Kalender-Heros des 9. Mai - Schluss mit Schiller

Der Weimarer Klassiker ist ein problematischer Fall für Biografen – wohl deshalb wird er in den Jubiläumsbüchern zumeist profaniert und banalisiert

Mancher mag geglaubt haben, die Welle der Schiller-Bücher sei bereits verebbt: Schließlich waren schon im Herbst des Vorjahres die Schiller-Biografien reihenweise aufgetreten (siehe „Literaturen” 1–2/2005). Aber das Gegenteil ist der Fall. Nahezu wöchentlich erscheinen neue Bücher über den wieder ins Blickfeld gerückten Klassiker, dem «Der Spiegel» sogar schon das vereinnahmende Attribut zurückerstattet hat, mit dem ihn frühere Epochen – angeregt durch eine Formulierung Goethes – so gern versahen: «Unser Schiller».

Indes: der Schiller-Forscher Norbert Oellers mutmaßt folgerichtig, dass das gesteigerte öffentliche Interesse am Autor keineswegs eine dauerhafte Wiederent­deckung garantiere. «Bei allem vorsichtigen Optimismus sollte nicht damit gerechnet werden, dass in naher (und ferner) Zukunft eine Schiller-Renaissance den Geist (oder Ungeist) einer Epoche nennenswert beeinflusst», schreibt er in seinem Buch «Schiller. Elend der Geschich­te, Glanz der Kunst».

Oellers’ Studie bildet eine Ausnahme, die sich vom Talmi-Glanz der meisten Festtags-Publikationen abhebt: Konzis in der Darstellung, solide informierend, bietet sie nach einem Abriss der Lebens-geschichte eine analytisch gehaltene Untersuchung des Gesamtwerks, die ohne psy­chologische Verkürzungen und plakative Vereinfachungen operiert. Das Hauptaugenmerk des Autors gilt zu Recht dem Dramatiker Schiller, der in den neueren Biografien von Sigrid Damm und Rüdiger Safranski nur unangemessen gewürdigt wird – weil Damm das literarische Werk zumeist ignoriert und Safranski vor allem den Kulturtheoretiker Schiller im Visier hat. Das Buch ist ansprechend illustriert, mit Fotografien aus achtzig Jahren Bühnen­geschichte, und setzt auch dort, wo der Lyriker, Erzähler, Historiker und Kunstphilosoph ins Blickfeld rückt, auf ein Schiller-Bild mit historischer Bodenhaftung.

Schiller ist bei Oellers nicht das pathetische Genie oder der Inspirator des Idealismus, sondern ein von programmatischem Kalkül geleiteter Autor, der seinem Publi­kum «den Kopf heiß zu machen» sucht, wie er es selbst im Zusammenhang mit dem «Wilhelm Tell» formuliert hat. Religiöse Optionen, metaphysische Anleihen, Annäherungen an die spekulative Philosophie werden von Oellers auf ihren funktionalen – poetologischen – Kern zurückgeführt. Schiller tritt als säkularisierter Aufklärer zutage, der seine eigene Arbeit kritisch reflektiert und sie dadurch, wie Oellers zeigt, zum Forum einer modern anmutenden Selbstprüfung werden lässt.


Die meisten Autoren wählen den sicheren Weg

Im Strudel der Gedenk-Publikationen fällt auf, dass die Zeit des Überzeugungsstreits zwischen Schiller-Verklärung und Schiller-Verspottung vorbei zu sein scheint. Die meisten Autoren wählen einen sicheren Weg, fern von pointier­ten Thesen und klaren Umrissen. Ein spezifisches Schiller-Profil bleibt dabei ebenso auf der Strecke wie die Frage nach den Gründen seiner unabgegoltenen Modernität.

