Nachwehen der Parlamentswahl in Frankreich - Warum mit Macron die gesamte EU verloren haben könnte

Nur zwei Monate nachdem Emmanuel Macron als erster Präsident seit 20 Jahren wiedergewählt wurde, die dicke Klatsche. Seine Partei verlor die Mehrheit im Parlament – und das klar und deutlich, auch das erstmals seit über 20 Jahren. Nicht nur Macrons Schlappe ist ein Problem für die Demokratie, schreibt Kay Walter - auch, dass die Mehrheit der Bürger die Wahl zum Nationalparlament für nicht relevant genug erachtete, um überhaupt an der Abstimmung teilzunehmen.

Zwischen Schlappen und Chancen: Emmanuel Macron / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Jetzt, eine Woche nach dem Wahlgang, steht Frankreich noch immer mit großen Fragezeichen im Gesicht vor dem Ergebnis. Und versteht nicht so recht, wie es weitergehen soll. Trotz aller TV-Runden, Zeitungsanalysen, einer Ansprache des Präsidenten und minütlicher Einlassungen aller sich wichtig fühlenden Parteimitglieder jedweder Strömung und Couleur: So richtig Erhellendes ist noch nicht dabei herausgekommen. Schon gar keine Antwort, wie es denn nun weitergehen soll.

Verantwortungsgefühl sieht anders aus

Christian Jacob, Chef der bürgerlich-rechten Les Republicains, die mit 61 Mandaten die viertstärkste Fraktion stellen werden, fühlte sich gar bemüßigt, auf die Frage nach möglicher Zusammenarbeit zu äußern: „Ich bin doch kein Deutscher!“ Natürlich gebe es weder einen Pakt noch eine Koalition. Kompromissfähigkeit und Verantwortungsgefühl sehen anders aus.

Um die Schockstarre zu überwinden, hilft ein Blick auf die Fakten. In der 16.Nationalversammlung der Fünften Republik wird, wenn sie sich am Dienstag konstituiert, keine Partei über eine ausreichende Mehrheit verfügen. Das hat es in Frankreich so noch nie gegeben. Seit der letzten Verfassungsreform 2002 hatten alle Präsidenten in der Assemblée die absolute Mehrheit.

Ensemble, das Bündnis hinter Macron gewann 245 Sitze, was den Verlust von mehr als 100 Mandaten bedeutet, und scheiterte damit klar an der Mindestzahl einer absoluten Mehrheit von 289 Sitzen. Macrons eigene Partei erreichte 160 dieser 245 Mandate. Das macht sie deutlich zur relativ stärksten Gruppe – aber eben auch nicht mehr. In Deutschland normal, in Frankreich eine Ohrfeige. Die Wahl war so etwas wie eine Bestrafung Macrons für seine Wiederwahl.

Ein Schock für das Land

Da der Begriff immer wieder fällt: Es kann auch keine „cohabitation“ geben. Kohabitation meint die Situation, dass im Parlament eine echte Mehrheit gegen den amtierenden Präsidenten besteht, die diesen zwingt, die Macht mit dem gegnerischen politischen Lager zu teilen. Das ist keine zutreffende Beschreibung der Lage. 

Vielmehr ist keine Partei und auch kein Parteienbündnis ist in der Lage, eine tragfähige Mehrheit im Parlament herzustellen. Das ist für ein Land, das so vollständig auf regierungsfähige Mehrheiten ausgerichtet ist, ein Schock, nachgerade unvorstellbar. Es gibt bislang keine Kultur des Kompromisses, gar einer lagerübergreifenden Zusammenarbeit. Im Gegenteil, Absprachen und Kompromiss gelten als Zeichen der Schwäche, als Verrat an den jeweiligen Idealen. In Frankreich bricht also notgedrungen eine neue Zeit an. Der Präsident hat in seiner Rede an die Nation staatsbürgerliche Verantwortung bei allen Parteien angemahnt. Ob das jemand ernst nimmt?

