300 Tage Krieg in der Ukraine - Das westliche Märchen der Alternativlosigkeit

Gigantische Zerstörungen und unendliches Leid der Zivilbevölkerung prägen bereits seit 300 Tagen den Lebensalltag der Ukrainer. Doch wie ist dieser Krieg zu beenden?

Außenministerin Annalena Baerbock besucht eine durch den Krieg verwüstete Stadt in der Ukraine / picture alliance
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Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking war während seiner Zeit im Auswärtigen Dienst (1980-2018) in verschiedenen Verwendungen, u.a. als stv. Beauftragter der Bundesregierung für Abrüstung und Rüstungskontrolle und Botschafter bei der OSZE, mit Fragen der Sicherheits- und Rüstungskontrollpolitik intensiv befasst.

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Der menschenverachtende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine wütet schon über 300 Tage. Zehntausende, nein vermutlich Hunderttausende Menschen – sowohl Russland wie die Ukraine verschweigen Opferzahlen – haben in diesem Krieg bisher ihr Leben verloren. Unabsehbar auch die Folgen des Kriegs – nicht nur die massiven Zerstörungen in der Ukraine, sondern auch die mittelbaren Folgen, die auch Europa wirtschaftlich zurückwerfen und über Jahre, wenn nicht Generationen beschäftigen werden. Und dennoch: Ein Ende des Kriegs ist nicht absehbar.

In seiner Rede vor Offizieren hat Putin am Mittwoch verdeutlicht, dass er den Krieg auch im neuen Jahr fortführen und unverändert seine Kriegsziele erreichen will. Welche Ziele das unter den jetzt gegebenen Umständen sind, ließ er ebenso offen wie die Frage der Umsetzung und Finanzierung der angekündigten Stärkung der russischen Streitkräfte. Und Präsident Biden versicherte bei seinem Zusammentreffen mit Selenskyi, dass die USA weiterhin eng an der Seite der Ukraine stünden und weiterhin beträchtliche, auch militärische Unterstützung leisten würden. Unter anderem wurde von den USA jetzt auch die Lieferung von Patriot-Flugabwehrraketen angekündigt; diese wurden schon lang von der Ukraine gewünscht und werden die Luftabwehrkapazitäten – wenn auch nur aufgrund des begrenzten Lieferumfangs regional begrenzt – spürbar verstärken.

Der Westen setzt einseitig auf die militärische Karte

Trotz dieser prominent in den Medien berichteten Entwicklungen könnte man zusammenfassen: Nichts Neues. Die Ukraine und der Westen setzen unverändert auf die militärische Karte, einen Plan oder eine Strategie zu einer politischen Konfliktlösung gibt es offenbar nicht. Damit stehen die Zeichen auf Fortsetzung des Kriegs, der sich während des Winters zu einem weiterhin schmutzigen und vielleicht verschärften Abnutzungskrieg zu entwickeln droht. Entgegen der inzwischen offenbar im Westen eingetretenen Beruhigung bleibt auch das nukleare Eskalationsrisiko virulent; bei weiteren Rückschlägen der russischen Streitkräfte könnte es sich weiter erhöhen. Und es bleibt bei einer Bilanz zum Jahresende die Frage: Gibt es keine Perspektive auf einen Ausweg? Bieten sich keine zu beherzigenden historischen Lehren zum Umgang mit Russland an?

Eine sachliche Erörterung dieser Fragen ist jedoch schwierig. Die westliche Debatte ist emotional aufgeheizt und stark polarisiert. Dies gilt insbesondere für Deutschland, wo eine Reihe von einflussreichen Politikern, Experten und Medien auf einen militärischen Sieg der Ukraine setzt, gleichzeitig eine Ausgrenzung und Bestrafung Russlands fordert und diejenigen, die angesichts der Eskalationsgefahren für eine möglichst rasche Beendigung des Krieges durch Verhandlungen und einen Interessenausgleich eintreten, als moskauhörige Beschwichtiger oder Putin-Versteher verunglimpft. Es bleibt der grobschlächtige Schlagabtausch, bei dem häufig genug differenzierte Meinungen als nicht zulässig abgetan werden.

