Ex-EnBW-Chef Utz Claassen über Energieknappheit und Habecks „Einsatzreserve“ - „Nahezu unvorstellbar und außerhalb der Logik“

Der frühere Energie-Manager Utz Claassen kritisiert die aktuelle Energiepolitik der Ampel-Regierung aufs Schärfste und hält das Festhalten an der Abschaltung der drei verbliebenen Kernkraftwerke für einen ideologisch motivierten Irrweg der Grünen. Im Interview spricht Claassen über Robert Habecks „Einsatzreserve“, den Widerspruch zwischen Klimaschutz und Atomausstieg – und über die Gefahren möglicher Blackouts.

„Die Energieversorgung ist das zentrale Nervensystem in einer hochentwickelten Volkswirtschaft“: Utz Claassen
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Utz Claassen, 59, war von 2003 bis 2007 Vorstandsvorsitzender des Energieversorgers Energie Baden-Württemberg (EnBW) und ist aktuell CEO der Syntellix AG.

Herr Claassen, wir haben vor zwei Wochen miteinander gesprochen, und damals war unklar, wie es mit den drei noch im Betrieb befindlichen deutschen Kernkraftwerken weitergeht. Im Interview sagten Sie wörtlich: „Wie man in dieser Situation allen Ernstes eine Abschaltung der letzten deutschen Atomkraftwerke auch nur in Erwägung ziehen kann, das entzieht sich dem Verständnis jedes auch nur halbwegs sachkundigen neutralen Beobachters.“ Jetzt hat Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck klar gemacht: Das niedersächsische AKW Emsland geht vom Netz, zwei süddeutsche AKWs sollen als „Einsatzreserve“ vorgehalten werden. Was halten Sie von dieser Lösung?

An meiner Sichtweise hat sich in den letzten zwei Wochen nichts geändert, weil sich ja auch in der Welt nichts grundlegend geändert hat, und weil in Deutschland aktuell allem Anschein nach Energieknappheit droht, wenn sie nicht schon gegeben ist. Während der vergangenen zwei Wochen haben sich auch mit Blick auf die Situation in der Ukraine und hinsichtlich Russlands keine nennenswerten neuen Erkenntnisse ergeben. Insofern bleibt meine Position dieselbe. Ich finde es nahezu unvorstellbar und es befindet sich außerhalb der von mir greifbaren Logik, wie man vor diesem Hintergrund allen Ernstes auch weiterhin unverändert an der Finalisierung des Kernenergieausstiegs festhalten oder sie allenfalls nur marginal verändern will.

Ist so eine Notreserve technisch überhaupt durchführbar? Was bedeutet das konkret?

Ich durfte als Vorstandsvorsitzender des Energieversorgungskonzerns EnBW, der damals in seinem Energiemix den höchsten Anteil an Kernenergie in Deutschland hatte, mich nicht in Sicherheitsthemen der Kernenergie einmischen – und werde das ganz sicher auch heute nicht tun. Aber ich möchte dennoch auf einige Widersprüche hinweisen, die wir im Moment in dieser politischen Gemengelage erleben.

Und zwar?

Es gibt schon seit langer Zeit bei den Grünen – später dann auch in der Regierung Merkel und im Grunde bei fast allen Parteien – den grundsätzlichen Widerspruch zwischen den politischen Oberzielen eines Kernenergieausstiegs auf der einen und des Klimaschutzes auf der anderen Seite. Wir wollten – und viele wollen noch immer –, dass Deutschland der Protagonist und beinahe sogar ein Einzelgänger in der Welt ist für den Kernenergieausstieg. Und wir sind uns im Grunde in Deutschland alle einig, dass wir auch gern die globalen Protagonisten beim Klimaschutz sein wollen. Aber es besteht nun mal insbesondere auf der kurzfristigen und auch auf der mittelfristigen Zeitachse ein unmittelbarer mathematisch-physikalischer Widerspruch zwischen Kernenergieausstieg und Klimaschutz, weil natürlich durch den Kernenergieausstieg per se und ungeachtet anderer Entwicklungen die CO2-Emissionen erhöht und nicht gesenkt werden.

 

 

Und die anderen Widersprüchlichkeiten?

