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Ist Erben fair?

„Unverdientes Vermögen“ durch Erben widerspricht dem Leistungsethos liberaler Gesellschaften. Aber darf der Staat mit Steuern in die Eigentumsrechte des Nachlassers eingreifen? Der Streit über die Ethik des Erbens währt seit 200 Jahren

Anfang 2001 erschienen in amerikanischen Tageszeitungen großformatige Anzeigen, bezahlt von Multimilliardären wie Warren Buffet, George Soros und William Gates Sr. Eine Gruppe von 120 superreichen Vermögensbesitzern hatte sich zusammengeschlossen, um Einfluss auf die im Kongress gerade debattierten Steuergesetze zu nehmen. Es ging um die Nachlasssteuer, deren Abschaffung seit einigen Jahren hauptsächlich konservative Abgeordnete und auch Präsident Bush fordern. Für die Milliardäre stand einiges auf dem Spiel: Der Steuersatz für Nachlässe über fünf Millionen Dollar betrug zu diesem Zeitpunkt in den USA 55 Prozent. Das Vermögen einiger Anzeigen-Finanziers übersteigt die Summe von fünf Millionen Dollar um mehr als das Tausendfache. Die Abschaffung der Nachlasssteuer würde die Erbschaft ihrer Kinder also mehr als verdoppeln. Auf die Steuergesetzgebung Einfluss zu nehmen, könnte die mit Abstand profitabelste Investition im Leben der Milliardäre sein. Doch mancher Leser mag sich verwundert die Augen gerieben haben: Nicht die Abschaffung der Erbschaftsbesteuerung proklamierte die Werbekampagne der Superreichen, sondern vielmehr ihren Erhalt. Die Gruppe, die sich unter dem Namen Responsible Wealth zusammengefunden hat, setzt sich für die Aufrechterhaltung der Nachlasssteuer ein. Die Aufhebung der in den USA seit 1916 bestehenden Steuer wäre „schlecht für unsere Demokratie, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft“, argumentieren sie. Sie würde den reichen Amerikanern Vorteile zu Lasten der unteren sozialen Schichten geben, würde sozialstaatliche Programme schwerer finanzierbar machen und hätte einen negativen Einfluss auf Spenden an gemeinnützige Organisationen. Der Aufruf der amerikanischen Vermögensbesitzer ist ein spektakuläres Dokument in einer über 200 Jahre alten Debatte über die Legitimation der Vererbung von Vermögen in der modernen Gesellschaft. Diese Gesellschaften verstehen sich als Leistungsgesellschaften, deren wichtigstes Prinzip der Rechtfertigung sozialer Ungleichheit die unterschiedlichen Leistungsbeiträge der Einzelnen sind. Wer viel leistet, soll auch viel haben. Wie aber steht zu diesem weithin anerkannten Prinzip die Erlangung „unverdienten Vermögens“ durch Erbschaft? Die Fortschreibung materieller und politischer Privilegien von Generation zu Generation war eine der Grundlagen feudaler und aristokratischer Gesellschaften. Doch dagegen lehnten sich die bürgerlichen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts auf. Während die Vererbbarkeit von Ämtern und politische Privilegien „qua Geburt“ aufgehoben wurden, blieb die Möglichkeit des Transfers materieller Privilegien weit gehend unangetastet, obwohl die Vermögensvererbung zu ungleichen Startbedingungen für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder führt. Denn die Vermögensvererbung ist – entgegen der Rede von der Leistungsgesellschaft – eine der wesentlichen Ursachen sozialer Ungleichheit. Vermögen ist in Deutschland, aber auch in allen anderen Industrieländern, viel ungleicher verteilt als Einkommen. In Deutschland verfügen die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung über mehr als 60 Prozent des Privatvermögens, in den USA sind es sogar fast 83 Prozent. Natürlich geht dieses Vermögen häufig auch auf individuelle Leistung zurück, wie etwa bei vielen der heute sagenhaft reichen Unternehmer aus der Computerindustrie. Doch vermutlich knapp die Hälfte des Privatvermögens lässt sich auf