 

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Und ja, vieles erinnert an die grundsätzlichen politischen Auseinandersetzungen um die von der Regierung Brandt eingeschlagene Ostpolitik in den 60er- und 70er-Jahren. Auch damals standen sich die politischen Meinungen in Deutschland unversöhnlich gegenüber. Und auch ich habe die von Egon Bahr, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, wesentlich geprägte Politik des Wandels durch Annäherung gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt mit großem Unbehagen betrachtet und zunächst entschieden abgelehnt. Ich habe mich geirrt. Aber auch die kompromisslosen „kalten Krieger“ beispielsweise aus den Reihen der damaligen CDU/CSU-Opposition, die diese Politik heftig bekämpft haben, gestehen inzwischen ein, dass Bahr über den Tag hinaus gedacht, am Ende Recht behalten und beispielsweise der Vereinigung der beiden deutschen Staaten den Weg geebnet hat.

Mein Irrtum lag in dem falschen Eindruck begründet, dass es Bahr um ideologisch bedingte einseitige Konzessionen an die Sowjetunion und um die Anerkennung und Zementierung des Status quo in Europa gegangen ist. Aber nichts ist falscher gewesen. Bahr ging es gerade um Veränderung des Status quo auf der Grundlage eines vorausdenkenden und – man mag dieses Wort heute kaum mehr nutzen, aber letztlich ist das doch ein zentrales Leitmotiv gewesen – patriotischen Interessenkalküls. Dabei sollte eben nicht wohlfeile Empörung oder der fromme Wunsch zur Verbreitung von westlichen Werten leitend sein; vielmehr sollte die glasklare Analyse der Realitäten die Grundlage für die Politik bilden.

Moralischer Brustton der Alternativlosigkeit

Auch heute geht es zentral um eine Politik des realistischen Augenmaßes und einen klugen Sinn für die Durchsetzung unserer Interessen. Hierzu bedarf es unverändert einer Dialog und Interessenausgleich nicht scheuenden Politik. Gern stelle ich bei Vorträgen ein Zitat von Bahr an den Anfang: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Leider gerät dies heute in Zeiten, in denen Deutschland sich einer „wertegeleiteten Außenpolitik“ verpflichtet fühlt, allzu leicht in Vergessenheit. Dabei ist nach meiner Auffassung die Wahrung unserer Interessen doch untrennbar mit der Gewährleistung eines klaren Wertekompasses verknüpft; die zu verfolgende Politik muss auf die strikte Wahrung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land wie in der EU und Nato ausgerichtet sein und auch die Möglichkeit für die friedliche Durchsetzung dieser Werte in anderen Ländern bzw. weltweit als Ziel verfolgen.

All diejenigen, die mit moralischem Brustton der Alternativlosigkeit auf einen Sieg der Ukraine setzen, müssen sich fragen lassen, was ein Sieg bedeutet und ob denn dieses Ziel realistisch ist. Können wir wie jetzt die ukrainische Regierung – sicherlich ermutigt durch die Erfolge gegen die völlig entzauberten, kopflos agierenden und massive Verluste erleidenden russischen Streitkräfte – auf eine Fortsetzung der Kämpfe bis zu einem Sieg und der Befreiung aller von Russland besetzten Gebiete setzen? Schon allein die Frage in dieser Form zu stellen, wird von empörungsgeleiteten Wertepuristen als unzulässig erachtet. Hat nicht die Ukraine das Recht, alle von Russland besetzten Gebiete zurückzuerobern? Und haben wir nicht auch die Pflicht, die Ukraine dabei zu unterstützen?