In den vergangenen Wochen und Monaten ist sehr deutlich geworden, dass ein Kernenergieausstieg und ein gleichzeitiger Ausstieg aus dem Bezug von Gas aus Russland nicht miteinander kompatibel sind. Weil es natürlich darum geht, die Grundlastfähigkeit bei der Energieversorgung zumindest halbwegs aufrecht zu erhalten. Wir reden ja im Übrigen über eine der höchstentwickelten und exportabhängigsten Industrienation der Welt. Hinzu kommt: Bei der sogenannten Notreserve handelt es sich um eine situative Maßnahme. Eine „Reserve“ ist ja per se situativ beziehungsweise für den situativen Einsatz gedacht. Und wenn man sich aus einer sicheren, erprobten Bestands- und Realsituation in potenziell situative Szenarien begibt, kann das ganz generell die Stabilität der grundsätzlichen Sicherheitsarchitektur sicher nicht verbessern. Das gilt selbst für die Kernenergie als einen der am strengsten regulierten, bestüberwachten und insofern vielleicht „sichersten“ Lebensbereiche, die wir haben.

Inwiefern kann sich Deutschland darauf verlassen, dass wir bei Strom-Engpässen auf Versorgung aus dem Ausland zurückgreifen können?

Vor drei Jahren hätte wahrscheinlich jeder in Deutschland gesagt, dass man sich zu hundert Prozent auf Energielieferungen aus Russland verlassen kann. Und jetzt erleben wir, dass das eine Fehleinschätzung war. Ich möchte westeuropäische Nationen und EU-Partner auf keinen Fall mit Russland vergleichen. Aber ich glaube, dass eine Nation wie Deutschland, die mehr als fast alle anderen Länder der Welt von einer funktionierenden industriellen Infrastruktur abhängig ist, sich energiepolitisch oder energiewirtschaftlich nie von irgendjemanden abhängig machen sollte. Insofern müssen wir aus dem Beispiel Russland lernen. Probleme können ja immer auch zwischen guten Freunden entstehen. Die Energieversorgung ist nun einmal das zentrale Nervensystem in einer hochentwickelten Volkswirtschaft – und wir würden uns doch als Menschen bei unserem Zentralnervensystem oder generell bei der Funktionsfähigkeit unseres Körpers nicht freiwillig von der Unterstützung durch irgendwelche Dritte abhängig machen wollen.  

Welche Auswirkungen hätte umgekehrt die Abschaltung der drei verbliebenen deutschen AKWs auf den gesamteuropäischen Strommarkt? 

Es ist nahezu unmöglich, das mit Sicherheit zu prognostizieren, noch dazu im gesamteuropäischen Kontext.

Die Energieökonomin Claudia Kemfert hält die Energieversorgung in Deutschland laut einer jüngsten Aussage auch ohne Atomkraft für gesichert. Teilen Sie diese Auffassung?

Bei allem Respekt für Frau Kemfert, die ich persönlich kenne und intellektuell sehr schätze: Ich habe gestaunt, dass sie sich offenbar dahingehend geäußert hat, dass es zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit Deutschlands der drei Kernkraftwerke nicht bedürfe. Nach meinem persönlichen Empfinden ist so eine Aussage jedenfalls in entsprechender Absolutheit eigentlich unverantwortlich und, mal überspitzt gesagt, im Grunde dummes Zeug – zumal im Kontext einer unstreitigen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Sorge um Versorgungssicherheit vor dem Hintergrund volatiler und unsicherer Entwicklungen. Man weiß doch gar nicht, was sich bis zum Winter noch alles entwickelt, verändert oder verschärft. Aber genauso fragwürdig erscheint es mir, irgendwelche Blackouts einigermaßen treffsicher prognostizieren zu wollen.

Warum?

Wir haben in den deutschen Stromnetzen eine der besten Systemarchitekturen und höchsten Versorgungssicherheiten auf der Welt. Wir sind da in der absoluten Spitzenliga. Das hängt damit zusammen, dass sich unsere Netze historisch auf sehr hohem technologischen Niveau und auf sehr hohem Erhaltungsstandard befunden haben. Das hat aber auch sehr stark damit zu tun, dass Erzeugung und Verbrauch relativ nah beieinander lagen und relativ gut ausgewogen waren. Je mehr aber diese Struktur mit ihren grundlastfähigen Energiequellen durch politische Eingriffe überlagert wird, umso mehr Volatilitäten wird es geben. Und wie nah man an einem kurzfristigen oder auch längerfristigen Kollaps sein mag, weiß man vorher nie so genau. Kurzum: In dieser sehr komplexen Welt der Energieversorgung und der Energienetze sind sichere Vorhersagen mit Blick auf einen möglichen Blackout und seinen etwaigen Zeitpunkt nahezu unmöglich – im Übrigen in beide Richtungen.

Was würde ein Blackout konkret für Folgen haben? 

