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"Osama war hier"

Das Volk verehrt ihn. Die Stammesfürsten beschützen ihn. Eine Spurensuche im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan.

Osama bin Laden. Wie ein Phantom geistert dieser Name durch die nach Kardamom, Zimt, Koriander und unzähligen anderen Gewürzen duftenden Basare der westpakistanischen Millionenstadt Peschawar. Das rhythmische, helle Hämmern der Kupferschmiede, das Rufen der Muezzins, das Geschrei der Händler und das trotz städtischem Getriebe immer wieder hörbare Blöken von Schafen lassen die Nähe der Grenze zu Afghanistan vergessen. Doch das Land, in dem noch bis vor kurzem blutige Religionskriege wüteten und das vor den Augen der Weltöffentlichkeit von den Taliban befreit wurde – es ist ganz nah. Und wo Afghanistan nah ist, da ist auch ein Name nicht weit: Osama bin Laden. Nein, offiziell gesehen hat ihn hier in Peschawar niemand. Nicht seit dem 11. September 2001. Und vor allem: Nicht, solange Zeugen zuhören könnten. Gewiss, in Zeitungen sei von ihm zu lesen gewesen, so erinnert sich ein Taxifahrer. Aber nur gelegentlich, ergänzt der Concierge des Pearl Continental Hotel, vor dem das Taxi steht. Doch bin Laden muss da gewesen sein. In den Hinterzimmern der Händler in der Straße der Goldschmiede ist es zu erfahren. Goldschmuck gibt es hier reichlich, und sehr viele afghanische Lapislazuli. Geduldig muss ich mir Schmuck zeigen, mir süßen Tee servieren lassen. Auf beharrliches Insistieren ist schließlich hinter vorgehaltener Hand mehr zu erfahren. Shafir Assala, der Goldschmied, rühmt sich nach einigem Zögern: „Ja, der Emir kommt hierher, zu einem meiner Brüder, gleich in der Nachbarschaft. Er bringt Gold. Dafür kauft er dann andere Waren für sich und seine Leute. Stoffe, Waffen und Lebensmittel.“ Osama bin Laden, der Emir. „Kam er auch nach dem 11. September 2001, nach den Anschlägen in den USA?“ „Ja, auch danach.“ „Und nach Madrid?“ „Er kommt immer wieder.“ Dass bin Laden über märchenhaft viel Geld aus Saudi-Arabien verfügt, dass er von irgendwoher seine Versorgung in den Bergen sicherstellen muss – für die Händler hier ist das so klar wie für den Taxifahrer, der vor dem Pearl Continental wartet und seine Augen überall hat. Aber in Peschawar möchte niemand beschwören, ihn gesehen zu haben. Im Basar bleibt offen, wie viel von den Beteuerungen des Goldschmieds, einer seiner Brüder handele regelmäßig mit bin Laden, Wunschträume aus Tausendundeiner Nacht sind. Immerhin ist der „Basar der Märchenerzähler“, für den Peschawar berühmt ist, nur wenige Straßenzüge entfernt. Doch wenn bin Laden auch nach den Anschlägen von New York und Madrid hier war, dann wird er auch jetzt wiederkommen, jetzt, nachdem der Terror nach London gekommen ist. Doch der Schmuckhändler Assala ist bei weitem nicht der Einzige in Peschawar, für den Osama bin Laden präsent ist. Die Stadt blickt nach Afghanistan. Im Laufe der Kriege, die das Nachbarland in den vergangenen 25 Jahren zerstört haben, sind Hunderttausende hierher geflohen. Von gut 500000 schwoll die Einwohnerzahl Peschawars auf geschätzte 1,5 Millionen an. Die Flüchtlinge haben die Stadt verändert, auch wenn Shamshattoo, das quadratkilometergroße Flüchtlingslager, weit draußen liegt, im Westen der Stadt – nach Afghanistan zu. Die gewaltige Balahisar-Festung, erbaut 1530, überragt die Stadt. Babur, ein äußerst machtbewusster und der Überlieferung nach auch brutaler Herrscher, ließ sie erbauen. Einst war