- Weimarer Verhältnisse
Die moderne griechische Gesellschaft ist keine moderne, weil es keine Aufklärung gegeben hat. Diskurs, Dialog, Auseinandersetzung sind unterentwickelt. Ein radikaler Linker, der mit den Säbeln rasselt, und eine Neonazipartei im Parlament. Zwei Telefonate nach Athen in einer gespenstischen Zwischenzeit
Dann fällt das Wort: langfristig. Langfristig sei das Ergebnis der Wahl eine gute Sache. Das Eis sei dünn, aber man könne eine Gesellschaft schließlich nicht ändern, ohne das Ensemble der Korruption von der Bühne zu jagen.
Der Freund sitzt in der Wohnung seiner Tante. Die Tante hat 30 Jahre in der Hotellerie gearbeitet, bevor sie im vergangenen Jahr entlassen wurde. Nach acht Monaten hat sie wieder eine Arbeit gefunden, nicht in Griechenland, sondern auf dem prosperierenden Zypern.
Der Freund sitzt in der leeren Athener Wohnung seiner Tante und übersetzt ein philosophisches Buch aus dem Deutschen ins Griechische. Es wird sein letztes sein, sagt er. Der griechische Buchmarkt sei tot. Vor einem Jahr hätten die Verlage noch 15 Euro pro Seite gezahlt, jetzt nur noch elf. Er wird wieder Sprachunterricht geben, wie damals, als ich ihn kennenlernte – obwohl der Markt für private Deutsch- oder Griechisch- oder Französischstunden natürlich auch eingebrochen ist.
Vor 15 Jahren lebte er noch in Berlin und war mein Sprachlehrer. Wir trafen einander in einem Kreuzberger Restaurant und unterhielten uns über die rätselhafte griechische Gesellschaft. Über das unvermittelte Nebeneinander von mittelalterlichen (die Orthodoxie!) und neuzeitlichen Elementen.
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Über die blühende Schattenwirtschaft und die nicht verheilten Wunden der griechischen Vergangenheit – Bürgerkrieg (1946 bis 1949) und Militärjunta (1967 bis 1974), die – anders als der Zweite Weltkrieg in Deutschland – nicht durch mehrere Erinnerungs- oder Diskursivierungswellen gegangen und deshalb auch nicht anerkannter, bewusster Teil einer Identität geworden waren.
Die moderne griechische Gesellschaft ist keine moderne, weil es keine Aufklärung gegeben hat. Diskurs, Dialog, Auseinandersetzung seien unterentwickelt. Man komme eher aus der Tradition des Marktschreiers. Er sagte das bitter, aber gleichzeitig amüsiert über die naive Faszination, die diese Tatsache bei seinen deutschen Sprachschülern (und Schülerinnen) auslöste.
Sie sahen in Griechenland das Feuer der Unmittelbarkeit lodern, das Licht des Einfachen zog sie an. Aber natürlich gab es diese Unmittelbarkeit nicht, sagte er. Die Griechen spielten sich (und den anderen) diese Einfachheit nur vor, genauso wie sie sich (und den anderen) vorgaukelten, noch im direkten Kontakt zur glorreichen Antike zu stehen.
Seite 2: Wie Griechenland funktioniert, glaubt inzwischen jeder zu wissen...
Auch unsere Gespräche waren Spiele. Wir fingen jedes Mal bei null an und kamen – das lag in der Natur der Sache – zu keinem Ergebnis. Aber ich fürchte, ich idealisiere (deutsches Problem). Denn der Freund erzählte auch von Auslandsgriechen, die mit anderen Auslandsgriechen kein Griechisch sprachen. Der Gebrauch der Sprache allein rufe schon eine unselige Intimität auf, ein ungutes Klima aus überheblicher Verbundenheit und Minderwertigkeitsgefühlen und dem ewigen Misstrauen, das im anderen den möglichen Verräter wittert.
Wie Griechenland funktioniert – oder eben nicht –, glaubt heute jeder Zeitungsleser zu wissen. Der deutsche faszinierte (und latent abfällige) Blick auf Griechenland wurde in den vergangenen Jahren erst hämisch, dann regelrecht wütend, zwischenzeitlich wieder wohlwollend (nachdem die großen Parteien die Einhaltung des Sparpakets schriftlich zugesichert hatten), dann desinteressiert, zum Schluss sogar hoffnungsfroh („Ratingagentur wertet GR auf“) – und zeigt nach der letzten Wahl blankes Entsetzen.
Die beiden Volksparteien Nea Dimokratia und die Sozialisten von der Pasok, die seit Jahrzehnten die Macht unter sich aufteilen: unter 20 Prozent! Zweitstärkste Kraft dagegen ein linksradikales Bündnis namens Syriza, dessen junger Vorsitzender Alexis Tsipras gleich davon spricht, die Schulden nicht zurückzahlen zu wollen und damit von Westerwelle und Schäuble panische Raus-aus-dem-Euro!-Drohungen provoziert. Und die rechtsradikale Partei „Chrisi Avgi“ („Goldene Morgendämmerung“) im Parlament, mit skandalösen 7 Prozent. Weimarer Verhältnisse.
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Auch der Freund klingt entsetzt, weniger wegen Tsipras und der Schuldenfrage, mehr wegen der Rechten. „Hör mal, diese Typen sind keine Rechtsradikalen. Das sind echte Neonazis, die zur Begrüßung den Arm zum Hitlergruß heben und als Schlägertrupps durch die Stadt patrouillieren.“
Ihr Erfolg sei besonders gespenstisch, weil sich ihre Wählerschaft nicht nur aus Protestlern zusammensetze, sondern auch aus kleinen Leuten, die Angst davor hätten, aus dem Haus zu gehen. Das, was im vergangenen Jahr in der Innenstadt von Athen passiert sei, lasse sich nicht anders als dramatisch bezeichnen.