Erbschaften zurückführen und basiert damit nicht auf eigener Leistung. Die Spannung zwischen ererbtem Vermögen und den Prinzipien der Leistungsgesellschaft hat in den vergangenen 200 Jahren immer wieder erbitterte intellektuelle und politische Auseinandersetzungen entzündet. Mit dem gegenwärtigen Vermögenstransfer von der „Aufbaugeneration“ zu den „Baby Boomers“, bei dem in Deutschland jährlich ungefähr 150 Milliarden Euro an die nächste Generation gehen, erlangen diese Fragen enorme Bedeutung. Dabei geht es darum, wie Erbschaften im Kontext der modernen Gesellschaft normativ zu rechtfertigen sind. Für eine Antwort können nicht nur die Kriterien des Leistungsprinzips gelten. Die Vermögensvererbung ist in ein ganzes Geflecht von wirtschaftlichen, politischen und familiären Bezügen eingebettet, die in einem beinahe unauflöslichen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Eine besonders prononcierte Tradition der Kritik an leistungsfreiem Vermögensübergang mortis causa besteht in den USA. Insofern hat der angeführte Aufruf der Milliardäre eine lange Vorgeschichte. In der amerikanischen politischen Kultur besteht eine bis in die Revolutionszeit zurückgehende normative Argumentationslinie, nach der klar zwischen selbst erwirtschaftetem Reichtum und mühelos erlangtem Vermögen unterschieden wird. In diesem Selbstverständnis ist nur das durch eigene Leistung erworbene Vermögen moralisch legitimiert, wohingegen durch Erbschaft erlangter Reichtum hochgradig problematisch erscheint. Bereits während der Revolution hatte Thomas Jefferson die Vermögenskonzentration durch Vererbung kritisiert. Für ihn waren es gerade die Erbgesetze in den europäischen Staaten, die feudale Eigentumsstrukturen zementierten und dadurch demokratische Entwicklung verhinderten. Die Primogeniturerbfolge (Vorzugsrecht des Erstgeborenen bei der Erbfolge) und die Reichtumsperpetuierung durch Fidei­kommisse (unveräußerliches und unteilbares Vermögen vornehmlich in adligen Familien) brachten die Kritiker direkt mit den monierten politischen und wirtschaftlichen Missständen in Europa in Verbindung. Ihre Aufhebung galt als vordringliche Aufgabe für die Etablierung demokratischer Verhältnisse. Im frühen 19. Jahrhundert geriet dieses Verständnis der Notwendigkeit einer breiten Vermögensverteilung erstmalig zum Bezugspunkt politischer Auseinandersetzungen um die Besteuerung von Erbschaften. Radikal-liberale Sozialreformer sahen in der Vermögensübertragung mortis causa eine gravierende Verletzung von Chancengleichheit und Leistungsprinzip, die sie beide zu den Grundpfeilern der amerikanischen Gesellschaftsordnung rechneten. Kritisiert wurde nicht das Prinzip des Privateigentums selbst – dieses wurde vielmehr vehement verteidigt –, sondern die Entstehung dynastischen Reichtums. Die Vermögenskonzentration in der Hand von wenigen würde die Ausgangschancen aller anderen negativ präjudizieren, den Geist des Individualismus und der Eigenverantwortlichkeit schädigen und damit die Demokratie gefährden. Die Sozialreformer wollten mit zum Teil radikalen Umverteilungsplänen das Recht eines jeden Staatsbürgers auf Eigentum durchsetzen und mit dem Grundsatz „all men are created equal“ Ernst machen. Im Unterschied zu späteren Forderungen nach Vermögens-umverteilung durch Erbschaftsbesteuerung in den kontinentaleuropäischen Ländern zielten die amerikanischen Kritiker nicht auf ein sozialistisches Eigentumsmodell, sondern auf eine Sozialreform zur Vergrößerung von Chancengleichheit und Verhinderung von Vermögensdynastien. Ihre Vorschläge waren fest im Prinzip des Privateigentums verankert. Zugleich steht die Begrenzung des Erbrechts jedoch notgedrungen in einem Spannungsverhältnis zum individuellen Eigentum und möglicherweise auch zu wirtschaftlichen