Migration aus Afghanistan - Mission grenzenlos

Seit sich der Westen aus Afghanistan zurückgezogen hat, wächst der Migrationsdruck Richtung Deutschland. Das Auswärtige Amt will möglichst großzügig sein – trotz Widerstands aus Sicherheitsbehörden.

Afghanische Migranten nach ihrer Ankunft in Europa / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Diese Bilder gingen um die Welt: Als die Amerikaner und ihre westlichen Verbündeten im August 2021 Hals über Kopf ihre Truppen aus Afghanistan abzogen, stürmten verzweifelte Afghanen das Rollfeld des Flughafens Kabul. Sie liefen vor und neben einer startenden Transportmaschine der U.S. Air Force her. Einige kletterten sogar auf das Fahrwerk, klammerten sich daran fest. Das Flugzeug hob dennoch ab. Mehrere dieser Menschen kamen ums Leben.

Diese und andere chaotische, lebensgefährliche Szenen am Flughafen Kabul stehen geradezu sinnbildlich für den gescheiterten Afghanistan-Einsatz, an dem auch die Bundeswehr fast zwei Jahrzehnte lang beteiligt war. Und sie stehen für eine Frage, die in Deutschland hoch umstritten ist: Welche Verpflichtungen hat die Bundesrepublik gegenüber zurückgelassenen Afghanen, die nun unter dem Taliban-Regime leiden? Wen kann, soll oder muss man aus humanitären Gründen aufnehmen? 

Steigende Migration aus Afgahnistan

Rund 31.100 afghanische Staatsangehörige hat Deutschland seit der Machtübernahme der Taliban bereits aufgenommen. Zumindest ist das die Zahl der offiziell ausgestellten Visa. Hinzu kommen jene Afghanen, die sich ohne Einreiseerlaubnis auf den Weg machen, um einen Asylantrag in Deutschland zu stellen. Und während die Bundesregierung kaum Anstalten macht, diese illegale Migration zu begrenzen, arbeitet sie an einer Verstetigung der legalen Einwanderung aus Afghanistan.

Cicero-Recherchen zeigen, wie das Auswärtige Amt in enger Zusammenarbeit mit Aktivisten versucht, eine möglichst schnelle und großzügige Aufnahme von Afghanen durchzusetzen. In Sicherheitsbehörden stößt dies zunehmend auf Argwohn. Denn für diejenigen, die ohnehin von einer Welt ohne Grenzen träumen, scheinen gefälschte Pässe oder erfundene Verwandtschaftsverhältnisse keine Rolle zu spielen. Das zeigt der Fall Mohammad G.

 

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Der Familiennachzug ist eigentlich nur für Ehepartner, Kinder und Eltern von Minderjährigen vorgesehen. In besonderen Härtefällen sind aber Ausnahmen für andere Verwandte möglich. Darauf setzt Khan G., der bereits in Deutschland lebt. Nun will er seinen kleinen Bruder Mohammad nachholen.

Mohammads Geschichte

Der Fall landete vor dem Verwaltungsgericht Berlin. Die Geschichte, die Khan G. dort in Begleitung einer Kanzlei für Migrationsrecht vortrug, war herzzerreißend. Sein 14-jähriger Bruder sei aus Afghanistan ins benachbarte Pakistan geflohen und lebe auf der Straße. Er leide an einer Augenverletzung, Bombensplitter hätten ihn dort getroffen. Nun brauche er Medikamente, aber da er sich illegal in Pakistan aufhalte und keine Papiere habe, könne er keinen Arzt aufsuchen. 

Für die Vertreter des Auswärtigen Amtes klang diese Geschichte offenbar überzeugend. Sie erklärten sich dazu bereit, das begehrte Visum für den Familiennachzug zu erteilen, „sofern eine erneute Sicherheitsabfrage keine Bedenken ergibt“. Das Gerichtsverfahren endete mit einem Vergleich. So wie es in solchen Visa-Streitfällen häufiger geschieht.

Doch dann geschah etwas Ungewöhnliches: Die deutsche Botschaft in Islamabad weigerte sich, Mohammad G. das Visum auszustellen. Man hatte dort offenbar Zweifel an der Identität des Antragstellers. Denn Mohammad G., der laut seinem Bruder keine Dokumente hat, legte den Beamten einen Pass vor. Und dieser Pass stellte sich bei einer Überprüfung durch Fachleute als gefälscht heraus.

