Getreidehandel mit der Ukraine - Das schwarze Loch

Am 18. Mai läuft das internationale Abkommen zum Export ukrainischen Getreides aus. Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien wehren sich jetzt schon gegen billiges Getreide aus der Ukraine. Hier hat die EU-Kommission eine Lösung gefunden, aber Russland will der Verlängerung des Abkommens ohnehin nicht zustimmen.

Ein Mähdrescher erntet Getreide auf einem Feld in der Region Odessa im Süden der Ukraine / dpa
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Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Der Getreidehandel steckt schon wieder in Schwierigkeiten. Die Vereinten Nationen versuchen, das internationale Abkommen, das am 18. Mai ausläuft und die Ausfuhr ukrainischen Getreides aus den Schwarzmeerhäfen ermöglicht, aufrechtzuerhalten, aber Russland hat signalisiert, dass es nicht zustimmen wird.

Moskau behauptet, das fast ein Jahr alte Abkommen zwischen der Uno, Russland, der Ukraine und der Türkei sei hinter seinen Anforderungen zurückgeblieben – doch die Hauptmotivation besteht darin, das Abkommen als Druckmittel in seinem Wirtschaftskrieg mit dem Westen einzusetzen. Russland hat Spielraum, weil es seine Exportquote fast erreicht hat. Der russische Außenminister Sergej Lawrow erörterte das Getreideabkommen am Montag mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres, und in den kommenden Wochen werden weitere Treffen stattfinden.

In der Zwischenzeit trafen sich die Landwirtschaftsminister der Europäischen Union am Dienstag, um die Lage der Landwirtschaft in der Union und die Auswirkungen des Kriegs zu erörtern. Zuvor hatten Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien vorige Woche Einfuhrverbote für ukrainische Produkte verhängt. (Rumänien, ein weiteres Land, in dem es wegen des Zustroms ukrainischer Produkte zu Protesten der Landwirte gekommen ist, hat von einem Verbot abgesehen und berät sich mit der Ukraine und der EU). EU-Beamte verurteilten die Einfuhrverbote und schlugen stattdessen zusätzliche finanzielle Unterstützung für Landwirte sowie Maßnahmen vor, die sicherstellen sollen, dass ukrainisches Getreide, das durch die EU transportiert wird, die Europäische Union auch wieder verlässt. In diesem Sinne haben sich die EU-Kommission und die betreffenden Länder am vergangenen Freitag auch tatsächlich geeinigt

Getreide zu Dumpingpreisen

Seit die EU im Juni voriges Jahres eine Verordnung zur vorübergehenden Liberalisierung des Handels mit der Ukraine erlassen hat, wurden mehr als 23 Millionen Tonnen ukrainisches Getreide durch die EU transportiert und auf dem europäischen Markt verkauft. Im November meldeten Polen, Rumänien, Bulgarien, die Slowakei und Ungarn die Angelegenheit bei der Europäischen Kommission an. Ungeachtet der hohen EU-Qualitätsstandards würden ukrainische Erzeuger und Händler ihre Waren zu Dumpingpreisen in ihre Länder einführen und damit ihre Landwirte schädigen, hieß es.

Ein großer Teil des Problems besteht darin, dass die nicht besetzten Schwarzmeerhäfen der Ukraine nur über begrenzte Kapazitäten verfügen, was einen der größten Getreideproduzenten der Welt dazu zwingt, seine Ausfuhren auf andere Routen zu verlagern. Der größte Hafen in der Region, der rumänische Hafen Constanta, ist nicht nur wegen des ukrainischen Getreides, sondern auch wegen des zunehmenden Verkehrs aus dem so genannten Mittleren Korridor durch das Kaspische Meer und den Kaukasus stark ausgelastet. (Sowohl Georgien als auch Rumänien haben ihre Kapazitäten für den Frachtverkehr erhöht, da der Handel mit China nicht mehr über die Ukraine abgewickelt werden kann). Nach Recherchen der Schifffahrtszeitschrift Lloyd‘s List fließen etwa 70 Prozent des verdrängten Handels der Ukraine über den Hafen von Constanta, der Rest wird zum größten Teil in die polnischen Häfen Gdynia und Gdansk umgeleitet.

Der Großteil des ukrainischen Exportvolumens wird auf dem Seeweg befördert, der Rest auf der Schiene (35%) oder auf der Straße (12%). Obwohl der ukrainische Infrastrukturminister letztes Jahr erklärte, dass der Ausbau des europäischen Schienennetzes ein strategisches Ziel sei, sind die Bauarbeiten noch nicht abgeschlossen. Wenn Russland sich weigert, das Getreideabkommen im nächsten Monat zu verlängern, werden der Hafen von Constanta und die Donau noch stärker belastet werden.

Verärgerung in Polen

Am 22. März schlug die Europäische Kommission vor, 56 Millionen Euro aus dem EU-Haushalt zu verwenden, um Polen, Bulgarien und Rumänien bei der Bewältigung der steigenden Getreide- und Ölsaateneinfuhren aus der benachbarten Ukraine zu helfen. Der Großteil der Hilfe, etwa 30 Millionen Euro, war für Polen vorgesehen, Bulgarien und Rumänien erhielten etwa 17 Millionen Euro bzw. 10 Millionen Euro. Unzufrieden mit der Antwort Brüssels, schloss Warschau am 15. April einseitig seine Grenze für ukrainische Agrarprodukte. Andere Länder folgten bald. Polen öffnete seine Grenze am 18. April wieder, allerdings nur für den Transit; ukrainische Agrarerzeugnisse dürfen weiterhin nicht in Polen entladen werden. Wiederum folgten andere Länder diesem Beispiel.
 