Durch die Krise hätten nicht nur viele Läden geschlossen (die Arbeitslosigkeit liegt bei fast 22 Prozent) – auch die Kriminalität sei angestiegen, und zwar mitten im Zentrum, an den Plätzen Victoria und Omonia, nur einen Steinwurf von der Akropolis und dem Syntagma-Platz entfernt. „Jedes Jahr kommen 100 000 illegale Flüchtlinge nach Griechenland. Sie wollen nach Mitteleuropa, bleiben aber hier hängen, tauchen in den Städten unter, teilen sich zu zehnt ein Zimmer und müssen von irgendetwas leben.“
Prostitution, Drogenhandel, Taschendiebstahl – er selbst, sagt der Freund, meide inzwischen die einschlägigen Plätze. Mir kommt das übertrieben vor, aber ich war auch seit Oktober nicht mehr in der Stadt. Die konzeptlose, überforderte bisherige Regierung hat kürzlich beschlossen, in leer stehenden Militärkasernen Auffanglager einzurichten, sagt er. Im Wahlkampf hätten sowohl ND als auch Pasok Ressentiments geschürt. Ein Minister ist sogar so weit gegangen, die Namen und Fotos HIV‑positiver Prostituierter zu veröffentlichen und Warnungshotlines für Freier einzurichten. „Du musst mal im Internet gucken. Tausende Leute rufen da an.“
Seite 3: Was für eine Partei wird sich in Griechenland etablieren können?
In diesem Klima von würdeloser Denunziation und Angst inszenierten sich nun „die Affen von der ‚Chrisi Avgi‘ als Retter. Sie sagen den alten Omis: Ruf’ uns an, wenn du einkaufen gehen willst. Wir kommen und begleiten dich. Sie sind eine Art marodierender Sicherheitsdienst.“
Dagegen sei der vom Westen gefürchtete Tsipras von Syriza keine Bedrohung, sondern – im Gegenteil – Hoffnung auf eine andere, neue Politikkultur. Denn Tsipras, der aus der Studentenbewegung kommt, und seine Linksallianz haben – anders als das Personal von Pasok und ND – keinen Dreck am Stecken.
Im April wurde zwar der Ex-Verteidigungsminister Apostolos Athanasios-Tsochatzopoulos festgenommen, weil er von einer deutschen Rüstungsfirma Schmiergelder angenommen haben soll, aber bei dem einen Bauernopfer haben es die Etablierten bewenden lassen. Außerdem: Tsipras wolle nicht aus dem Euroraum austreten, sondern nur den zweiten Teil des Sparpakets aufschnüren. In dem gehe es nicht um die Frage der Schulden, sondern um die Modalitäten der Rückzahlung. „Es geht um mehr Zeit. Fünf Jahre Rezession! Es sieht doch jeder, dass es so nicht weitergeht.“
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„Die Situation ist inzwischen tragisch“, findet auch Anestis Azas. „Eigentlich haben wir nur die Wahl zwischen mehreren Sackgassen.“ Azas ist Theaterregisseur und hat im vergangenen Jahr mit dem Mavili-Kollektiv in Athen ein leer stehendes Theater besetzt, wo nun regelmäßig Inszenierungen und Diskussionen stattfinden. „Es wird Neuwahlen geben. Das war keine Wahl für eine Partei, sondern die Abwahl des alten Systems.“ Auch er ist geschockt vom Abschneiden der Nazipartei und gibt dafür der Presse eine Mitverantwortung: „Die haben aus Prinzip nicht über sie berichtet und sie verschwiegen und das Gegenteil erreicht.
Ein Gutes hat die Sache: Jetzt sehen die Wähler, was für Leuten sie ihre Stimme gegeben haben. Aber auch wenn die Partei bei der nächsten Wahl wieder verschwindet – es wird sich in Griechenland eine rechtspopulistische Partei im Stile Le Pens etablieren.“
Er schnauft beim Sprechen. Man merkt, wie sehr ihn alles aufregt. Der Zustand. Oder meine Fragen, auf die es nur komplizierte Antworten gibt. Auch in den dreißiger Jahren gab es Faschisten. Und auch alte Junta-Nostalgiker seien noch nicht ausgestorben, aber die Verschiebungen gerade, die Allianzen und Fronten, die sich abzeichneten zwischen Eurobefürwortern und den Gegnern des Sparpakets, erinnerten eher an die Teilung des Landes während des Bürgerkriegs. „Wenn man jetzt hört, was in den Kafeneia gesprochen wird!“ Er redet nicht weiter, als wollte er den Teufel nicht an die Wand malen, die Lage nicht schlimmer machen, als sie ist.
In den Wochen vor der Wahl wurden in Deutschland vor allem positive Griechenlandartikel geschrieben, sage ich. Über Firmen, die die Krise als Chance nutzen und ökologische Produkte herstellen, Hoffnungsreportagen über Bürgerbewegungen und Kooperativen, die übers Internet billige Kartoffelkäufe organisieren, weil sie die Zwischenhändler umgehen und direkt mit den Bauern verhandeln.
„Das ist richtig. Die Menschen entdecken bürgerliches Engagement, Gemeinschaftsgefühl, übernehmen gegenseitig Verantwortung. Vielleicht sollte es eine Volksabstimmung geben. Dann könnten die Leute entscheiden: zwischen der Zivilgesellschaft und …“
Und?
„Ach, ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.“
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