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Erfundene Reiseberichte - Raum zum Träumen

Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt, dass die ganz großen Reisenden, deren Berichte bis heute gelesen werden, die von ihnen beschriebenen Länder niemals betreten haben. Pierre Bayard erklärt, warum die erfundenen Reiseberichte noch immer die besten sind

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Peter, Stefanie

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Warum ist es eigentlich oft so langweilig, wenn einem Freunde von ihren Reisen erzählen? Wenn sie, stets um Vollständigkeit bemüht, ihren mehr oder minder exotischen Trip in allen Einzelheiten darlegen, das Ganze womöglich durch eine Diashow im handelsüblichen Computerprogramm anreichern – musikalische Untermalung und raffinierte Überblendungstechniken inklusive – um dann doch bloß Allerweltsmeinungen kundzutun, bis noch dem letzten Zuhörer die Augen zufallen. Der französische Literaturprofessor und Psychoanalytiker Pierre Bayard hätte darauf eine einfache Antwort parat: Dass solche Berichte ermüden und man aus ihnen kaum etwas über fremde Kulturen erfährt, liegt daran, dass die Reisenden tatsächlich vor Ort waren. Physische Anwesenheit, so Bayard, ist nämlich weder ein Garant für Erkenntnis, noch muss daraus ein guter Reisebericht folgen. Im Gegenteil: Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt, dass die ganz großen Reisenden, deren Berichte bis heute gelesen werden, die von ihnen beschriebenen Länder niemals betreten haben.

Idealtypisch ist hier wohl Phileas Fogg, der Held aus Jules Vernes «In 80 Tagen um die Welt», von dem es heißt: «Die Stadt zu besichtigen kam ihm erst gar nicht in den Sinn, da er zu jener Sorte von Engländern gehörte, die die Länder, durch die sie reisen, von ihren Bediensteten besichtigen lassen.» Soll das ein Scherz sein? Nein. Aber es ist natürlich weitaus komplizierter, als man denkt, denn ­Pierre ­Bayard führt seine Leser mit Vorliebe an der Nase herum. Wie sonst ließe sich der durchschlagende Erfolg seines letzten Buches mit dem Titel «Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat» erklären, das in Frankreich zum Besteller und sodann in etliche Sprachen übersetzt wurde. Hatte Bayard dort eine Theorie des Lesens als Nicht-Lesen skizziert, so ist sein neues Buch «Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist» ein kluges und gewitztes Plädoyer für das sesshafte Reisen.

Gewidmet ist es natürlich Immanuel Kant, der schließlich – wie bis heute jeder angehende Philosophiestudent lernt – seine Geburtsstadt Königsberg niemals verlassen haben soll, es sich aber trotzdem nicht nehmen ließ, fremde Länder zu beschreiben oder zu kommentieren. Ähnlich wie Kant sind auch Marco Polo, Chateaubriand, Karl May, Margaret Mead, Édouard Glissant und Blaise Cendrars verfahren. Sie alle waren einmal in der Situation, über Orte sprechen zu müssen, an denen sie nicht gewesen sind. Bayard erzählt nun, wie sie dieses Problem gelöst haben und entwickelt dabei eine Typologie der Fernbeobachtung.

Zum Beispiel Marco Polo: Was er über China schreibt, ist mit Imaginärem und Phantastischem nur so gespickt. Der venezianische Händler wird bis heute begeistert gelesen und als vertrauenswürdige Quelle behandelt, auch wenn längst nachgewiesen ist, dass er kaum über Konstantinopel hinausgekommen ist. Viele Details hat er den Berichten anderer Reisender entnommen oder auch frei erfunden. Gerade deshalb bieten Marco Polos Reiseberichte aber die Möglichkeit, «außerhalb der Zwänge der Wissenschaft einen Raum des gemeinsamen Träumens aufzubauen.» Und das ist für den Psychoanalytiker Bayard nun einmal die Aufgabe guter Reiseberichte: dass sie die Orte in «den verallgemeinerbaren Raum einer kollektiven Mythologie» stellen, in der sich viele Leser wiedererkennen können.

Genau das gelang zum Beispiel der Anthropologin Margaret Mead. Während ihrer Feldforschung in der Südsee Ende der 1920er-Jahre war sie mangels Sprachkenntnis an der teilnehmenden Beobachtung gescheitert und zu einer amerikanischen Familie gezogen. Mit Hilfe zweier Informantinnen verfasste sie dennoch ihre berühmte Studie «Kindheit und Jugend in Samoa» über die angeblich freie Sexualität der Jugendlichen auf den Pazifik-Inseln. Das imaginäre Samoa der Margaret Mead entsprach kaum der Realität, wurde aber von der Wissenschaftsgemeinde zunächst als realistisches Dokument begrüßt. Den amerikanischen Lesern bot es einen Ort, auf den sie ihre unbewussten Wünsche projizieren und «dank dem sie mit einem zeitlichen Vorsprung die Befreiung der Sitten denken konnten».

Nach Pierre Bayard geschieht die Annäherung an einen unbekannten Ort durch Imagination und Reflexion, durch «schwebende Aufmerksamkeit» – wie es bei Sigmund Freud heißt. Physische Anwesenheit ist dabei zweitrangig. Zur Untermauerung seiner These führt der Autor neben bekannten Schriftstellern auch allerhand Hochstapler und kontroverse Figuren wie den Journalisten Jayson Blair an, dessen frei erfundene Reportagen ihn seinen Job bei der New York Times kosteten. Oder die Läuferin Rosie Ruiz, die völlig überraschend den Boston-Marathon gewann, weil sie, wie sich herausstellte, einen Teil der Strecke in der U-Bahn zurückgelegt hatte. Ihr Betrug flog auch deshalb auf, weil sie es nicht vermocht hatte, besagten Streckenabschnitt genau zu beschreiben. Wer weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn sie eine bessere Geschichtenerzählerin ge­wesen wäre.

Pierre Bayard
Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist
Kunstmann, München 2013.
224 S., 18,95 €

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