Funktionsanforderungen. Denn wenn das private Erbrecht aufgehoben würde, dann würde das Recht des Erblassers auf freie Verfügung über sein Eigentum beschnitten. Gerade mit diesem Argument wehren sich die liberalen Befürworter des Erbrechts gegen Eingriffe in die Vermögensübertragungen. Das ebenfalls liberale Argument der Chancengleichheit wird dabei zu entkräften versucht: Erbschaft, so etwa der Ökonom Milton Friedman, ist ja nur einer der „Zufälle der Geburt“, neben unterschiedlichen Talenten und höchst verschiedener körperlicher Attraktivität. Wie aber wollten wir ernsthaft versuchen, Gleichheit der Talente, der Intelligenz oder des Aussehens herzustellen? Wenn dies nicht geht, weshalb sollten dann ausgerechnet materiell gleiche Ausgangsbedingungen geschaffen werden? Ein weiteres Argument gegen die Umverteilung von Erbschaften zur Erreichung gleicher Startbedingungen in jeder Generation ist wirtschaftlich. Schon Adam Smith beklagte die negativen Folgen von Erbschaftssteuern für die Kapitalakkumulation. Für Smith waren Erbschaftssteuern „mehr oder weniger unnütze Abgaben, die das Einkommen des Landesherrn erhöhen, mit dem selten anderes als unproduktive Arbeitskräfte bezahlt werden, und zwar auf Kosten des Kapitals von Leuten, die es ausschließlich für produktive Zwecke einsetzen.“ Erbschaftssteuern führten zur Reduzierung des Kapitalstocks und damit zur Dämpfung von Investitionen und wirtschaftlicher Entwicklung. Neben dem Zusammenhalt von Unternehmen bestehen weitere indirekte wirtschaftliche Zusammenhänge des Erbrechts: Kontrafaktisch argumentiert ließe die Aufhebung des Privaterbrechts – und damit die strikte Orientierung am Leistungsprinzip – die Erhöhung konsumtiver Aufwendungen erwarten und würde so zur Reduzierung des Kapitalstocks beitragen. Es würden Anreizstrukturen geschaffen, das Privatvermögen bis zum Lebensende zu verzehren. Dies hätte zwar kurzfristige Nachfrageimpulse zur Folge, würde jedoch langfristig die Kapitalbasis der Wirtschaft schädigen. Außerdem bestünde die Gefahr, das Erwerbsverhalten in wirtschaftlich problematischer Weise zu beeinflussen: Ein Motiv für Erwerbsfleiß – also: für Leistungsorientierung – liegt im Wissen um die Möglichkeit der dynastischen Weitergabe des Vermögens an die eigenen Kinder oder auch an eine Stiftung. Schon Joseph Schumpeter vermutete, dass kapitalistische Unternehmer weniger aus nacktem Geldgewinnstreben handelten als vielmehr in der Absicht, eine Dynastie zu begründen. Dieses Motiv spielt zwar im Sparverhalten eine nur untergeordnete Rolle – hier geht es vornehmlich um die Absicherung der eigenen Versorgungsgrundlage –, möglicherweise jedoch nicht im unternehmerischen Handeln. Auch für die Kritiker des Erbrechts spielen gerade die Motivationswirkungen einer bedeutenden Erbschaft eine wichtige Rolle. Doch argumentiert wird hier genau umgekehrt. Nicht die Anreize zum Erwerb für den Erblasser stehen im Vordergrund, sondern vielmehr die Auswirkungen der Erbschaft auf das Verhalten der Erben. Die berühmteste Verwendung dieses Arguments stammt ausgerechnet von Andrew Carnegie, dem um 1900 vermutlich reichsten Mann der Welt. Carnegie verfügte über ein riesiges Unternehmensimperium in der Eisenbahn- und Stahlindustrie und war ein energischer Verfechter des Privateigentums. Soziale Ungleichheit sah Carnegie als notwendige Voraussetzung für die Entwicklung gesellschaftlichen Wohlstands. Durch sein rücksichtsloses Verhalten als Unternehmer trug er zum Bild der amerikanischen Robber Barons im späten 19. Jahrhundert bei. Zugleich jedoch war Carnegie entschiedener Gegner privater Vermögensvererbung. 