()

Das Prinzip Supermarkt - Das Prinzip Supermarkt

Johann Soder hat beim Antriebshersteller SEW-Eurodrive die Produktion auf kleine, flexible Einheiten umgestellt und dadurch die Lieferzeiten drastisch verkürzt. Mittlerweile interessieren sich Großkonzerne wie Siemens oder Daimler für das preisgekrönte Konzept.

Evelyn Runge

Autoreninfo

Evelyn Runge, Dr. phil., forscht an der Hebrew University of Jerusalem, Israel, zu den Produktionsbedingungen des digitalen Fotojournalismus. Als Journalistin veröffentlicht sie u.a. in Frankfurter Allgemeine SonntagszeitungDie Zeit/Zeit OnlineSüddeutsche ZeitungDer Spiegel/Spiegel Online. 

So erreichen Sie Evelyn Runge:

Der Geistesblitz kam ihm im Supermarkt. Johann Soder, ausgerüstet mit dem Einkaufszettel seiner Frau, beobachtete, wie eine Mitarbeiterin Regale mit Waren auffüllte. „So müsste meine Fabrik funktionieren: Der Markt zieht die Produkte, die Fabrik füllt nach“, dachte Soder, Technik-Chef beim Antriebshersteller SEW-Eurodrive in Bruchsal. „Wenn man erst kurz vor der Auslieferung die Produkte zusammenfügt, kann man in kürzester Zeit spezifische Wünsche der Kunden realisieren.“ Soder fuhr nach Hause und begann seine Ideen zu skizzieren. Aus dem Besuch im Supermarkt Mitte der neunziger Jahre ist mittlerweile ein mehrfach preisgekröntes Fertigungskonzept geworden. Großkonzerne wie Daimler und Siemens wollen von SEW-Eurodrive lernen. Soder hat die gesamte Fertigung auf sogenannte „small factory units“ umgestellt, kleine Fabriken in der Fabrik. Bevor er die Montagehalle betritt, streift er einen weißen Kittel über seinen dunklen Anzug und den Schlips im Firmenrot. Dort an einer Fotowand erläutert er lebhaft die Unterschiede zwischen alter und neuer Produktionsweise. Früher war die Produktion nach dem Werkstättenprinzip organisiert. Es gab vier große Teilbereiche: Bestückung, Montage, Endprüfung und Versand. Der Transport dazwischen kostete viel Zeit, die großen Fließbandmaschinen konnten jeweils nur einen Getriebetyp produzieren, Fehler ließen sich schwer zuordnen. „Das war sehr unflexibel, und viele Schritte waren nicht wertschöpfend“, sagt Soder. Jetzt fließe dagegen alles, erklärt er. Die von ihm eingeführten „small factory units“ bestehen aus zehn Inseln. In jeder Insel wird ein Getriebeteil bis zur Endprüfung gefertigt. Für die Mitarbeiter hat das den Vorteil, dass die Arbeit abwechslungsreicher ist als früher am klassischen Fließband. Das Unternehmen spart auf diese Weise Zeit und kann in den kleinen Einheiten auf den Kunden zugeschnittene Produkte fertigen. Die Getriebe werden erst kurz vor der Versandstelle so zusammengesetzt, wie der Kunde sie bestellt hat. Den Erfolg der Supermarkt-Idee kann Soder mit Zahlen belegen: Die Lieferzeiten sanken von 18 bis 20 Tagen auf ein bis drei Tage; 40 Prozent des Auftragsvolumens sind bereits nach zwei Stunden zum Versand fertig. Für das international tätige Unternehmen ist die neu gewonnene Schnelligkeit ein entscheidender Wettbewerbsvorteil. Die Antriebe für Förderbänder, Getränkeabfüllanlagen, Gepäckbänder am Flughafen, Rolltreppen, für Dächer von Cabrios und Sportstadien verkauft SEW-Eurodrive heute weltweit und betreibt in 47 Ländern, darunter China, die USA und Brasilien, eigene Standorte. Das 1931 unter dem Namen Süddeutsche Elektromotorenwerke gegründete Familienunternehmen führen die Brüder Rainer und Jürgen Blickle seit mehr als 20 Jahren in der dritten Generation. 13.000 Mitarbeiter erwirtschaften einen Umsatz von 1,6 Milliarden Euro. Der 55-jährige Soder ist ein SEW-Eigengewächs. Vom Azubi hat er sich bis zum Geschäftsführer hochgearbeitet. Er habe sich damals für eine Lehre zum Energieanlagenelektroniker entschieden, erzählt Soder, „weil mein Vater mir gesagt hat, Strom brauchen die Leute immer“. Im September dieses Jahres feierte er sein 40.jähriges Betriebsjubiläum bei SEW-Eurodrive. Er kennt das Unternehmen und das Umfeld in- und auswendig und lebt noch immer in Hambrücken bei Bruchsal, wo er auch aufgewachsen ist. Man merkt im Gespräch, dass ihm Unternehmen und Mitarbeiter am Herzen liegen, auch wenn Soder manchmal zu Unternehmensbroschürenprosa neigt: „Der Mensch ist unsere wichtigste und teuerste Ressource“, sagt er dann. Man nimmt es ihm trotzdem ab, weil er im nächsten Augenblick hinzufügt, dass er selbst in den siebziger Jahren anderthalb Jahre im Akkord am Fließband gearbeitet hat. „Das hat mich geprägt.“ Das Vertrauen, das die Firmeninhaber in ihn gesteckt haben, gibt Soder selbst an die Mitarbeiter weiter. In den kleinen Fabriken in der Fabrik braucht er nämlich auch kleine Unternehmer im Unternehmen. Soder, der sich selbst gerne als „kreativen Zerstörer“ bezeichnet, ist nämlich noch lange nicht am Ziel. Der Perfektionist sucht immer nach Möglichkeiten, die Arbeitsabläufe weiter zu verbessern. Dabei setzt er auf „die Weisheit der vielen“. Er öffnet die Tür zu einem Raum im ersten Stock: Auch hier sind Inseln - aus Pappkartons und Klebeband. Einmal im Jahr baut jeder Mitarbeiter hier seine Insel nach, um den eigenen Arbeitsplatz zu optimieren und zu individualisieren. „Gemeinsam zerstören für den nächsten Quantensprung“, nennt Soder das. Wie wichtig es ist, die Mitarbeiter in die Veränderungsprozesse mit einzubeziehen, hat Soder erst selbst lernen müssen: „Physisch lässt sich die Produktion relativ schnell umstellen, aber neue Denk- und Verhaltensweisen können Jahre benötigen.“ Für die Insellösung wurde die Elektronikfertigung der SEW in Bruchsal als „Beste Fabrik des Jahres 2000“ ausgezeichnet. 2001 und 2004 wurde die Firma für technologieorientierte Besuchs- und Informationsprogramme vom Bundeswirtschaftsministerium geehrt. Interessierte Gäste führt Soder regelmäßig durch die Produktion. Angst vor Nachahmern hat er nicht, weil das System ständig weiterentwickelt wird. Denn eine seiner zahlreichen Devisen lautet: „Der Rekord von heute ist der Standard von morgen.“

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.