Unterstützt durch NGOs

Aus Berlin kam dennoch die Ansage: beide Augen zudrücken. Das Auswärtige Amt erteilte seiner Auslandsvertretung in Pakistan die förmliche Weisung, Mohammad G. trotz seines gefälschten Passes die Einreiseerlaubnis nach Deutschland zu erteilen. Die Botschaftsmitarbeiter in Islamabad haben diese Weisung abgelehnt. Wie der Fall ausgeht, ist offen. Die Behörden wissen weder, ob der junge Mann wirklich Mohammad G. heißt und wie alt er ist, noch ob Khan G. sein echter Bruder ist.

Zweifel sind angebracht. Denn nicht nur der Pass ist falsch, auch die Angaben der angeblichen Brüder sind voller Widersprüche. Ein Beispiel: Khan G. gibt vor dem Verwaltungsgericht zu Protokoll, Mohammads Augenverletzung sei auf einen Luftangriff auf den Hof ihrer Familie zurückzuführen. In anderen Dokumenten heißt es hingegen, die Verletzung resultiere aus einem Schusswechsel zwischen Taliban-Kämpfern und US-Soldaten. 

Dieser Fall ist nur einer von vielen, in denen das Auswärtige Amt trotz Ungereimtheiten Visa vergeben will. Oft sind es Afghanen, die ein Unterstützernetzwerk in Deutschland haben, das sie bei den Klagen gegen abgelehnte Anträge unterstützt.

Sogenannte Nichtregierungsorganisationen (NGOs) machen seit dem Abzug der Bundeswehr politischen Druck, damit Deutschland möglichst schnell und möglichst viele Afghanen aufnimmt. Während deutsche Sicherheitsbehörden deren Wirken eher kritisch sehen – schließlich birgt die Aufnahme von Personen aus Krisengebieten mit unklarer Identität stets Risiken –, haben die NGOs im Auswärtigen Amt Verbündete auf höchster Ebene.

Kabul Luftbrücke

Zwei Wochen nach ihrem Amtsantritt telefonierte Außenministerin Annalena Baerbock mit Theresa Breuer, Mitgründerin und mediale Gallionsfigur der Initiative Kabul Luftbrücke. Es war kurz vor Weihnachten 2021. Zum Inhalt des Telefonats teilt das Auswärtige Amt lediglich mit: „An diesem Tag hat die Ministerin den Aktionsplan Afghanistan vorgestellt und hat sich dazu mit Frau Breuer ausgetauscht.“ Grünen-Politikerin Baerbock versprach damals vor der Kamera, „die gezielte Ausreise für besonders schutzbedürftige Personen“ zu beschleunigen, und sagte: „Wir werden auch in dem Bereich daher unsere Arbeit stärker mit der Zivilgesellschaft vernetzen.“ Die Außenministerin kündigte an, „dass wir einen regelmäßigen Austausch einrichten werden, um uns gemeinsam besser abzustimmen und unsere Kräfte zu bündeln“.

Dieser Ankündigung folgten Taten. Anfang März, zweieinhalb Monate später, empfing Baerbock gemeinsam mit der sozialdemokratischen Innenministerin Nancy Faeser Vertreter mehrerer Organisationen, die sich für die Aufnahme von Afghanen in Deutschland einsetzen, darunter auch Kabul Luftbrücke. Es war der Auftakt eines Konsultationsprozesses zum Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan.

Kabul Luftbrücke gibt es seit August 2021. Als die Taliban Kabul überrannten, rief eine kleine Gruppe in Berlin die Initiative ins Leben. Aktivisten der Seenot­rettungsorganisation Sea Watch, der Grünen-Politiker Erik Marquardt und die Journalistin und Filmemacherin Theresa Breuer organisierten einen Charterflug, um Gefährdete aus Afghanistan zu evakuieren. Damit sollte auch die damalige schwarz-rote Bundesregierung, die bei der Evakuierung von Ortskräften zögerte, unter Druck gesetzt werden. Die Botschaft lautete: Wir tun, was eigentlich eure Aufgabe ist. 

Die Quasi-Behörde vor Ort

Mittlerweile hat Kabul Luftbrücke zwei Dutzend ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiter. Sie bringen bedrohte Menschen aus Afghanistan über den Landweg in die Nachbarstaaten. Dort, im Iran oder in Pakistan, müssen sie bei den Botschaften Visa beantragen. In Pakistans Hauptstadt Islamabad hat die NGO sogar ein Haus angemietet, in dem die evakuierten Afghanen – hauptsächlich Familien und unbegleitete Minderjährige – unterkommen, während sie auf ihre Visa warten. Seit dem Angriff auf die deutsche Botschaft in Kabul gibt es in Afghanistan selbst keine Visa-Stelle mehr. Gefährdete, die das Land auf legalem Weg Richtung Deutschland verlassen wollen, haben daher keinen offiziellen Ansprechpartner. Die Bundesregierung hat diese Aufgabe an NGOs wie Kabul Luftbrücke delegiert.