1889 veröffentlichte er einen Artikel unter dem unscheinbaren Titel „Wealth“, in dem er Erbschaften als sinnlose Almosen an die Kinder brandmarkte, die deren Motivation zu eigenem Erwerb zerstörten. Warum sich noch anstrengen, wenn für alles gesorgt ist, mag sich manches Kind reicher Eltern insgeheim fragen. Anstatt das Erbe durch eigenen Fleiß zu mehren, werden die Erben ein Lotterleben führen, fürchten die Eltern. „Wie schaffen wir es, dass unser Geld nicht unsere Kinder zerstört“, wurde vor einigen Jahren ein amerikanischer Multimillionär in der Zeitschrift Fortune zitiert. Wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Personen, die eine bedeutende Erbschaft erlangt haben, sich häufig aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Dies mag persönlich angenehm oder auch belastend sein; auf alle Fälle gehen der Gesellschaft so wichtige Ressourcen des Humankapitals verloren. Voller Sarkasmus sprach sich John Stuart Mill, einer der vehementesten Gegner der Vermögensvererbung im 19. Jahrhundert, für Primogenituren aus, weil so wenigstens nur eines der Kinder zum „Narren“ gemacht würde, die anderen aber zum Erwerb gezwungen blieben. In Carnegies Aufsatz ist jedoch noch ein weiterer, gerade für die USA bedeutender Aspekt enthalten. Erbschaften stünden, so der Milliardär, der aus dem Privateigentum erwachsenden Verantwortung des Vermögensbesitzers gegenüber der Gesellschaft entgegen. Für Carnegie ist der Vermögensbesitzer nur Treuhänder seines Reichtums für die Gesellschaft. Er ist verpflichtet, sein Eigentum für die vorteilhafte Entwicklung der Gesellschaft einzusetzen. Die Vererbung von Reichtum an die Kinder wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Vererbtes Vermögen solle daher mit einer möglichst hohen Erbschaftssteuer belegt werden; die Kinder und der überlebende Ehepartner sollten nur bescheidene Summen aus dem Vermögen zum eigenen Lebensunterhalt erhalten. Mit dem weiteren Eigentum müsse der Vermögensbesitzer philanthropische Institutionen initiieren. Tue er dies nicht, sollten seine Erben konfiskatorische Erbschaftssteuern treffen. Das in der politischen Kultur der USA stark verankerte Misstrauen gegen dynastische Vermögensperpetuierung hilft zu verstehen, weshalb gerade die USA über lange Phasen besonders hohe nominelle Erbschaftssteuersätze hatten. Bis in die achtziger Jahre wurden Nachlässe mit bis zu 77 Prozent besteuert. Da zugleich die Übertragung von Vermögen an gemeinnützige Stiftungen steuerfrei ist, machen die hohen Progressionssätze die Vermögensübertragung an Stiftungen attraktiv. Bei einem Steuersatz, bei dem drei Viertel des vererbten Vermögens an den Staat fließen, ist es für den Erblasser viermal so teuer, sein Vermögen in der Familie zu vererben. Wie Ökonomen vorrechnen, hat die im Vergleich zu Europa große Spendenbereitschaft in den USA ihren Hintergrund auch in der Steuergesetzgebung. Ganz anders in Deutschland. Abgesehen von der Zeit unmittelbar nach der Revolution 1918 und der Zeit nach der Kapitulation 1945 wurden Erbschaften naher Familienangehöriger nie höher als mit 38 Prozent besteuert. Heute liegt der Höchstsatz bei nur 30 Prozent. Hintergrund ist auch ein anderes Verständnis von Erbschaften in Deutschland. Hierzulande spielten Erwägungen der Chancengleichheit sowie der Gefährdung von Demokratie und individueller Erwerbsmotivation kaum eine Rolle. Allenfalls in der Nachkriegszeit wurde von Ordoliberalen wie Walter Eucken und Alexander Rüstow vor dem Hintergrund der prägenden Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und des Zusammenbruchs der Weimarer Republik eine vordringliche ordnungspolitische Aufgabe des Staates in der Sicherstellung frei zugänglicher Märkte gesehen – ein Ziel, das auch durch die einschneidende Begrenzung der Vermögensvererbung erreicht werden sollte. Im Vordergrund der Debatten über das Erbrecht stand in Deutschland jedoch die Familie. Gegner der Erbschaftssteuer und Kritiker der Testierfreiheit