorgungsengpässen und Befehlsfehlern führte. Die Russen formierten sich dann neu und konzentrierten sich auf bescheidenere Vorstöße – in der Erwartung, dass sie mit der Zeit die ukrainischen Streitkräfte brechen und, wenn nicht die ganze Ukraine, so doch zumindest einen beträchtlichen Teil davon besetzen würden.

Nachrichtendienstliches Versagen

Die Ukrainer sind jedoch nicht gebrochen. Kriege werden von Soldaten geführt, aber auch mit Waffen und Wissen; selbst die tapfersten Soldaten würden sonst scheitern. Jetzt erleben die Russen ihr eigenes nachrichtendienstliches Versagen. Sie wussten, dass die Vereinigten Staaten in der Lage sind, Waffen von Weltrang einzusetzen – glaubten aber, dass eine Ausrüstung der Ukraine Zeit in Anspruch nehmen würde. Also musste es ein kurzer Krieg sein. Und als es nicht gelang, einen schnellen Sieg zu erringen, wurden die Ukrainer mit einem außergewöhnlichen Arsenal an hochmodernen Waffen ausgestattet, die in immer größerer Zahl und Art geliefert wurden.
 

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Die Vereinigten Staaten verschafften der ukrainischen Armee Zeit, um sich von einer leichten Infanterietruppe, mit der der Krieg begann, zu einer Armee zu entwickeln, die in vielerlei Hinsicht einer Großmacht gleicht. Luftabwehrsysteme zwangen die Russen zur Vorsicht, Panzerabwehrsysteme veranlassten sie, sich auf die Bewegung der Infanterie zu konzentrieren. Und die amerikanische Artillerie ermöglichte es den Ukrainern, Artillerie-Duelle zu gewinnen. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte mehrfach, der Krieg richte sich nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die Vereinigten Staaten. In Wirklichkeit hatte er damit Recht, auch wenn es nur als Propaganda gemeint war.

All dies ist genauso zutreffend wie irreführend. Der Krieg ist nicht vorbei, und die Ukraine hat nicht gewonnen, auch wenn die jüngsten Fortschritte beachtlich sind. Niemand hätte geglaubt, dass die Ukraine den russischen Angriff in den ersten Monaten überstehen könnte. Aber das hat sie. Die Russen reorganisierten ihre Kommandostruktur, führten überlegene Panzer ins Feld und zwangen ihren Truppen eine strenge Disziplin auf. Sie zahlten einen hohen Preis dafür, aber mit der Zeit haben sie den Krieg neu definiert.

Völlige Niederlage ist unwahrscheinlich

Jetzt müssen sie ihr Gleichgewicht wiederfinden. Einerseits befinden sie sich in einer weitaus besseren Verfassung als im Jahr 1941. Eine völlige Niederlage ist sehr unwahrscheinlich, und die Russen können den Zeitpunkt und den Ort ihrer Angriffe wählen. Andererseits befinden sie sich in einer viel schlechteren Verfassung als dereinst. Denn sie stehen nicht in einem Kampf auf Leben und Tod gegen einen monströsen Feind. Die Soldaten verteidigen nicht ihre Ehefrauen und Eltern vor einem unsäglichen Schicksal. Und es kann eine Armee manchmal zerstören, wenn sie für Ziele kämpft, die den Truppen nicht am Herzen liegen. Wenn die Soldaten ihre Gewehre wegwerfen, ist das kein Affront gegenüber ihren Familien.

Die Russen kämpfen mit all diesen Gedanken im Hinterkopf. Sie kämpfen nicht nur, um das Unvermeidliche hinauszuzögern, denn je länger ein Krieg dauert, desto höher ist der Preis, den die Anführer zahlen. Putin kann es sich nicht leisten, diesen Krieg zu verlieren, ebenso wenig wie die vielen anderen, die ihn mit geplant haben. Bevor sie also feiern, müssen die Ukrainer und die Amerikaner ihren nächsten Zug kalkulieren, wobei sie davon ausgehen, dass Russlands nächster Schritt der Zusammenbruch oder die Kapitulation ist – beide Szenarien erachte ich übrigens als unwahrscheinlich.
 

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Worauf die die Russen womöglich setzen, ist ein sehr kalter Winter in Europa, der wegen der Energiekrise zu einem Zusammenbruch der europäischen Unterstützung führen könnte. Aber in diesem Stadium des Krieges spielt das keine große Rolle. Europas Hilfe für die Ukraine ist ermutigend, hat aber nur eine minimale militärische Bedeutung. Die USA und die Ukraine werden nicht aufhören zu kämpfen, sollte der Rest Europas wackeln.

Eine andere Strategie, die die Russen versuchen könnten: China um Unterstützung zu bitten. Aber die Russen sind bereits mit China verbündet, und China hat keine Anstalten gemacht, ihnen zu helfen. Ohnehin sind sich die Chinesen im Klaren über den Wirtschaftskrieg, den die Amerikaner gegen Russland führen – und in Anbetracht seiner eigenen schwierigen wirtschaftlichen Lage, will sich Peking dem nicht stellen.

Frieden aushandeln?

Eine dritte Strategie könnte darin bestehen, den Frieden auszuhandeln. Aber die Russen können nicht an ihre Grenze zurückkehren, wenn sie nur tote Soldaten zu beklagen haben. Die Ukrainer werden keinen Teil ihres Landes abtreten, da sie jede Einigung als vorübergehend betrachten. Eine Verhandlung auf beiden Seiten käme jetzt einer Kapitulation gleich.

Die vierte Strategie ist die einzige, die eine reale Möglichkeit zu sein scheint. Eine Seite muss die andere besiegen. Keine der beiden Seiten kann es sich leisten, einen solchen Angriff scheitern zu lassen. Der russische Vorteil sind die Einsatzkräfte. Aus verschiedenen Quellen, auch aus den USA, wird berichtet, dass eine große Anzahl russischer Truppen im Fernen Osten Russlands trainiert. Die Russen brauchen mehr Truppen, daher sind diese Berichte glaubwürdig. Russland wird eine mit amerikanischen Waffen ausgerüstete ukrainische Armee nicht mit der bisherigen Truppenzahl besiegen können. Die Russen stehen vor der Wahl, mit überwältigender Kraft anzugreifen oder den Krieg zu verlieren. Sie werden sich für Ersteres entscheiden.

Den Russen kommt eine politische und eine militärische Realität zugute. Amerika ist nicht daran interessiert, Russland direkt anzugreifen, weder mit konventionellen noch mit Atomwaffen. Russland kann zurückschlagen. Keine der beiden Seiten will einen direkten russisch-amerikanischen Krieg.

Solange Putin Präsident ist, wird er alles tun, um zu gewinnen, denn weniger als einen Sieg kann er sich nicht leisten. Und ich sehe keine andere Möglichkeit als einen personellen Zuwachs bei der Truppenstärke, von dem ich annehme, dass er sehr bald oder nach dem Winter erfolgen wird. Ich habe nicht den Eindruck, dass die derzeit von Russland eingesetzten Kräfte mehr tun können, als einige Gebiete zu halten. Es muss eine Verstärkung geben. Putin mag andere Strategien haben, aber sie sind schwer vorstellbar.

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