 

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Vermeintliche große Erfolge 

Das Linkbündnis Nupes von Jean-Luc Mélenchon geriert sich mit 133 Abgeordneten als stärkste Oppositionskraft. Das ist objektiv Quatsch. Schon am Tag nach der Wahl ist das Bündnis faktisch auseinandergebrochen. Mélenchon war zwar das Kunststück gelungen, die Linke für die Wahl hinter sich zu sammeln, aber in die neue Assemblée ziehen die Parteien wieder in getrennten Gruppen, jede für sich allein. Offensichtlich hatte man vor der Wahl keine diesbezügliche Vereinbarung getroffen. Ein seltener Grad politischer Naivität. Nach der Wahl ist der interne Druck in allen Teilen von Nupes so groß geworden, dass der Laden nicht länger zusammenzuhalten war. Auch, weil Jean-Luc Mélenchon selbst der Fraktion nicht angehören wird. Er hatte gar nicht erst kandidiert.

Die Linke bejubelt die Quasi-Verdoppelung der eigenen Mandate von insgesamt 72 im Jahr 2017 auf nun 133. Sieht auf den ersten Blick auch nach einem großen Erfolg aus. Allein, das ausgerufene Wahlziel war, Mélenchon solle Premierminister werden. Und davon ist die Linke himmelweit entfernt. Ja, es ist eine Verdoppelung – ausgehend vom historischen Tiefststand –, aber gleichzeitig auch nicht einmal halb so viel wie nötig gewesen wäre, um Macron zu zwingen, Mélenchon zum Premierminister zu ernennen. Davon ist die Linke de facto erheblich weiter entfernt als das Macronlager. Selbst wenn alle 133 Nupes-Abgeordneten gemeinsam mit dem rechtsradikalen Rassemblement National von Marine Le Pen abstimmten – was ausgeschlossen ist –, käme noch immer keine Sperrminorität im Parlament heraus, sondern weniger Stimmen als Pro-Macron.

Frankreich wird sich nachhaltig verändern

Und damit zur eigentlichen Wahlsiegerin Marine Le Pen. Die hat Grund zu Lachen. Mit ihr persönlich ziehen elfmal mehr Ultrarechte ins neue Parlament ein als zuvor. Hatte 2017 der sogenannte cordon sanitaire gegen die Rechtsradikalen gehalten und dem RN nur acht Mandate ermöglicht, hat dieses Mal nicht nur die Parteichefin ihr Mandat mit rund 62 Prozent gewonnen. Die Partei hat das Gros aller Stichwahlen, in der sie vertreten war, erfolgreich bestritten, egal ob gegen Kandidaten der Linken oder der bürgerlichen Mitte und das häufig mit Ergebnissen oberhalb von 60 Prozent. Das wird Frankreich nachhaltig verändern.

Viele Franzosen halten die Le Pen Partei unterdessen für satisfaktionsfähig, obwohl die sich bis heute nicht gegen den Vernichtungskrieg von Putins Russland gegen die Ukraine aussprechen mag. Ein Fünftel der Wahlberechtigten wünscht sich laut Umfragen aus der Woche gar eine Zusammenarbeit von Macron und Le Pen. Sie ist die bei weitem stärkste Figur der Opposition und sie wird es sein, die den Präsidenten vor sich hertreibt. Le Pen wird die zwingend notwendige Rentenreform torpedieren und versuchen, sich an die Spitze aller sozialen Protestbewegungen zu setzen.

Niemand ist kompromissbereit 

Die Schlappe für Präsident Macron ist ein massives Problem für die Demokratie. Man könnte ja positivistisch annehmen, das Novum eines Parlaments ohne feste Mehrheit müsse mehr Streit, aber auch mehr Dialog und Kompromiss erzwingen und sei deshalb geeignet, zu einer Stärkung von Parlamentarismus und Demokratie beizutragen. Dafür bräuchte es aber mehr Menschen, die eine ergebnisorientierte Diskussion für einen positiven Wert halten. Machtfragen werden in der französischen Politik noch immer für wichtiger erachtet als die Suche nach einer für alle Seiten tragfähigen Lösung. Die Hoffnung bleibt.

Ungewöhnlich häufig wird derzeit auf Deutschland verwiesen, „wo Koalitionen und der Interessenausgleich der Normalfall“ seien. Aber noch geschieht das zumeist in einer Tonalität, die so klingt, als sei das in Deutschland quasi gottgegeben, in Frankreich dagegen unerreichbar. Auch der Appell von Präsident Macron an die staatspolitische Verantwortung aller ist bislang ohne Widerhall.