verstanden Eigentum übereinstimmend als Familieneigentum. Der juristische Eigentümer erscheint damit lediglich als Treuhänder für den Besitz der Sippe. Der Tod des Eigentümers führt nicht zur eigentlichen Eigentumsübertragung, sondern nur zum Überwechseln ideeller Träger des Familieneigentums. Dementsprechend würde die Besteuerung von Erbschaften in die privaten Vermögensbeziehungen der Familie eingreifen, was dem „Familiensinn“ widerspreche. Auch die Befürworter der Erbschaftssteuer in Deutschland bezogen sich nicht wie in den USA vornehmlich auf die politischen Gefahren der Vermögenskonzentration und das Prinzip der Chancengleichheit, sondern auf das Ziel der Generierung von Mitteln für die Sozial- und Bildungspolitik. Die Erbschaftssteuer wurde in einen Zusammenhang mit der Sozialpolitik gestellt. So forderten Sozialreformer bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Besteuerung von Erbschaften, um damit Armenfürsorge, Bildung und Auswanderung zu finanzieren. Die Erbschaftssteuer war als Instrument zur Lösung der „sozialen Frage“ gedacht. Bis heute spiegeln sich diese Begründungszusammenhänge, wenn, wie jüngst, die Erhöhung der Erbschaftssteuer zur Ausfinanzierung des Bildungswesens gefordert wird. Welche Folgen Erbschaften für die Familie haben, ist freilich umstritten. Einerseits können Erberwartungen und Schenkungen zwischen den Generationen solidarische Beziehungen befördern. Die durch „Erbstücke“ symbolisierte Herkunft kann außerdem eine bedeutende Rolle für die persönliche Identitätsbildung spielen. Erbschaften und Erberwartungen schaffen soziale Zugehörigkeiten. Der französische Soziologe Emile Durkheim etwa, der zunächst die Beschneidung des Erbrechts forderte, nahm in einer späteren Schrift diesen Vorschlag zurück, nachdem er die Rolle von Erbschaften für den Zusammenhalt der Familie erkannt hatte. Doch ist diese Wirkung keinesfalls eindeutig. Denn so wie Erbschaften Solidarität innerhalb von Familien befördern können, so lösen sie auch gerade Konflikte aus, die bis hin zur Zerstörung von Familien reichen können. Bedeutung erlangen Erbschaften außerdem als eine intrafamiliäre Form der Alterssicherung. Aufgrund der Verlagerung sozialer Absicherung auf versicherungsrechtliche Ansprüche und durch die inflations- und kriegsbedingte Vernichtung von Vermögenswerten wurde diese Bedeutung von Erbschaften während der vergangenen achtzig Jahre in den Hintergrund gedrängt. Doch mit der Reduzierung von Leistungen aus den Sozialversicherungen und dem Aufbau von bedeutenden Privatvermögen während der vergangenen fünfzig Jahre erlangen Erbschaften zumindest für die Mittelschicht wieder eine größere Rolle bei der Alterssicherung. Sollten die Leistungen der Rentenversicherung abgebaut werden, so lässt sich erwarten, dass die jetzige Erbengeneration auch die letzte sein könnte. Denn die Erbschaften würden dann für die eigene Alterssicherung konsumiert. In früheren Lebensphasen erfüllen insbesondere Schenkungen eine Funktion beim familiären Aushelfen. Schenkungen der Eltern oder Großeltern lassen sich als Startkapital und als Versicherung verstehen, mit denen die Unwägbarkeiten des Marktes innerhalb der Familie abgefedert werden. Sie erhöhen die Risikotoleranz und die individuellen Chancen im Leistungswettbewerb, ohne die Notwendigkeit der Leistungserbringung selbst in Frage zu stellen. So wie sozialstaatliche Absicherung die Marktallokation von Ressourcen eher akzeptabel macht, lässt sich ein solcher Zusammenhang auch für Erbschaften erkennen. Erbschaften übernehmen zumindest für die Mittelschicht eine Sicherungsfunktion, die nicht die prinzipielle Lösung vom bürgerlichen Erwerbsprinzip ausdrückt, sondern paradoxerweise gerade zur sozialen Akzeptanz des Leistungsprinzips und der damit verbundenen