„Wir haben dadurch de facto eine Gate­keeper-Funktion, weil wir entscheiden, welche Fälle an die Bundesregierung weitergereicht werden – und welche nicht. Diese Funktion dürfen wir moralisch betrachtet nicht haben“, sagte Theresa Breuer im August 2022 in einem Interview. Dennoch arbeitet die NGO auch weiterhin mit dem Auswärtigen Amt zusammen. Und macht weiter Druck.

Die Bewertung der Gefährdungssituation und die Aufnahmezusagen brauchten viel zu lange, kritisiert Kabul Luftbrücke, fordert weniger Bürokratie und wohlwollendere Prüfungen. Afghanen, die einen Antrag auf Familiennachzug stellen, würden durch die langen Wartezeiten unnötig lange voneinander getrennt. 2021 warfen die Initiatoren der damaligen Bundesregierung gar eine „bürokratische und politische Verhinderungstaktik“ vor. Außerdem fordern sie weniger strenge Regeln beim Familiennachzug.

Wir hätten gerne ein Gespräch mit der NGO geführt – über ihre Kritik an der deutschen Bürokratie, über ihre Gate­keeper-Funktion, ihr Vorgehen beim Prüfen der Antragsteller und über die Menschen, die im Haus der NGO in Islamabad auf Visa warten. Zunächst sagte Mitinitiatorin Theresa Breuer einer Gesprächsanfrage zu. Doch weitere E-Mails zur Vereinbarung eines Termins blieben unbeantwortet.

Vierteilige RBB-Produktion

Allerdings gibt es eine Fernsehproduktion des RBB, in der die Arbeit der Fluchthelfer aus nächster Nähe gezeigt wird. Der im August 2022 erstmals ausgestrahlte und in der ARD-Mediathek weiterhin abrufbare vierteilige Dokumentarfilm „Mission Kabul-Luftbrücke“ verwendet Material, das die Luftbrücke-Aktivisten gedreht haben. Eine der drei Filmemacher hat selbst für die NGO gearbeitet. 

Einer der Fälle, um den es in dieser Doku geht, betrifft Nadera und ihre vier Schwestern. Sie verstecken sich in Kabul, weil ihre Halbbrüder Taliban seien, die ihren Vater umgebracht hätten und eine Schwester verheiraten wollten. Ihre Mutter, die in dem Film ebenfalls gezeigt wird, habe mit der ältesten Tochter nach Deutschland fliehen können. Bei der Flucht seien sie von den anderen fünf Geschwistern getrennt worden, die seitdem in Afghanistan festsäßen.

Der RBB-Film zeigt eine dramatische Evakuierung der Geschwister nach Pakistan, wo die Familie in Islamabad im Gästehaus der Kabul-Luftbrücke unterkommt, während sie auf ihre Einreiseerlaubnis nach Deutschland wartet. Den deutschen Behörden machen die Filmemacher implizit Vorwürfe: Nach sieben Monaten läuft der Antrag auf Familienzusammenführung immer noch, die Geschwister haben noch keine Visa erhalten und sitzen nach wie vor in Islamabad fest. Tatsächlich sind die Wartezeiten lang: mindestens zwölf Monate.

Die entscheidenden Fehler der Doku

Nachdem der Film ausgestrahlt wurde, erhielten drei der fünf Mädchen eine Aufnahmezusage aus Deutschland. Warum die anderen zwei noch keine Zusage haben, wird offiziell nicht bekannt gegeben. Nach Cicero-Informationen soll sich herausgestellt haben, dass es sich bei den beiden um keine leiblichen Kinder der in Deutschland lebenden Mutter handelt. Die Geschichte von den fünf Schwestern, wie sie in dem Film dargestellt wurde, war wohl – in einem rechtlich entscheidenden Punkt – nicht korrekt.

Annalena Baerbock gab den Filmemachern ein ausführliches Interview. Darin lobt sie die Zusammenarbeit mit Kabul Luftbrücke.

