Ukraine-Krieg bei Anne Will - „Wären wir in der Lage, ein Gas-Embargo über zwei, drei Jahre durchzuhalten?“

Wie muss der Westen auf die Gräueltaten in Butscha reagieren? Und welchen Einfluss hätte ein sofortiger Lieferstopp von russischem Öl und Gas nach Deutschland auf Putins Angriffskrieg in der Ukraine? Über diese und weitere Fragen wurde am Sonntagabend bei Anne Will diskutiert. Zu Gast waren der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil, CSU-Chef Markus Söder, die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm, Marieluise Beck vom Zentrum Liberale Moderne sowie der Journalist Robin Alexander. Unterm Strich merkte man der Sendung an, dass in der Debatte um Sanktionen gegen Russland wohl alle Argumente ausgetauscht sind.

Marieluise Beck, ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, kehrte am Vortag von einer Reise nach Kiew zurück / Screenshot
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Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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„Die sehen das aber falsch. Und es ist tatsächlicherweise unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht wirklich funktionieren. Ich kenne in der Wirtschaft überhaupt niemanden, der nicht genau wüsste, dass das die Konsequenzen wären“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz vor einer Woche bei Anne Will und legte sich damit ungewohnt harsch mit dem einen oder anderen Wirtschaftswissenschaftler an, der in seinen Modellen errechnet haben will, dass ein sofortiger Importstopp von russischer Kohle sowie russischem Öl und Gas die Bundesrepublik nicht zurück in die Steinzeit katapultieren würde.

Die Ampel-Regierung sorgt sich dabei wohl weniger um den Ottonormal-Verbraucher, der der Gauck'schen Feudalismustheorie folgend ja auch mal frieren könnte für den Frieden, sondern insbesondere um die deutsche Industrie, da, so die Befürchtung, ganze Industriezweige ihre Tätigkeit einstellen müssten, wenn man von heute auf morgen auf russische Kohle, Öl und Gas verzichtet. Doch damit dringt man bei Teilen der Bevölkerung – vor allem jenen Teilen, die vor dem Bildschirm arbeiten statt am Fließband und die aus den gleichen Gründen nun die olle Kamelle vom Tempolimit 130 auf der Autobahn aufwärmen – nicht wirklich durch.

Auch bei Marc Beise von der Süddeutschen Zeitung nicht, der sich seinen Frust anschließend in einem Kommentar mit dem vielsagenden Titel „Die Arroganz des Kanzlers“ von der Seele schreiben musste. Und mit Sätzen wie „Regelrecht ärgerlich wird es dann, wenn Besserwisser Scholz wichtige Akteure einfach aus dem Spiel nimmt, aktuell trifft es deutsche Ökonomen“. Dabei hat Scholz ja eigentlich nur festgestellt, was die Regierenden in den vergangenen zwei Seuchenjahren hätten ruhig einmal öfter feststellen können: dass Modelle eben nur Modelle sind, Wahrscheinlichkeitsrechnungen nach festgelegten Parametern. Auch ein bisschen Blick in die Glaskugel eben – und Realität ist nochmal eine andere Dimension. Der Aufschrei war trotzdem groß, das Thema ist logischerweise noch nicht vom Tisch und wurde daher auch am vergangenen Sonntagabend bei Anne Will wieder zum Diskussionsgegenstand. Unter anderem.

Todbringende Geschosse aus der Luft

Zu Gast waren der SPD-Parteivorsitzende Lars Klingbeil, der seinen Posten im Dezember von Norbert Walter-Borjans geerbt hat, und der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder, der aus München zugeschaltet war. Außerdem die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm, die seit 2020 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist, die ehemalige Parlamentarische Staatssekretärin Marieluise Beck, Grünen-Politikerin und Mitgründerin des Zentrums Liberale Moderne, sowie der omnipräsente, aber deshalb nicht weniger kompetente stellvertretende Welt-Chefredakteur Robin Alexander; was nur insofern überraschend war, weil der – gefühlt – ja sonst immer bei Markus Lanz sitzt. Aber das eine schließt das andere natürlich nicht aus.
 