Der Berliner Publizist Friedrich Dieckmann erzählt die Geschichte des jungen Schiller, als hätte es in den letzten dreißig Jahren keine Forschung gegeben. Dass Schiller, der Eleve der Karlsschule, durch seinen Lehrer Jakob Friedrich Abel eine philosophische Erziehung erfuhr, die ihn mit den maßgeblichen Strömungen der Spätauf­klärung vom Empirismus bis zum universalgeschichtlichen Denken konfrontierte, weiß man seit längerem. Dass Schillers medizinische Ausbildung auf sein psychologisches Verständnis und die Fähigkeit zur Analyse leib-seelischer Zusammenhänge abfärbte, demonstrieren die frühen Dramen – vor allem «Die Räuber» –, aber auch Erzählungen wie «Der Verbrecher aus verlorener Ehre». Dass er durch die Vernunftkultur der Aufklärung und deren pädagogische Programme beeinflusst wurde, wird selbst dort deutlich, wo er sich als jugendliches Kraft­genie im Überschwang der Affekte präsentiert. Die Konvulsionen des erregten Zeitgeists sind ihm Fieberwellen der Vernunft, die beherrscht werden müssen, damit nicht das Chaos entfesselter Naturgewalt ausbricht.

Der stets neu provozierende Schluss der «Räuber», der in Karl Moor einen kapitulierenden Rebellen vorführt, zeigt Schillers merkwürdige Nähe zu sozialen Ordnungs­konstruktionen schon früh. An diesem Schluss erweist sich, dass – dem lieb gewordenen Klischee vom «Stürmer und Dränger» zum Trotz – der junge Autor vor allem ein Spätaufklärer ist, der, auch wenn er das Theater wie ein Usurpator erobert, auf Reform, nicht auf Revolte setzt. Der Lust an der Anarchie, die das Ancien Régime pulverisiert, steht schon hier der Wille zu Interessen-Balance und sozialer Befriedung entgegen.


Was fehlt, ist eine konzise These

Solche Konstellationen, die sich aus der Spannung zwischen Zeitgeist und individueller Autorschaft herleiten, interessieren Dieckmann nur wenig. Bei ihm regiert die Logik des Entwicklungsromans: Schiller beginnt als auftrumpfender Hitzkopf (die Karlsschul-Zeit wird nur kurz berührt) und läutert sich schließlich zum Realisten mit psychologischem Scharfblick. Aufschlussreich sind die Hinweise auf das Theaterwesen, die Zensur, die Freimaurerei und das Elend der Duodez-Fürstentümer – das Fehlen einer konzisen These bei der Auseinandersetzung mit Schillers Werk stört vor allem im Fall der Dramen. Damit bleibt Dieckmanns Buch eine Mischung aus Erzählung und geschicht­lich orientierter Textlektüre jenseits einer deutlichen Posi­tionierung (wie sie hier im Fall der Interpretation des «Geis­tersehers» als Roman über das Ancien Régime gelingt). So kann man leicht in die Idylle der geistreichen Plauderei entschwinden – ein Zug allerdings, den andere Leser an diesem Buch vermutlich gerade schätzen werden.


Eine aufregende Vita hat Schiller nicht zu bieten

Schiller ist ein problematischer Fall für Biografen. Wer sich weigert, den breiten Horizont seiner intellektuellen Prägungen auszumessen, gerät auf plattes Land. Wer seine Texte ignoriert und nur an Privatem interessiert ist, geht leer aus. Schillers Lebensgeschichte mit ihrer am Schluss fast puritanischen Konzentration auf Schreiben, Journal­geschäfte, Bühnenarbeit und Verleger-Korrespondenz kennt kaum markante Höhepunkte. Heiße Passionen, religiöse Erweckungserlebnisse, Reiseabenteuer, Weltanschauungs­krisen und oszillierende Selbstentwürfe finden sich bei ihm nicht. Bezeichnend, dass der Mann kein Tagebuch, sondern nur einen Kalender führte, in dem er seine finan­ziellen Ausgaben und Alltagsgeschäfte festhielt.

Begnügt man sich mit der Schilderung von Schillers Vita, so bleibt man auf der Ebene eines Portraitisten stehen, der die Linien eines Gesichts zeichnet, ohne dessen intellektuellen Ausdruck zu erfassen. Unterschätzung ist der Gestus, in dem der Schiller-Biograf, der allein auf das Leben schaut, seinem Gegenstand begegnet. Was solcherart entsteht, ist ein fades Spiel, bei dem der Autor als Doppelgänger seiner selbst – nur ohne Geist – nochmals durch die Laufbahn seines Lebens geschleift wird.


