Energiepolitik und Klimaschutz - „Der Atomausstieg war ein Fehler“

Ohne Technologieoffenheit wird der Wandel zur Klimaneutralität nicht gelingen, sagt Ex-BASF-Chef Jürgen Hambrecht. Deutschlands Abschied von der Kernenergie sei der falsche Weg. Dabei hat er daran selbst mitgewirkt.

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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Jürgen Hambrecht war von 2003 bis 2011 Vorstandsvorsitzender des Chemiekonzerns BASF und von 2014 bis 2020 dessen Aufsichtsratsvorsitzender.

Herr Hambrecht, Sie waren Mitglied der von Angela Merkel eingesetzten Ethikkommission, die sich für einen schnellen Atomausstieg ausgesprochen hat. War das ein Fehler?

Man muss das in den Kontext der Situation 2011 setzen. Die Schreckensbilder der Reaktorkatastrophe von Fukushima waren allgegenwärtig. Deshalb ist relativ zügig gehandelt worden. Nun sind zehn Jahre vergangen, und wir haben andere Schreckensbilder vor Augen: die Zerstörungen durch die Überschwemmungen im Ahrtal. Sie machen uns bewusst, dass der Klimawandel insgesamt wohl das größere Problem darstellt.

Die Lage wird dadurch verschärft, dass die damals beschlossene Energiewende in Deutschland nicht wie geplant vorankommt: Der Ausbau der Erneuerbaren Energien geht zu langsam, wir haben noch immer keine nennenswerten Speichertechnologien und der Ausbau der Netze lahmt. Und nun kommt zum Ausstieg aus der Kernenergie, der 2022 abgeschlossen werden soll, der Ausstieg aus fossilen Energieträgern hinzu. Zumindest für die Kohle soll, wie man jetzt hört, schon 2030 Schluss sein. Das wird dazu führen, dass wir in unserer Energieversorgung sehr schnell an Grenzen geraten.

Weshalb?

Die lastensichere Energieerzeugung, die jederzeit zuverlässig zur Verfügung steht, wird abgestellt. Dabei wissen wir, dass die enormen Schwankungen der erneuerbaren Energien große Herausforderungen mit sich bringen. Wir brauchen eine Rückfallposition, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Es war die Grundlage der Energiewende und das Grundverständnis aller Parteien, dass die Energieversorgung stets sichergestellt sein muss. Wenn man dafür weder Kernkraft noch fossile Energieträger haben will, fällt mir dafür nicht viel ein.

Momentan lautet die Idee, neue Gaskraftwerke als Backup zu bauen.

Jürgen Hambrecht / dpa

Ja, das wird als Übergangslösung diskutiert. Aber wer soll in neue Gaskraftwerke investieren, wenn sie nur eine begrenzte Laufzeit haben? Ich persönlich glaube, dass das nur ein Teil der Lösung sein kann. Wir sollten wirklich nochmal darüber nachdenken, und dabei keine der bestehenden Technologien aus ideologischen Gründen von vorneherein ausschließen.

Wir haben in Deutschland mit die sichersten Kernkraftwerke der Welt. Sechs davon sind noch in Betrieb. Sie könnten ohne weiteres weiter laufen. Würde man dafür alte Braunkohlemeiler vom Netz nehmen, hätten wir sofort eine CO2-Einsparung von bis zu 70 Millionen Tonnen im Jahr. Das entspricht etwa zehn Prozent unseres gesamten Ausstoßes. Das wäre ein großer Schritt nach vorne. Zumal der Weltklimarat der Vereinten Nationen die Nutzung der Kernkraft zum Schutz des Klimas empfiehlt, und viele Länder auch in Europa, wie etwa Frankreich, dem folgen.

Drei der sechs deutschen Kernkraftwerke sollen schon Ende dieses Jahres vom Netz gehen. Sehen Sie noch eine Chance, das aufzuhalten?

Bei realistischer Betrachtung nicht. Dazu müsste Paragraph 7 des Atomgesetzes, der die Laufzeit regelt, novelliert werden. Da wir noch keine neue Regierung haben, glaube ich nicht, dass das dieses Jahr gelingt. Aber es kann uns nächstes Jahr gelingen. Und dann haben wir immerhin noch drei Kernkraftwerke.

Nochmal gefragt: Betrachten Sie es rückblickend als Fehler, die Atomausstiegsempfehlung der Ethikkommission unterzeichnet zu haben?

Wenn ich aus heutiger Sicht, mit dem heutigen Wissen zurückschaue: Ja, es war ein Fehler. Wir haben die Komplexität der Probleme unterschätzt. Wir haben uns damals singulär auf die Risiken der Kernkraft konzentriert und andere Aspekte der Energieversorgung vernachlässigt. Auf erneuerbare Energien zu setzen ist richtig, diesen Weg sollten wir weiter verfolgen. Aber wir brauchen grundlastfeste Energieversorgungssysteme und dafür bietet sich die Kernkraft an. 

Zumal der Strombedarf durch Elektroautos und die Dekarbonisierung der Industrie weiter steigen wird. War das 2011 abzusehen?