Ökonomisch hätte solch ein Szenario zunächst einmal Produktionsausfälle zur Folge. Welche Folgen er politisch, gesellschaftlich oder sicherheitstechnisch hätte, kann ich gar nicht abschätzen. Ich glaube, das kann im Moment auch niemand. Da tun sich ganz viele Fragen auf, und die reichen von der Werkshalle über private Haushalte bis hin zu wirklich elementaren Fragen der inneren Sicherheit und des inneren Friedens.    

Bundeswirtschaftsminister Habeck wirft den Unionsparteien vor, sie hätten den Ausbau der erneuerbaren Energien verzögert und damit die aktuelle Energieknappheit selbst herbeigeführt. Was ist dran an diesem Vorwurf?

Ich glaube, dass die Unionsparteien mit ihrer Entscheidung, nach dem Reaktorunglück von Fukushima im Jahr 2011 den Kernenergieausstieg zu beschleunigen und zu finalisieren, einen vergleichsweise höheren Beitrag dazu geleistet haben, weil dadurch vorhandene Kapazitäten zur Energieerzeugung entfallen sind. Über die Frage nach der Geschwindigkeit beim Ausbau erneuerbarer Energien kann man immer streiten, aber eines muss ganz klar sein: In unseren Breitengraden sind angesichts diesbezüglich noch unzureichender Speichertechnologie und angesichts der energiewirtschaftlichen Infrastruktur derzeit weder Sonne noch Wind grundlastfähig. Insofern würden einige der Probleme, die wir jetzt erleben, selbst dann unvermindert bestehen, wenn Herr Habeck recht hätte – wofür ich allerdings keine Anhaltspunkte habe.   

Auch in anderen europäischen Ländern steigen die Strompreise, obwohl dort Kernenergie erzeugt wird. Woran liegt das und inwiefern spielt Deutschland da überhaupt eine Sonderrolle?

Das liegt daran, dass sich der Strompreis konzeptionell natürlich am Grenzangebot und nicht am Basisangebot orientiert – und damit an der letztproduzierten teuersten Einheit. Und das ist natürlich nicht die grundlastfähige Kernenergie. Insofern kann die Kernenergie die Gesamtkostensituation perspektivisch über die Zeitachse hinweg für eine Volkswirtschaft sehr stark senken, was wir ja in Frankreich sehr deutlich über viele Jahre haben erkennen können. Umgekehrt hat natürlich der Einsatz der Kernenergie nicht zwingend einen Einfluss auf die technisch oder spekulativ kurzfristig am Markt entstehenden Situationen.

Sie sprechen das Merit-Order-Prinzip an. Will sagen: Der Preis für elektrische Energie wird durch das jeweils teuerste Kraftwerk bestimmt, das noch benötigt wird, um die Stromnachfrage zu decken. Worin liegt die Logik dieses Prinzips – und sollte es durchbrochen werden?

Das Prinzip gilt ja in etlichen Ökonomiebereichen, nicht nur in der Energiewirtschaft. Durchbrochen werden können Preisbildungsprinzipien natürlich immer durch staatliche Eingriffe. Aber ich glaube, wir haben über Jahre und Jahrzehnte sehr deutlich gesehen, dass es nur sehr seltene Konstellationen gibt, wo der Staat als Planungsinstanz besser funktioniert als der Markt. Wir müssen deshalb in Deutschland wieder lernen, dass der Markt der effizienteste Koordinationsmechanismus ist. Selbstverständlich produziert der Markt nicht immer sozialverträgliche oder als sozial gerecht empfundene Ergebnisse, und dann kann und muss der Staat eingreifen. Aber wie problematisch das im Detail sein kann, haben wir gerade erst bei der Gasumlage erlebt. 

Halten Sie es für plausibel, dass angesichts der aktuellen Lage die drei deutschen AKWs doch noch über den Jahreswechsel hinaus weiterbetrieben werden?

Das wird zum einen davon abhängen, wie weit sich die derzeit ungewöhnliche Situation auf den europäischen Energiemärkten und insbesondere auch im deutschen Energiemarkt wieder normalisiert. Was natürlich auch von den geopolitischen Entwicklungen abhängt. Sollte sich die Situation weiter verschärfen, wird die Antwort auf Ihre Frage davon abhängen, inwieweit die Grünen in der Lage sind, im Sinne gesamtgesellschaftlichen Wohlstands und übergreifender Sicherheitsinteressen Pragmatismus über Ideologie zu stellen.

Die Fragen stellte Alexander Marguier.

 

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