Fokus aller Neugier: Schillers Doppelliebe

Gleichwohl dominiert im Gedenkjahr der voyeuristische Blick hinter die Kulissen, am liebsten auf Schillers Doppelliebe. Die Bücher von Kirsten Jüngling und Brigitte Rossbeck sowie von Jörg Aufenanger versuchen – nach Eva Gesine Baurs Biografie der Ehefrau Charlotte Schiller und Ursula Naumanns Rekonstruktion der sozusagen klassischen Dreiecksgeschichte – erneut Annäherungen an eine der wenigen Episoden im Leben Schillers, die, neben der Flucht aus Stuttgart, Stoff für einen Roman hergibt. Sie thematisieren Schillers schwebendes Verhältnis zu seiner späteren Ehefrau Charlotte von Lengefeld und deren Schwester Caroline.

Auffallend ist zunächst die handwerkliche Differenz. Das Team Jüngling und Rossbeck arbeitet sehr solide aus den Quellen, wertet Korrespondenzen aus und tut dabei der philologischen Sorgfaltspflicht Genüge. Jörg Aufenanger hingegen liefert einen flott erzählten, im Niemandsland zwischen Roman und Küchenpsychologie angesiedelten Aufguss, ohne sich um Belege und Referenzen zu kümmern. Mehr als Alltagsgeschichte plus Kammer­spiel findet sich aber trotz einiger gelungener Portraits auch bei Jüngling und Rossbeck kaum. Von den großen historiografischen Projekten, die Schiller in den Jahren seiner Ménage à trois wälzte, erfährt man ebenso wenig wie von den in dieser Periode entstehenden Erzählungen («Der Geisterseher»), seinen weit gespannten publizistischen Unternehmungen und den ersten Kant-Lektüren, die er in Jena wagte. Zu Gesicht kommt so ein Schiller des profanen Lebens, der uns kaum sonderlich interessiert, weil das Wichtigste an ihm ausgespart wird: der Kopf.


Es schlägt die Stunde der Nachbereiter

Wo der analytische Zugriff fehlt, dominieren die Sammler und Nachbereiter. Aber benötigen wir wirklich noch eine zweite Schiller-Chronik nach der gut bewährten, die Gero von Wilpert erstmals 1958 und im Jahr 2000 in revidierter Auflage veröffentlicht hat? Und brauchen wir einen neuen Bild-Text-Band wie den von Heinz Stade, der uns – gewiss kundig – auf Schillers Spuren durch Württem­berg, Sachsen und Thüringen führt, da doch Axel Gellhaus und Norbert Oellers einen solchen bereits 1999, zudem im selben Verlag, publizierten?

Womöglich hilft angesichts der Vielzahl von Material-Sammlungen nur die Flucht in die Parodie. Wulf Sege­brecht präsentiert einen bunten Reigen feierlich-huldigender und mäßig komischer Nachahmungen des «Liedes von der Glocke», verknüpft durch Kommentare. So aufschlussreich dieses Panorama aus verschiedenen Epochen ist, so ermüdend wirkt doch auf Dauer das monotone Material. Von Segebrecht, einem der profundesten Lyrik-Kenner der germanistischen Zunft, hätte man sich ein Buch gewünscht, das der Frage nach der (möglichen) Modernität von Schillers Gedichten nachgeht und sich deren Höhenflügen wie Abgründen mit analytischem Anspruch stellt. Stattdessen aber ein Weg der Vorsicht und Risikofurcht: Der parodierte Klassiker Schiller wird, ohne dass der Verfasser etwas wagt, nochmals durch den Kakao seiner sattsam bekannten Rezeptionsgeschichte gezogen.