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Die EU stellt der Ukraine Mittel zur Verfügung, um die Produktion zu modernisieren und EU-Qualitätsstandards zu übernehmen. Indem die EU die Ukraine offiziell mit dem EU-Binnenmarkt assoziiert, schränkt sie die Möglichkeit der Ukraine ein, Getreide – oder alles andere, was nicht den hohen EU-Standards entspricht – innerhalb der Europäischen Union zu verkaufen. Die Anpassung an den EU-Markt ist ein langwieriger Prozess, der nicht nur finanzielle Mittel, sondern auch qualifiziertes Personal erfordert, das in Kriegszeiten Mangelware sein kann. In Anbetracht all dessen ist es wahrscheinlich, dass die ukrainischen Erzeuger ihr Getreide so schnell wie möglich an die nächstgelegenen Märkte verkaufen wollen (wie die Märkte, die die Waren durchqueren).

Ironischerweise befindet sich Russland in einer ähnlichen Notlage wie Europa. Die Getreideproduktion und die Lagerbestände waren im vergangenen Jahr weltweit hoch, und der Überschuss muss verkauft werden, bevor neue Ernten auf die Märkte gelangen können. Russland hat im Jahr 2022 eine Rekordernte eingefahren und ist wahrscheinlich nervös wegen der Nachricht, dass drei der weltweit größten Getreidehändler – Cargill, Viterra und Louis Dreyfus Co. – ihre Tätigkeit in Russland im Juli einstellen werden. Moskau sagt, dass lokale Anbieter sie ersetzen würden, aber ihr Geschäft kann nicht über Nacht erlernt werden – was bedeutet, dass einige russische Getreidesorten unverkauft bleiben könnten.

Getreideschwemme in Russland

Aufgrund der Getreideschwemme ist den russischen Landwirten, ebenso wie ihren europäischen Kollegen, kein angemessener Gewinn mehr sicher. Der Kreml will sicherstellen, dass die Landwirte nicht in den Ruin getrieben werden und die soziale Stabilität gefährden (ein geringeres Risiko als in Europa, aber dennoch ein Risiko). Einbrechende Gewinne vermindern auch die Fähigkeit der russischen Landwirte, in Saatgut und andere Materialien für die nächste Erntesaison zu investieren, was die russische Lebensmittelversorgung gefährden könnte.
 
Eine Möglichkeit, wie Russland diesem Problem begegnen kann, ist die heimliche Vermischung seines Getreides mit der ukrainischen Produktion. Kiew kann dagegen kaum etwas unternehmen; nach mehr als einem Jahr Krieg ist der Schwarzmarkt in der Ukraine gewachsen. Mit anderen Worten: Ein Teil des Getreides, das die europäischen Landwirte für ukrainisches Getreide halten, könnte aus Russland stammen. Dadurch profitieren die russischen Erzeuger und üben noch mehr Druck auf die EU-Länder an der Front aus, was einen Keil zwischen sie und Brüssel treibt. Auch zwischen der Ukraine und Polen, ihrem engsten Verbündeten, entstehen dadurch Gräben.

Wachsender ukrainischer Schwarzmarkt

Obwohl die durch die Pandemie verursachten Unterbrechungen der Lieferketten zu Ende gehen, zeigt der Krieg in der Ukraine eine neue Bedrohung für Europa auf: Die Ukraine könnte zu einem schwarzen Loch für die Wirtschaft werden. Der Krieg hat bereits die Handelsrouten verändert. Ein Fünftel der Ukraine steht unter russischer Kontrolle, und der Rest wird von Russland angegriffen. Der Westen diskutiert über den Wiederaufbau des Landes, muss sich aber zunächst vor den Auswirkungen des wachsenden ukrainischen Schwarzmarkts und des illegalen Handels, von Drogen bis hin zum Menschenhandel, schützen.

Europa weiß noch, wie man mit dem Wiederaufbau nach Konflikten umgeht. Seine letzten Erfahrungen damit hat es auf dem westlichen Balkan gemacht. Doch obwohl seit diesen Kriegen mehr als drei Jahrzehnte vergangen sind, erhält das Gebiet immer noch EU-Mittel und befindet sich in vielerlei Hinsicht noch im Wiederaufbau. In der Ukraine wird der Wiederaufbauprozess mit dem wachsenden Einfluss Russlands konfrontiert sein.

Der Getreidetransit ist nur eines von vielen Problemen, die auf Europa und die Ukraine zukommen werden. Die ukrainische Wirtschaft wird sich durch den Krieg und den Wettbewerb um Einfluss zwischen Russland und dem Westen weiter verändern. Auch wenn die Getreidepreise gegenüber den jüngsten Höchstständen deutlich gesunken sind, wird ihre Entwicklung in den kommenden Monaten von den Ereignissen in der Schwarzmeerregion, einschließlich des Schicksals des Getreideabkommens, bestimmt werden.

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