Rigorismus statt strategisches Denken

Es fällt schwer, auch die letzte der beiden Fragen nicht mit einem klaren Ja zu beantworten. Und dennoch: Nüchtern und emotionslos muss zunächst eine Lagebeurteilung und eine Abwägung von Erfolgschancen und Risiken erfolgen. Stattdessen gab es in dem vergangenen Sommer in Deutschland eine abstruse Diskussion über die Frage der Eskalationsdominanz. Es dürfte klar sein, dass diese trotz der erheblichen militärischen Rückschläge bei Russland liegt. Dies angesichts der militärischen Erfolge der Ukraine – wie geschehen – zu belächeln oder zu ignorieren, wäre verantwortungslos. Es ist Putin, der weiter eskalieren und letztlich auch taktische Nuklearwaffen einsetzen könnte. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit, dass er dies tut, gering erscheinen mag, wer weiß schon, zu was er fähig ist, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht? Die Möglichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes zu ignorieren oder gar „einzupreisen“ – wie dies einige selbstgerechte, von der eigenen undifferenzierten Hau-drauf-Position überzeugte Politiker und Experten in Deutschland tun –, ist aufgrund der damit verbundenen existentiellen Gefahren für Europa und die Welt als Ganzes nicht mutig und konsequent, sondern dumm und unverantwortlich. Zu Zeiten des Kalten Kriegs wäre ein solches Denken unter dem Risiko eines nuklearen Armageddon und nach dem „Vorbeischrammen“ an einer nuklearen Katastrophe in der Kuba Krise 1962 kaum vorstellbar.

Ohnehin ist die Überhöhung des Kriegs als Stellvertreterkrieg, bei dem es um die Verteidigung westlicher Werte gehe und jedes Opfer deshalb gerechtfertigt sei, unangebracht. Ein Gesinnungsdogmatismus darf verantwortungsethischem Handeln nicht im Wege stehen. Bei allem Verständnis, dass eine Niederlage der Ukraine im Krieg einen fatalen und deshalb unbedingt zu vermeidenden Präzedenzfall für eine regelbasierte internationale Ordnung darstellen würde, müsste es die Einsicht geben, dass ein Siegfrieden mit Rückeroberung aller von Russland besetzter ukrainischer Gebiete realistischerweise zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht erreichbar ist. Zudem wird eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld, die noch Jahre dauern könnte, viele zehn- oder gar hunderttausende Opfer nicht nur in der Ukraine kosten. Dies muss gerade denjenigen entgegengehalten werden, die sich für ihre Haltung auf die Wahrung westlicher Werte berufen.

Nachdenkliche Stimmen wie die des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs der US-Streitkräfte, General Mark Milley, der im November äußerte, dass ein Sieg der Ukraine auf dem Schlachtfeld absehbar nicht erreichbar sei und die Wintermonate für Verhandlungen genutzt werden sollten, sollten aufhorchen lassen. Aber auch das Werben Präsident Macrons zu Beginn dieses Monats für Friedensgespräche und Sicherheitsgarantien für Russland ist vielfach auf Unverständnis gestoßen und als naiv abgelehnt worden. Aber ist nicht gerade ein von moralischer Empörung getragener Rigorismus naiv, der eine realistische Abschätzung der Eskalationsgefahren ausblendet?

Die westliche Arroganz wirkt bis heute fort

In jedem Fall entspricht der heute vorherrschende Politikansatz nicht der politischen Linie, die im Kalten Krieg die Sicherheit der Nato-Staaten gewahrt hat. Der Berücksichtigung zentraler roter Linien und Sicherheitsinteressen der Gegenseite sowie der Erfordernisse strategischer Stabilität und der Wahrung eines militärischen Gleichgewichts wird heute nur noch eine geringe Aufmerksamkeit zuteil. Und schon ab der Jahrtausendwende wurde dieser „Tugendpfad“ durch die auf Unipolarität und militärische Überlegenheit setzende US-Administration unter George W. Bush aufgegeben.

Ohne Rücksicht auf russische Befindlichkeiten setzten die USA fortan auf eine aggressive, sicherheitspolitisch „unabgefederte“ Erweiterung der Nato (insbesondere auch um die Ukraine und Georgien) und kündigten für die europäische Sicherheit zentrale Rüstungskontrollübereinkünfte. Russland sah sich dadurch herausgefordert und hat durch die Kriege in Georgien 2008 und der Ukraine 2014 deutlich gemacht, dass es nicht bereit sein würde, die Nato-Mitgliedschaft dieser Staaten einfach hinzunehmen. Es ist dabei unerheblich, ob Russland durch das weitere Vorrücken der Nato bis an seine Grenzen seine Sicherheit oder seine Rolle als Supermacht auf Augenhöhe mit den USA in Frage gestellt oder beeinträchtigt sah.