Cicero-Chefreporter Moritz Gathmann aus der Ukraine:


Überschattet wurde die Sendung von den Bildern aus Butscha, die unter andem Gräueltaten russischer Truppen an der Zivilbevölkerung dokumentieren sollen. Russland bestreitet dies, nennt die getöteten, teils an den Händen gefesselten Zivilisten eine „Inszenierung“. Marieluise Beck jedenfalls, die 2017 gemeinsam mit Ralf Fücks das Zentrum Liberale Moderne ins Leben gerufen hat, war erst am Samstagabend aus Kiew zurückgekehrt, erfährt man. „Deutschland kann nicht alleine antworten, sondern muss im europäischen Verbund antworten, auch zusammen mit der USA“, so Beck mit Blick auf Butscha. Sie plädiert für einen sofortigen Boykott von russischer Kohle, Öl und Gas ebenso wie für die Schließung des Luftraums. Wenn die Nato das nicht machen wolle, so Beck, müsse man „die Ukraine selbst in die Lage versetzen, dass diese todbringenden Geschosse, Bomben und Artillerie nicht mehr über den Himmel in alle Städte kommen“. Außerdem berichtet Beck aus Polen, wo, folgt man ihr, die Angst umgeht, dass das Land das nächste Ziel Russlands sein könnte.

Nicht nur eine Frage der Industrie

Anschließend kam, was zu erwarten war: Unter dem Eindruck der Bilder aus Butscha wollte Anne Will vom SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil wissen, ob es jetzt überhaupt noch ein gutes Argument gegen einen sofortigen Stopp russischer Öl- und Gaslieferungen geben könne. Die Frage ist legitim. Allerdings haben sich die Rahmenbedingungen betreffend Machbarkeit selbstredend auch mit den Bildern aus Butscha nicht verändert. Und hier zeigt sich einmal mehr auch die große Schwäche der aktuellen Debatte rund um den Ukraine-Krieg in Deutschland, die so emotional geführt wird, dass Themen vermengt werden, die nicht zwangsläufig in kausalem Zusammenhang stehen.

Folgerichtig blieb etwa Klingbeil bei der Linie der Ampel-Regierung, dass es einen sofortigen Stopp von russischen Öl- und Gaslieferungen nicht geben wird. Klingbeil sagt: „Bei aller Emotionalität, die auch ich habe, müssen wir über die Konsequenzen reden, die das für uns in Deutschland hätte. Und das ist nicht nur die Frage der Industrie. Es ist auch die Frage des Zusammenhalts. Es ist die Frage: Was macht das mit diesem Land?“, so Klingbeil – und stellt anschließend eine Frage in den Raum, die derzeit eigentlich noch viel zu wenig diskutiert wird: Welchen Einfluss hätte ein sofortiger Lieferstopp von russischem Öl und Gas nach Deutschland auf Putins Angriffskrieg in der Ukraine wirklich? Oder im Gauck'schen Duktus formuliert: Was, wenn am Ende in Deutschland gefroren wird, der Frieden in der Ukraine aber trotzdem nicht kommt?

Die Verbündeten tun mehr

Wie auch Scholz vor einer Woche, bleibt Klingbeil beim Standpunkt, die Bundesregierung tue alles, um der Ukraine zu helfen. Die Wahrheit ist: Das ist nicht der Fall. Oder wie es Robin Alexander von der Welt formuliert: „Man kann das ja mit dem vergleichen, was die Verbündeten tun – und die tun mehr.“ Hinzu kommt etwa, lässt sich anfügen, dass die Regierung laut Medienberichten bei der Freigabe von Waffen für die Ukraine zögert, die von deutschen Rüstungsunternehmen bereits gelistet werden und bereit wären für die Lieferung. Den Vorgang hat der ukrainische Botschafter erst vor wenigen Tagen kritisiert. 

Söder plädiert derweil dafür, mehr Waffen an die Ukraine zu liefern, mehr humanitäre Hilfe zu leisten und die Strukturen hinter den Waffenlieferungen zu verbessern. Der deutschen Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) attestiert er, überfordert zu sein – womit Söder ausspricht, was viele Beobachter derzeit denken. Außerdem fordert Söder bei der Kernenergie einen „Ausstieg vom Ausstieg“, um „die Krise in der Krise“ nicht zu verschärfen. Und drittens müsse die Wirtschaft entlastet werden, so Söder. Schließlich stehe man auch in der Verantwortung für Millionen von Arbeitsplätze. 