Bei Christian Jacobs Konservativen liegt das daran, dass einige der 61 Deputierten Marine Le Pen ideologisch näherstehen als dem Präsidenten. Namhafte Regionalfürsten wollen dagegen auf Macron zugehen. Jacob droht eine Zerreißprobe in der eigenen Fraktion.

Die 26 sozialistischen Abgeordneten der PS wiederum reichen nicht aus, um Macrons Partei zu einer stabilen Mehrheit zu verhelfen, selbst wenn die zusätzlichen sechs Mitglieder der PS noch zur Fraktion stießen, die gegen das Votum ihrer Partei eigenständig kandidiert und ihre Wahlkreise gewonnen haben.

Die Chance für Macron 

Die komplizierte Gemengelage könnte auch der Präsident nutzen. Es entspricht der Verfassung, dass er allein und qua Amt durchregiert. Und nur die mehrheitliche Ablehnung seiner Politik im Parlament könnte ihn bremsen. Dass diese Anti-Mehrheit zustande kommen könnte, ist nicht erkennbar. Aber für die Demokratie wären solche Alleingänge ohne parlamentarische Absicherung wahrlich wenig förderlich. Es ist ungewiss, ob Macron für sein zentrales innenpolitisches Thema, die wirtschaftlich notwendige Rentenreform, das Wagnis eingeht. 

Klüger wäre es, ein Paket von konkreten Vorschlägen vorzulegen, das von Ökologie über Stärkung der Kaufkraft bis Gesundheits- und Schulreform reicht, und Parlament und alle Parteien damit zu zwingen, Farbe zu bekennen. Dann würde sich zeigen, wer reformieren will und wer blockiert. Damit könnte Macron dann, trotz der schweren persönlichen Schlappe, der Demokratie seines Landes einen echten Dienst erweisen: Frankreich herauszuführen aus dem bequemen Verharren in den „Gräben der reinen Lehre“ und hin zu einer modernen, diskursiven Demokratie. 

Nationalismus bis hin zum dezidierten Deutschenhass

Ein erster Schritt in diese Richtung war die Ankündigung von Aurore Bergé, Fraktionsvorsitzende von Macrons LREM sein, dem Recht auf Abtreibung Verfassungsrang zu geben. Der zweite, dass Macron am Wochenende beim G7-Gipfel auf Schloss Elmau verkündete, erstens bleibe Élisabeth Borne seine Premierministerin und er werde zweitens in der ersten Juliwoche mit den Parteivorsitzenden von Konservativen bis Kommunisten erneut ausloten, bei welchen Themenbereichen „eine aktive Zusammenarbeit“ möglich sei. Wer immer dem Aktionsbündnis beitreten wolle, könne im Gegenzug mit Posten am Kabinettstisch rechnen.

Denn schafft Macron es nicht, die Blockade aufzuweichen, wäre der Präsident auch außenpolitisch beschädigt. In der Ablehnung der EU sind sich Rechts- und Linksradikale einig, manche auch in einem dezidierten Deutschenhass. Sie wollen Frankreich zu mehr Binnenschau zwingen und zu größerer Distanz zu Deutschland. Diese nationalistische Sicht führt objektiv zur Verzwergung und schadet den Interessen beider Länder. 

Eine geschwächte EU wäre gut für Putin 

Ob Macron Reformmotor und Streiter für Erneuerung und Verbesserung der EU bleiben kann, ist nicht ausgemacht. An seiner Einsicht, dass Deutschland und Frankreich eng zusammenarbeiten müssen – um der je eigenen ökonomischen und politischen Interessen willen – hat sich nichts geändert. Ob er das durchhalten kann, ist die Frage.

Damit wird auch die EU zu einem potenziellen Verlierer der französischen Parlamentswahl. Die selbstbewussten Auftritte Macrons auf internationalem Parkett werden schwieriger, erst recht die Wucht seines Eintretens für europäische Eigenständigkeit. Freuen dürfte sich darüber nicht zuletzt der Herr im Kreml. Ein schwächeres Europa wäre gut für Putin.

Macrons zweite fünfjährige Amtsperiode ist erst wenige Wochen alt. Schon jetzt wird er einen Befreiungsschlag brauchen, um sie zu einer erfolgreichen zu machen. Das wäre nicht allein in seinem Interesse. 

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