Die westliche Gedankenlosigkeit und Arroganz wirkt bis heute fort und hat auch ihren Niederschlag in den Antworten auf die von Russland den USA und der Nato am 17. Dezember 2021 übermittelten Abkommensentwürfe gefunden. Es ist müßig jetzt darauf näher einzugehen, ich habe dies an anderer Stelle getan. Zudem ist es inzwischen Geschichte. Daneben lässt sich daraus keine Entschuldigung für den völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg oder den faschistoid-imperialen Wahn ableiten, dem Putin erlegen zu sein scheint.

Möglichkeit von Verhandlungen sollte ausgelotet werden

Allerdings ist bedenklich, mit welcher Vehemenz heute weiterhin auch nur der Gedanke an Verhandlungen mit Russland von vielen politisch Verantwortlichen abgelehnt wird. Dabei wird Russland pauschal jegliche Verhandlungsbereitschaft abgesprochen, werden unerfüllbare Vorbedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen gefordert oder einfältige, die diplomatischen Möglichkeiten negierende Szenarien konstruiert. Putin mag mit seinen gestrigen Ankündigungen, den Krieg gegen die Ukraine fortzusetzen, die russischen Streitkräfte um 350.000 Mann aufwachsen zu lassen und sie zu modernisieren (ohne dass dafür finanzielle Grenzen gesetzt werden) jeglichen Eindruck bestehender Verhandlungsbereitschaft vermissen lassen.

Und dennoch: Nach den erfolgten militärischen Rückschlägen Russlands und angesichts der Verantwortung, weitere Opfer des Krieges zu verhindern, sollte die Möglichkeit von Verhandlungen robust und aktiv auch unter Nutzung von Anreizen wie Bestrafungen ausgelotet werden. Dabei kommt den USA, mit denen Russland auf Augenhöhe behandelt werden will, eine besondere Verantwortung zu. Die zentrale Rolle der USA wird auch durch den Umstand deutlich, dass Selenskyj Washington als Ziel seiner ersten Auslandsreise gewählt hat und auf einen Besuch bei der EU oder Nato (auch im Zusammenhang mit dieser Reise) verzichtet hat.

Bereitschaft zu Dialog und Verhandlungen

Die USA haben auch beim Selenkyj-Besuch in Washington keine Neigung und kein Drängen auf diplomatische Konfliktlösungen erkennen lassen. Dennoch wäre zu wünschen, dass die amerikanischen Kontakte mit Moskau nicht abgebrochen sind und ergebnisorientierte Sondierungen im Hinterzimmer – und nur da gehören sie jetzt hin – stattfinden. Dabei sollte klar sein, dass Moskau mit seinen Maximalpositionen, an denen Putin jetzt unverdrossen festzuhalten scheint, sich nicht durchsetzen darf; aber auch für die Ukraine werden bittere Kompromisse nicht auszuschließen sein. Besonders sensitiv und problematisch dürften territoriale Fragen sein. Hierzu hat allerdings die Ukraine bereits in den bilateralen Verhandlungen mit Russland im vergangenen März Flexibilität gezeigt. Diese dürfte auch jetzt im Interesse der Erreichung eines raschen Waffenstillstands nötig sein; allerdings muss damit keine formelle Anerkennung russischer Gebietsgewinne verbunden sein.

Die Bereitschaft zu Dialog und Verhandlungen ist bereits mit dem sogenannten Harmel-Konzept 1967 eine der beiden Kernaufgaben des Nordatlantischen Bündnisses. Allerdings ist diese eng geknüpft an die zweite Kernaufgabe, die Gewährleistung einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit; letztere wird gar zur Voraussetzung für Dialog und Verhandlungen gemacht. Und hier hapert es ganz besonders. Zwar entbehren die Behauptungen, dass Russland nach dem Krieg gegen Russland auch die baltischen Staaten und andere Mitglieder der Nato angreifen würde, jeglicher Grundlage. Für eine solche Absicht gibt es in der Vorgeschichte zu dem Krieg keine Anhaltspunkte. Zudem dürfte Russland nach dem Ukrainedebakel über lange Jahre hinweg zu einem konventionellen Angriff gegen die Nato nicht fähig sein. Trotzdem: Wir befinden uns in einem Kalten Krieg 2.0.; dieser erfordert ein neues Denken.