Betrachtet man also die Menge der Neuerscheinungen genauer, dann stellt man fest, dass Originelles und qualitativ Anspruchsvolles in der Regel fehlen. Die meisten Texte scheinen hastig zum Jubiläum, dem 200. Todes­tag am 9. Mai, geschrieben, und sie werden vermutlich vergessen sein, sobald sich der Feiertaumel gelegt hat. Angesichts des begrenzten Ertrags möchte man Norbert Oellers’ skeptische Prognose teilen. Zumindest ist nicht ausgemacht, dass nach den Stürmen des Schiller-Jubiläums eine dauerhafte und zugleich produktive Beschäftigung mit einem Schriftsteller einsetzt, dessen ästhetischer Anspruch bisher jede Epoche überfordert hat. Gern hätte man von den übrigen Autoren des Gedenkjahrs erfahren, in welcher Richtung Schiller neu zu lesen wäre. Eine Antwort auf diese Frage erhält man wohl nur, wenn man zu seinen Texten greift und das ständig wachsende Massiv des Sekundären unbesorgt hinter sich lässt.

 

Peter-André Alt, Jahrgang 1960, ist Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Würzburg. Für seine zweibändige Biografie «Schiller. Leben–Werk–Zeit» (2000) erhielt er soeben den Schillerpreis 2005.

 

Neue Bücher von und über Schiller

Friedrich Dieckmann
Diesen Kuß der ganzen Welt! Der junge Schiller
Insel, Frankfurt a. M. 2005. 360 S., 22,90 €

Norbert Oellers
Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst
Reclam, Stuttgart 2005. 512 S., 19,90 €

Jörg Aufenanger
Schiller und die zwei Schwestern
dtv, München 2005. 197 S., 12,50 €

Kirsten Jüngling, Brigitte Rossbeck
Schillers Doppelliebe. Die Lengefeld-Schwestern Caroline und Charlotte
Propyläen bei Ullstein, Berlin 2005. 352 S., 22 €

Marie Haller-Nevermann
Friedrich Schiller. Ich kann nicht Fürstendiener sein. Eine Biographie
Aufbau, Berlin 2004. 302 S., 24,90 €

Eva Gesine Baur
«Mein Geschöpf mußt du sein.» Das Leben der Charlotte Schiller
Hoffmann und Campe, Hamburg 2004. 430 S., 24,95 €

Ursula Naumann
Schiller, Lotte und Line. Eine klassische Dreiecksgeschichte
Insel TB, Frankfurt a. M. 2004. 195 S., 8 €

Heinz Stade
Unterwegs zu Schiller
Mit Fotografien von Falko Behr.
Aufbau TB, Berlin 2005. 255 S., 9,95 €

Hans-Joachim Simm (Hg.)
Friedrich Schiller zum 200. Todestag. Insel-Almanach auf das Jahr 2005
Insel, Frankfurt a. M. 2004. 323 S., 12,80 €

Karin Wais, Rose Unterberger (Hg.)
Die Schiller-Chronik
Insel, Frankfurt a. M. 2005. 351 S., 28 €

Wulf Segebrecht
Was Schillers Glocke geschlagen hat. Vom Nachklang und Widerhall des meist parodierten deutschen Gedichts
Hanser, München 2005. 176 S., 14,90 €

Burkhard Müller
Der König hat geweint. Schiller und das Drama der Weltgeschichte
Zu Klampen, Springe 2005. 160 S.,14 €

Dieter Kühn
Schillers Schreibtisch in Buchenwald. Bericht
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2005. 255 S., 18,90 €

Peter Braun
Schiller, Tod und Teufel. Rede des Herrn von G. vor einem Totenschädel
Artemis & Winkler, Düsseldorf 2005. 100 S., 9,90 €

Friedrich Schiller
Schöne Briefe
Hg. von Norbert Oellers.
DuMont, Köln 2004. 212 S., 98 €

Friedrich Schiller
Sämtliche Werke in zehn Bänden
Berliner Ausgabe. Hg. von Hans-Günter Thalheim u. a.
Aufbau, Berlin 2005. 9472 S., 320 €

Oliver Tekolf (Hg.)
Schillers Pitaval. Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit, verfaßt, bearbeitet und hg. von Friedrich Schiller
Die Andere Bibliothek bei Eichborn, Frankfurt a. M. 2005. 420 S., 32 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.