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Veronika Grimm bestätigt bei Anne Will die Befürchtung der Bundesregierung, dass die deutsche Industrie unter einem sofortigen Boykott von Öl und Gas aus Russland leiden würde und verweist dabei auf eine Vielzahl entsprechender Studien zum Thema. Sie spricht von einem „tiefen Wirtschaftseinbruch“, der dann drohe. Die Frage sei allerdings, wie hoch die Belastung tatsächlich wäre, so Grimm. Das sei das eine. Das andere sei die „langfristige Sicherheit in Europa“, sagt sie – und äußert wiederholt ihre Befürchtung, dass Putin jede Reaktion, die vom Westen nicht kommt, als „Einladung“ verstehen könnte, „weiter zu machen“. Aber würde ein Embargo Putin denn nun stoppen? „Ich glaube, nicht unmittelbar, aber es ist auch die falsche Frage“, findet Grimm. Denn: „Unsere Zahlungen erlauben dem Regime Putin doch vieles weiter zu finanzieren, was ohne diese Einnahmen nicht finanzierbar wäre.“

Klingbeil will sortieren

Während Beck einmal bei Söder das Gesicht in die Hände wirft und eine halbe Ewigkeit mit dem Kopf schüttelt, dann ein andermal bei Klingbeil die Hände wie zum Gebet faltet, will Klingbeil selbst die Debatte erst einmal sortieren. Verständlich. Denn tatsächlich geht da derzeit ziemlich viel und auch noch überaus emotional durcheinander. Nicht nur bei Will, sondern auch draußen, in den sozialen Medien zum Beispiel, wo behauptet wird, mit einem Tempolimit 130 auf der Autobahn würde man Putin schaden oder damit, erstmal weniger zu duschen. Klingbeil fragt zum Beispiel: „Wären wir in der Lage, ein Gas-Embargo über zwei, drei Jahre durchzuhalten? Und wie verändert das eigentlich unsere Wirtschaftsstrukturen?“ Und weiter: „Führt das dazu, dass die Produktion in der Industrie abwandert nach China und wir auf einmal andere autoritäre Systeme stärken?“ Das seien doch alles „Fragen, die durchdacht werden müssen“.

Ähnliche Gedanken äußert der bayerische Ministerpräsident. „Erstmal überlegen, dann handeln. Nicht handeln und dann überlegen, welche Konsequenzen das hat“, sagt Söder etwa. Oder auch: „Wenn wir mit großen Betrieben reden: Die haben wirklich Panik.“ Man müsse alle Fakten und alle Möglichkeiten auf den Tisch legen, so Söder, der zudem daran erinnert, dass Putin bereits auf der Suche nach neuen Abnehmern sei für sein Öl und Gas. „Zwei Dinge müssen wir tun: Wir müssen der Ukraine helfen, ja. Aber wir sind auch den Menschen in Deutschland verpflichtet“, so Söder. Beck, stets überaus engagiert, will das nicht gelten lassen. Sie schildert ihre Eindrücke aus der Ukraine, wiederholt sich, findet, dass Deutschland nicht ernstnehme, was Putin sage und ankündige. Ein Boykott von russischem Öl und Gas müsse her. Da lässt Beck nicht mit sich reden.

Alles scheint gesagt

Unterm Strich merkt man dieser Sendung schon ab etwa der Hälfte an, dass eigentlich alle Argumente zu möglichen Sanktionen gegen Russland ausgetauscht sind; dass alles gesagt scheint zu diesem Thema. Und dass es weiterhin schwer sein wird für die Politik, die unterschiedlichen Interessen auszubalancieren. Im Auge des Sturms steht hierzulande freilich die Ampel-Regierung, die sich, so lange dieser Krieg andauern wird, wohl wird vorwerfen lassen muss, nicht genug zu tun, um die Ukraine zu unterstützen.

Gleichwohl ist es aber auch so, dass auf der anderen Seite ungern zur Kenntnis genommen wird, dass die Unterstützung der Ukraine nicht die einzige Aufgabe ist, die eine Bundesregierung zu erfüllen hat. Sie muss auch das Interesse der eigenen Bürger berücksichtigen, der eigenen Industrie, des eigenen Landes. Und zwar und ganz besonders auch in Zeiten, in denen das schwerfällt, weil die Welt aus den Fugen ist.

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