Deutschland muss über eine Abschreckungsfähigkeit verfügen

Ein weiteres Durchwursteln verbietet sich. Die schnellstmögliche Beseitigung der Ausrüstungs- und Fähigkeitsdefizite der Bundeswehr ist jetzt eine prioritäre Staatsaufgabe, die keinen Aufschub duldet. Berichte über den Totalausfall des Schützenpanzers Puma und die Tatsache, dass die gelagerten Munitionsbestände der Bundeswehr nur für wenige Tage reichen, verdeutlichen den dringlichen Handlungsbedarf. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu erbärmlich, dass der in der Nato vereinbarte Anteil des Verteidigungshaushaltes von 2% am Bruttoinlandsprodukt in den nächsten Jahren durch Deutschland nicht erreicht werden soll. Begründende Verweise auf langwierige Beschaffungsverfahren verfangen politisch nicht. Auch das der Bundeswehr zugesprochene Sondervermögen in Höhe von 100 Mrd. Euro wird für die Beseitigung der bestehenden Defizite nicht ausreichen. Und schließlich dürfen auch Themen wie die Wiederbelebung der Dienstpflicht nicht länger tabuisiert werden.

Es ist entschlossenes, effektives und schnelles verteidigungspolitisches Handeln erforderlich, um eine nachhaltige Abschreckungsfähigkeit zu gewährleisten. Da sich die USA künftig stärker den südostasiatischen Herausforderungen und dem auch nuklearstrategisch absehbar auf Augenhöhe mit den USA sich entwickelndem China wird zuwenden müssen, wird es unabdingbar sein, den europäischen Pfeiler der Nato zu stärken und letztlich die EU zu ertüchtigen, sich in einer multipolaren, durch die Rivalität mehrerer Großmächte gekennzeichneten Weltordnung auch militärisch selbst zu behaupten.

Ausgrenzung eines Staates liegt nicht in unserem Interesse

Zusammengenommen ergibt sich damit eine anspruchsvolle Aufgabenvielfalt. Eine Rückbesinnung auf die zentralen Lehren des Kalten Kriegs und die beiden schon im Harmel-Konzept 1967 niedergelegten Kernaufgaben des Bündnisses erscheint geboten. An markigen, von Empörung über die unsägliche Verletzung des Völkerrechts durch Russland triefenden Worten fehlt es nicht. Lieber wäre mir jedoch ein Verhalten nach Roosevelts Motto „Speak softly but carry a big stick“. Aber es fehlt leider an beidem: an der Bereitschaft zu Dialog und Verhandlungen als auch an dem big stick, den militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten der europäischen Staaten, um sich in einer unsicheren Welt selbständig zu behaupten.

Ein Blick für die Realitäten wie auch die europäische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte gerade uns Deutschen vermitteln, dass die Ausgrenzung eines Staates wie Russland nicht in unserem Interesse liegt. Dies ist keine Aufforderung zur Beschwichtigung. Es erfordert vielmehr eine klare Vision und Mut, nicht eindimensional allein auf eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu setzen, sondern im Interesse nachhaltiger Stabilität und der Vermeidung einer gefährlichen Eskalationsspirale nicht in einen gut gemeinten Gesinnungsdogmatismus zu verfallen und politische Lösungen auszuschließen. Ebensowenig sollten wir uns von den mittelosteuropäischen Staaten der EU zunehmend in die Rolle einer Kriegspartei drängen lassen; auch die USA sind sorgfältig, trotz der massiven auch militärischen Unterstützung der Ukraine, darauf bedacht, dies zu vermeiden, was auch den Verzicht auf die Lieferung von bestimmten Waffenkategorien wie Kampfpanzer erklärt. Es bedarf eines klaren Sinns für Realitäten, für die Erfordernisse einer Realpolitik ohne ideologische Scheuklappen.

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