sie eine Trutzburg des indischen Subkontinents gegen die Bergvölker, die Pathanen. Heute wird sie vom pakistanischen Militär genutzt. Die in gut 50 Metern Höhe über dem geschäftigen Treiben patrouillierenden Soldaten wirken wie eine Drohung. Doch die fast 500 Jahre alte Festung thront zugleich über den Basaren der Millionenstadt. Wie eine Insel. Sollte sich bin Laden wirklich in Peschawar aufhalten – von hier oben aus wäre das niemals zu kontrollieren. Und fragt man, ob die pakistanische Regierung das überhaupt möchte: Kontrolle über den Aufenthaltsort bin Ladens – dann ist Schweigen die Antwort. Überall in Peschawar. Shamshattoo. Eine nicht enden wollende Aneinanderreihung von Holzbaracken, die das nach Westen hin langsam zu den Bergen Afghanistans ansteigende Grenzland überzogen hat, einer langsamen Flutwelle gleich. Dort, in einem der Hüttenkomplexe und bestimmt 20 Kilometer von der eigentlichen Stadt entfernt, treffe ich den 14-jährigen Magsood. Seit drei Jahren ist er hier. Er stammt aus der kleinen afghanischen Stadt Parwan. Den Vater haben die Taliban ermordet. Doch trotzdem hat der Name bin Laden, der eng mit der einstigen Taliban-Regierung in Afghanistan verbunden ist, für ihn keinen bitteren Beigeschmack: „Weißt du, wer Osama bin Laden ist?“ „Ja. Er ist ein Held!“ „Obwohl er zusammen mit den Taliban kämpfte?“ „Ja, ein Held!“ Magsood, seine Mutter, drei Brüder und zwei Schwestern leben in Shamshattoo in einem Raum, der zehn, vielleicht zwölf Quadratmeter misst. Der Junge besitzt ein Paar Sandalen aus Plastik, sie sind zerschlissen. Es sind seine einzigen Schuhe. Zwei Kittel hat er noch. Das ist alles, was ihm gehört. Warum nur ist er ein Bewunderer von bin Laden, wo die Taliban doch seinen Vater ermordet haben? In den Augen von Magsood blitzt es auf: „Der Emir ist doch unsere einzige Hoffnung.“ Und wie er denken hier Hunderttausende. Sie sehen keine andere Alternative. So wird klar, warum sich niemand zu einer möglichen Anwesenheit „des Emir“ äußert. Man kann sich das nicht leisten. Nicht angesichts der prekären Lage in den Flüchtlingscamps. Niemand redet über bin Laden, auch die Regierung in Islamabad nicht. Bin Laden ist in den unübersichtlichen Gassen Peschawars partout nicht zu finden, und sei er auch gelegentlich dort. Doch wie verhält es sich mit dem Bergland im Grenzgebiet zu Afghanistan, wo er sich doch ständig aufhalten soll? Immerhin leben diesseits und jenseits der pakistanisch-afghanischen Grenze Pathanen. Sie betrachten sich als Angehörige eines Stammes. Als Blutsbrüder. Sie alle spüren herzlich wenig Bindung an den pakistanischen Staat, der nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht als künstliches Gebilde entstand. Das ist ein weiterer, ein wesentlicher Grund dafür, dass bin Laden allgegenwärtig, aber nicht zu fassen ist. Natürlich ist es auch die Größe des unwegsamen Berglandes im Westen Pakistans, die die Suche schwierig macht. Die westlichen Stammesgebiete sind zwischen 50 und 100 Kilometer breit, erstrecken sich aber von Norden nach Süden über mehrere Hundert Kilometer. Verborgen hinter hohen Lehmmauern gibt es hier kleine Produktionsstätten für Maschinengewehre der Marke AK 47, der russischen Kalaschnikow. In der zerklüfteten Einöde wird Fremdherrschaft traditionell nur zeitweise geduldet, aber nie wirklich akzeptiert, und mancher empfindet die Regierung in Islamabad als Fremdherrschaft. Das mussten schon vor Jahrhunderten die indischen Moguln erkennen, die einst die uralte