Die Außenministerin nennt die von einem Parteifreund mitgegründete Organisation zwar nicht beim Namen, sondern spricht allgemein von „Zivilgesellschaft“, aber im Zusammenhang wird klar, wer damit gemeint ist. „Wir haben als deutsche Bundesregierung keine Botschaft, keine Vertretung vor Ort, aus politischen Gründen. Weil ich damit diese Terrorherrschaft legitimieren würde. Das heißt, wir müssen mit Zivilgesellschaft zusammenarbeiten“, erklärt Baerbock. Gerade in solchen schwierigen Kontexten hätten NGOs oftmals einen besseren Zugang. „Es erweitert eben einfach die Möglichkeiten und vor allen Dingen die pragmatischen Möglichkeiten, die manchmal außerhalb von Behörden­erlässen sind.“

Wie eng die Verbindungen zwischen Migrations-NGOs und dem Auswärtigen Amt sind, zeigt auch eine Veranstaltung der Evangelischen Akademie zu Berlin im Juni 2022. Unter dem Titel „Flüchtlingsschutz in Deutschland und Europa – Gelingt ein Paradigmenwechsel?“ diskutierten zwei Tage lang Kirchenleute, Wohlfahrtsfunktionäre und Aktivisten von Pro Asyl & Co. mit Vertretern aus Politik, Justiz und Behörden darüber, wie Migrationshindernisse aus dem Weg geräumt werden können.

Ampel will großzügiger werden

Aus dem Auswärtigen Amt kamen Luise Amtsberg und der stellvertretende Leiter des Referats für Ausländer- und Visumrecht, langfristige Aufenthalte, migrationspolitische Grundsatzfragen. Amtsberg ist Bundestagsabgeordnete der Grünen aus Kiel und arbeitet in Baerbocks Ministerium als Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe. Bei der Tagung sprach sie über Afghanistan.

Die Stoßrichtung ihres Vortrags war eindeutig. Den Vorgängerregierungen sei es nicht gelungen, „die Verbindung zu Afghanistan und die daraus erwachsende Verantwortung gegenüber Schutz suchenden Menschen aus Afghanistan in reale Politik zu übersetzen“, sagt Amtsberg laut Tagungsdokumentation. Sie klagt über „Einschränkungen der Zivilgesellschaft“, die „öffentliche Gängelung der zivilen Seenotrettung“ und „zahlreiche Restriktionen in unseren Asylgesetzen, mit dem einzigen Ziel, die Flüchtlingszahlen nach unten zu korrigieren“. Amtsberg verspricht, sich dafür einzusetzen, dass die neue Bundesregierung deutlich großzügiger wird.

Ein Beispiel, das Amtsberg erwähnt, ist der Familiennachzug. „Hier legen wir noch immer traditionelle, deutsche Maßstäbe beim Begriff der Kernfamilie an, die nichts mit der Lebenswirklichkeit in Afghanistan und den dortigen sozialen Strukturen zu tun haben.“ Wer den Fall der vermeintlichen Schwestern kennt, versteht sofort, was gemeint ist. 

Die Prioritäten der Taliban

Was der stellvertretende Leiter des zuständigen Fachreferats im Auswärtigen Amt dazu zu sagen hatte, ist nicht dokumentiert. Laut Tagungsprogramm nahm er an einer Diskussionsrunde zu genau diesem Thema teil: „Familiennachzug aus Afghanistan“. Schon vor dem Regimewechsel durch die Taliban im August habe es Schwierigkeiten gegeben, „die zu extrem langen Warte- und Verfahrenszeiten führten“, heißt es im Ankündigungstext. „Hinzu kommen nun die Überlastung der Botschaften in den Nachbarstaaten und die volatile Lage im Land selbst. Die Verfahren aus Afghanistan müssen sofort beschleunigt werden.“ Mit auf dem Podium sitzt eine Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Berlin. Das ist jenes Gericht, bei dem die Klagen gegen Aufnahmeentscheidungen des Bundes eingehen. 

Baerbocks stellvertretender Referatsleiter kennt diese Verfahren von beiden Seiten. Denn seine Frau ist als Anwältin auf Ausländerrecht und internationales Familienrecht spezialisiert. Sie vertritt Afghanen, die Visa-Anträge gestellt haben, um in Deutschland aufgenommen zu werden. Außerdem ist sie als rechtliche Beraterin für das Auswärtige Amt tätig, hat etwa ein Gutachten zum afghanischen Eherecht erstellt. Eine Cicero-Anfrage zu den Details dieser Zusammenarbeit beantwortet das Auswärtige Amt nicht.