Nein, davon war damals nicht die Rede. Die Energiewende wurde unter der Annahme ersonnen, dass der Stromverbrauch gleich bleibt. Die Regierung hat sogar davon geträumt, dass er durch Effizienzmaßnahmen sinken wird. Und jetzt stehen wir vor einer ganz anderen Situation. Mit der angestrebten Elektrifizierung des Transports und der Industrie wird der Strombedarf künftig vier- bis sechsfach so hoch sein wie heute. Allein die chemische Industrie wird, wenn alle Produktionsprozesse auf elektrische Energie umgestellt werden, so viel Strom verbrauchen wie heute ganz Deutschland.

Hinter vorgehaltener Hand äußern einige Manager und manche Politiker Zweifel am Atomausstieg. Warum traut sich kaum jemand, die Probleme der Energiewende so deutlich zu benennen wie Sie?

Die Frage müssen Sie anderen stellen. Eines ist aber klar: Um vernünftige Entscheidungen zu treffen, die hochkomplexe Systeme betreffen, darf man nicht mit dramatischen Schlagzeilen und Angstmache agieren, sondern muss auf Grundlage von Daten und Fakten analysieren, nachdenken und abwägen. Und dann muss man Handlungskonzepte entwickeln, die politisch tragbar sind.

Ich habe den Eindruck, dass eine Art Schockstarre herrscht, weil niemand weiß, wie das Dilemma zwischen sicherer, bezahlbarer Energieversorgung und dem Klimaschutz gelöst werden soll. Es fehlt ein an der praktischen Umsetzbarkeit orientiertes Konzept. Die Transformation zur Klimaneutralität ist eine gewaltige Herausforderung, der sich niemand wirklich stellen will.

Aus Angst vor „Fridays for Future“ und Co.?

„Fridays for Future“ ist eine bemerkenswerte Bewegung, die auf wichtige Probleme aufmerksam macht. Aber sie tut dies nur, indem sie sagt: „So geht es nicht. Abstellen. Und zwar sofort.“ Es kommen aus dieser Klimaschutzbewegung keine konstruktiven Vorschläge, keine in die Zukunft gerichteten Gedanken. Die Industrie wird vorschnell in die Ecke der Umweltverschmutzer und Klimaschutzgegner gestellt.

Das stimmt überhaupt nicht. Die Industrie macht unglaublich viel und hat bei der Transformation bisher mehr geleistet als andere Bereiche, wie etwa der Gebäude- und auch der Transportsektor. Die Industrie hat ihrer Emissionen bereits erheblich verringert und ist mit Innovation vorangegangen. 

Teile der Klimaschutzbewegung wollen davon nichts wissen, sondern träumen von der Abschaffung des Kapitalismus.

Das sind Leute, die es sich leisten können, so zu denken. Sahra Wagenknecht hat zu Recht von „Lifestyle-Linken“ gesprochen, und man kann dies auf „Lifestyle-Grüne“ erweitern. Unser Problem ist, dass solche Gruppen moralisierende Einzelargumente in den Vordergrund stellen und weniger das Handeln. Sie haben zu viel Macht, auch weil sie in den Medien rauf und runter zitiert und in zahlreiche Fernsehsendungen eingeladen werden. Dabei sind sie weit weg von der Realität.

Manchmal werde ich den Eindruck nicht los, dass wir uns in Deutschland nicht nur für unfehlbar, sondern auch für unschlagbar halten. Aber das ist nicht der Fall. Wir brauchen Lösungen, die unseren Industriestandort Deutschland erhalten. Andernfalls stehen Wohlstand und Beschäftigung auf dem Spiel.

Der Maschinenschlosser bei BASF in Ludwigshafen kann mit den „Lifestyle-Linken“ nicht viel anfangen, meinen Sie?

Ich glaube, der Maschinenschlosser ist realistischer; genauso wie große Teile der Bevölkerung. Das zeigt sich darin, dass die vor zehn Jahren in Meinungsumfragen mit großer Mehrheit festgestellte Abneigung gegenüber der Kernkraft inzwischen deutlich gesunken ist. Sogar unter jungen Grünen-Wählern. Das ist ein gutes Zeichen. Wir brauchen mehr Offenheit, mehr Flexibilität, mehr Lust an Neuem. Dazu gehören insbesondere Technologieoffenheit und eine Vielzahl von Innovationen, damit der Wandel gelingen kann.

Woran denken Sie dabei konkret?

Wir brauchen Innovationen entlang der gesamten Wertschöpfungsketten. Dabei müssen wir auch bereit sein, die Risiken neuer Technologien realistisch gegen die möglichen Chancen und den Nutzen abzuwägen. Im Bereich der Energie reicht die Palette von Verbesserungen in der Energieeffizienz über eine durchgängige Digitalisierung der Energienetze bis hin zu Sprunginnovationen in der Energieerzeugung, wie Hochenergiespeicher, Wasserstofftechnologien oder inhärent sichere Kernkraftreaktoren und Fusionskraftwerke. Nur mit den besten Technologien wird der Industriestandort Deutschland im globalen Wettbewerb bestehen. 

Das Gespräch führte Daniel Gräber.

 

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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