Straße über den Khyberpass ausbauen ließen, um eine Verbindung zwischen Delhi und Kabul zu schaffen. Sie mussten sich schließlich nach Süden zurückziehen, tief in den indischen Subkontinent, bis Rohtas und Lahore. Auch die Briten erfuhren ab der Mitte des 19. Jahrhunderts äußerst schmerzlich, wie gefährlich es sein kann, sich in das Bergland im Westen des heutigen Pakistan zu begeben. Direkt neben der Straße hinauf zum Khyberpass sind ihre Regimentszeichen in den Fels gehauen, dort, wo sie ihre Lager errichtet hatten. Kam es zu Scharmützeln, gaben nur diese steinernen Zeichen davon Zeugnis – denn in den meisten Fällen gab es keine Überlebenden. Auch bin Laden könnte sich in einem dieser Täler aufhalten. Denn in dieser Gegend können sich Menschen auch heute noch höchst komfortabel verstecken. Das ist wichtig für „den Emir“, denn nach übereinstimmenden Angaben verschiedener Zeugen benötigt er aufgrund eines Nierenleidens umfangreiche medizinische Betreuung. Dass Menschen in diesem wilden Grenzland „verschwinden“ können, jahrelang unauffindbar bleiben, bestätigt Assad Durrani, Angehöriger der afghanischen Königsfamilie und langjähriger pakistanischer Botschafter in Deutschland: „In Afghanistan und auch an der Westgrenze Pakistans ist es möglich, dass 20 oder 30 Menschen für mehrere Jahre spurlos untertauchen. Ich weiß das, denn ich kenne die Landschaft sehr gut. Auch Osama bin Laden könnte hier sein.“ Das ist, bedenkt man Durranis Position als „elder statesman“ in Pakistan, eine sehr weitgehende Aussage. Angesichts der sprichwörtlichen asiatischen Zurückhaltung bedeutet sie im Klartext: Bin Laden ist aller Wahrscheinlichkeit nach hier, im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan. Von der Passhöhe des Khyber, über den vor über 2300 Jahren schon Alexander der Große mit seinem Heer marschierte, kann man durch ein langes Tal nach Afghanistan hineinblicken. Ist es möglich, dass sich bin Laden hier aufhält, in diesen unwirtlichen Felswüsten? Knapp oberhalb der Passhöhe sind die Khyber Rifles auf dem „Michni Post“ stationiert, eine überaus stolze Truppe. Die „Rifles“ sind die unumstrittenen Herrscher über das Gebiet. Reguläre pakistanische Truppen akzeptieren sie nicht auf dem Khyberpass. Islamabad richtet sich danach. Im November 1887 wurden die „Rifles“ von den britischen Kolonialherren gegründet. Sie rekrutieren sich traditionell ausschließlich aus den Mitgliedern der Stämme von Chatak, Masuhd, Chitral und Batani und haben heute 3500 Mann unter Waffen. Zudem besitzen sie eine völlig autarke Befehlsstruktur nebst einem eigenen Inspekteur im Rang eines Generalmajors, der ausschließlich dem pakistanischen Staatschef, dem Militärdiktator Pervez Musharraf, unterstellt ist. Sohail Azfar, Major der Khyber Rifles, hat auf dem „Michni Post“ das Kommando. Auf die Frage, ob er Osama bin Laden hier im Land vermutet, lächelt er und schweigt. „Bin Laden ist nicht nur ein Mann“, sagt er schließlich, „das ist eine Idee. Es ist die Idee des Kampfes gegen jede fremde Herrschaft. Und diese Idee kann von niemandem getötet werden.“ Im Übrigen stehe er selbstverständlich fest an der Seite der Amerikaner im Kampf gegen den Terror, wie jeder in Pakistan. Das Land am Khyberpass ist voller Widersprüche. Als ich mich verabschiede, sagt Major Sohail wie zur Bestätigung dieser These lachend und mit energischem Nicken: „Bin Laden, that’s everyone of us – bin Laden, das sind wir alle hier.“

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