Die Zahl der Menschen, die vor den Taliban fliehen und am liebsten nach Deutschland kommen wollen, wird kaum sinken. Denn anderthalb Jahre nach der Machtübernahme der Islamisten ist die Lage in Afghanistan nicht besser geworden, eher im Gegenteil. „Die Katastrophe hat sich verstetigt“, sagt der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Am Anfang habe noch die Hoffnung bestanden, die Taliban würden auf Mäßigung setzen, um wirtschaftliche Hilfen aus dem Westen zu bekommen. „Jetzt zeigt sich, dass die Versorgung der Bevölkerung für sie nicht prioritär ist“, so Steinberg. „Für sie ist prioritär, eine ideologische Politik zu führen, damit nicht 20 Prozent oder mehr ihrer Kämpfer zum IS überlaufen.“ Besonders für die afghanischen Mädchen und Frauen habe das fatale Auswirkungen.

Widerstand aus den Ländern

Das bittere Resümee des Wissenschaftlers: „Den Afghanen bleibt nichts, als das Elend zu dulden oder zu gehen.“ Würden die Taliban und Staaten wie der Iran und die Türkei dem nicht einen Riegel vorschieben, würden sich noch viel mehr Afghanen auf den Weg gen Westen machen als ohnehin schon.

Dass die Bundesregierung in dieser sich zuspitzenden Lage ein neues humanitäres Aufnahmeprogramm für Afghanen startet, hält aber nicht jeder in Deutschland für eine gute Idee. Vor allem aus den Ländern kommt Protest. Denn sie müssen die Aufgenommenen unterbringen. Zusätzlich zu den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine und den Asylbewerbern, die illegal eingereist sind. 

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann etwa hat das im Dezember gestartete Aufnahmeprogramm scharf kritisiert. Deutschland habe die Aufnahme der afghanischen Ortskräfte abgeschlossen und mehr als 38.000 Menschen Aufnahmezusagen erteilt, so der CSU-Politiker. „Jetzt will die Ampel noch einmal rund 40.000 weitere Af­ghanen nach Deutschland holen. Dies ist den Ländern und Kommunen in der aktuellen Überlastungssituation nicht zumutbar und ein völlig falsches Signal.“

Tatsächlich will die Bundesregierung bis zu 1000 Afghanen im Monat über das neue Programm aufnehmen. Herrmann hat diese Zahl bis zur nächsten Bundestagswahl hochgerechnet.

Near Government Organizations

Auch innerhalb der Ampelkoalition gibt es Zweifler, denen das bereits im Koalitionsvertrag festgehaltene Aufnahmeversprechen nun etwas Angst macht. Doch sie verweisen darauf, dass man sich in den Verhandlungen nun mal darauf geeinigt habe. Vor allem den Grünen sei dies von Anfang an sehr wichtig gewesen. In der zuständigen Verhandlungsgruppe (Flucht, Migration und Integration) saß damals für die Grünen auch der Europaabgeordnete Erik Marquardt, der Mitgründer der Initiative Kabul Luftbrücke.

Solche personellen Überschneidungen machen deutlich, dass es sich bei Nichtregierungsorganisationen in Wirklichkeit um regierungsnahe Organisationen handelt. Mit dem neuen Bundesaufnahmeprogramm, das vom Auswärtigen Amt und dem Bundesinnenministerium umgesetzt wird, schafft die Ampelkoalition dafür sogar einen institutionellen Rahmen. „Die aufzunehmenden Personen müssen von meldeberechtigten Stellen vorgeschlagen werden“, heißt es in der Aufnahmeanordnung der Regierung. Als „meldeberechtigte Stellen“ kommen zivilgesellschaftliche Organisationen in Betracht, die „im Rahmen der im August 2021 erfolgten Evakuierungen aus Af­ghanistan bzw. den laufenden Aufnahmen aus Afghanistan mit dem Auswärtigen Amt zusammengearbeitet haben“.

Welche Organisationen dies sind, bleibt intransparent. „Es ist den zivilgesellschaftlichen Organisationen selbst überlassen, ob und wie sie ihre Beteiligung öffentlich machen“, antwortete das Auswärtige Amt auf die Frage danach. Kabul Luftbrücke schreibt auf ihrer Internetseite, dass sie dazugehöre, warnt aber: „Die Auswahl der Personen, die in das Programm aufgenommen werden, liegt letztlich bei der deutschen Regierung. Wir können die von uns eingereichten Anträge nicht garantieren, beschleunigen, beeinflussen oder verfolgen.“

Mitarbeit: Martin Damerow (Nürnberger Nachrichten)

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe von Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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