Risiken beiträgt. Der vielleicht interessanteste Vorschlag zur Verknüpfung der beiden Motive der Begrenzung dynastischer Vermögensperpetuierung und der Beförderung solidarischer Familienbeziehungen zwischen den Generationen mittels Erbschaften entstand bereits zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in Italien. Er entstammt der Feder von Eugenio Rignano. Erbschaften sollten, so der italienische Finanzier in einem vielfach übersetzten und bis in die dreißiger Jahre in Europa und in den USA diskutierten Buch, letztlich durch Besteuerung konfisziert werden, doch solle sich dieser Vorgang über drei Generationen strecken. Geerbtes Vermögen solle mit einem Drittel besteuert werden. In der nächsten Generation würde das gleiche Vermögen mit zwei Dritteln besteuert und das verbleibende Vermögen in der dritten Generation mit einem Steuersatz von einhundert Prozent belegt. Zeitgenössisch wurde dieser Plan besonders in den USA und in England diskutiert. In Deutschland erfuhr der Rignano-Plan hingegen eine eher kühle Rezeption. Zwar schrieb Eduard Bernstein ein Vorwort zur deutschen Übersetzung, dieses war jedoch recht distanziert. Die Sozialdemokraten bewerteten die Umverteilungsziele des Plans kritisch. Der bedeutendste Bezugspunkt liberaler Kritiker der Vermögensvererbung ist heute die Theorie von John Rawls. Der jüngst verstorbene Philosoph verteidigt die Institution der Erbschaft. Er fordert jedoch Eingriffe, wenn Vermögenszusammenballung Freiheit und faire Chancengleichheit unterlaufen. Die Vermögensvererbung ist so lange zulässig, wie die sich ergebenden Ungleichheiten „den am wenigsten Bevorzugten zum Vorteil gereichen und mit der Freiheit und der fairen Chancengleichheit vereinbar sind.“ Dieses Gerechtigkeitskriterium verlangt die Besteuerung von Erbschaften unter bestimmten Bedingungen. Den Steuern auf Nachlässe komme die Aufgabe zu, die Vermögensverteilung stetig zu berichtigen und dadurch Machtballungen zu verhindern, „die dem fairen Wert der politischen Freiheit und der fairen Chancengleichheit schaden würden.“ Schien es zunächst so, als hätte die liberale Kritik an der Vermögensvererbung mit der Gerechtigkeitstheorie von Rawls eine robuste Antwort auf die Ambivalenzen des Erbens gefunden, so ist vor einigen Jahren in den Diskurs erneut Bewegung gekommen. In einem gewichtigen Aufsatz kritisierte der Rechtsprofessor Edward McCaffery die Erbschaftssteuer gerade aus egalitär-liberaler Warte. Hohe Erbschaftssteuern würden, so McCaffery, den Konsum anheizen. Für eine liberale Gesellschaft sei aber gerade das offene Zur-Schau-Stellen des Reichtums eine besondere Provokation, nicht so sehr der unterschiedliche Vermögensbesitz als solcher. Statt Erbschaften zu besteuern, sollte vielmehr eine progressive Konsumsteuer eingeführt werden. Entgegnet wurde McCaffery daraufhin von der Yale-Professorin Ann Alstott, dass doch gerade das im Vermögensbesitz verkörperte Reichtumspotenzial für die liberale Gesellschaftsordnung problematisch sei. Diese in den USA vornehmlich unter Juristen geführte normative Debatte zeigt, wie ambivalent das Thema der Vermögensvererbung bis heute für jene Liberale ist, die sich am Prinzip der Chancengleichheit orientieren. Von diesem Diskurs dringt kaum etwas über den Atlantik. Dies wäre anders, würden die Brüder Albrecht, die Familie Quandt und Friede Springer sich zusammenschließen und in einem öffentlichen Aufruf den Erhalt oder gar die Erhöhung der Erbanfallsteuer fordern. So recht vorstellbar ist dies in Deutschland freilich kaum. Jens Beckert ist Professor am soziologischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen. Im August erscheint sein Buch: „Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts“

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