Neue Wirtschaft - Reiche im Cyberspace

Das Netz der digitalen Elite birgt tolle Hechte und eigenwillige Identitätsspiele

Es war einmal, 1984, da entstand die Welt des «Neuromancer», der Cyberspace: «Eine Konsens-Halluzination, tagtäglich erlebt von Milliarden zugriffsberechtigter Nutzer in allen Ländern... Unvorstellbare Komplexität. Lichtzeilen im Nicht-Raum des Verstands, Datencluster und -konstellationen. Wie die zurückweichenden Lichter einer Stadt...» Irgendwann hat Case, der Held des Romans, genug von diesem Ort gehört, er heftet sich die Elektroden an die Stirn und driftet selbst in die Matrix.

Der Cyber-Cowboy Case erblickte das Licht der Datenwelt im Jahr des Großen Bruders, aber seine Umgebung hat nur wenig gemein mit der grauen Vision George Orwells. Sie leuchtet, wenn auch dunkel, in allen Farben. Dass der Heyne Verlag den «Neuromancer» kürzlich neu aufgelegt hat, ist kein Zufall: William Gibson, der Autor, lässt sich ohne Übertreibung zu den Erfindern der gegenwärtigen Computerrealitäten zählen. Nicht nur ist sein Begriff «Cyberspace» heute in jedem Lexi­kon verzeichnet, nicht nur hört seit dem «Neuromancer» ein ganzes Science-Fiction-Genre auf den Namen Cyberpunk, seine Bücher stehen auch im Regal von Bill Gates.

Ob es stimmt oder nicht: Die Eliten des Hightech werden nicht müde zu betonen, dass Texte wie der «Neuromancer» spürbar «Einfluss auf die ästhetische und politische Ausrichtung des Cyberspace» aus­üben; so formulierte zuletzt der Künstliche Intelligenz-Forscher Vladimir Bugaj. Weit davon entfernt, das Medium Buch schlicht vergilben zu lassen, hat sich die Cyber-Elite einen eigenen literarischen Kanon gebastelt. Wie stabil er ist, lässt sich daran ermessen, dass auch die schärfsten Kritiker eben jener Elite den Namen Gibson nur mit Hochachtung in den Mund nehmen.

Zum Beispiel Paulina Borsook. Wenn sie in ihrem gerade erschienenen Buch «Schöne neue Cyberwelt» auf Gibson, diesen «meisterlichen Science-Fiction-Autor», zu sprechen kommt, grenzt sie sein Werk ausdrücklich ab von einer Bewegung, die nur zwei Buchstaben vom Cyberpunk entfernt erscheint: die Cypherpunks. Diese wehren sich seit den späten achtziger Jahren gegen die Kontrolle persönlicher Daten in digitalen Netzen. Anlass zu solchem Engagement gibt es genug, etwa die Versuche der US-
Regierung, die Verbreitung wirksamer Verschlüsselungstechnologien für den elektronischen Datenverkehr zu unterbinden.

Dennoch gehören die Cypherpunks zu Borsooks liebsten Gegnern: «30-jährige Steuerverweigerer, die noch bei den Eltern leben», Hightech-Ingenieure, deren privatis­tisches Weltbild in kaum verhüllten Sozialdarwinismus umschlage. Ginge es nach diesen «Desperados», bestünde die gesellschaft­liche Zukunft in einer Expertenherrschaft nach dem Vorbild der Alpha-Männchen in der «Schönen neuen Welt».

Wenn Neil Postman unter demselben von Huxley geliehenen Motto einst die angebliche Kulturvergessenheit in der Fernsehwelt beklagte, so schimpft Borsook auf die Staatsvergessenheit in der Computerwelt. Ihre These: Die verschiedenen Fraktionen der «digitalen Elite» – die anarcho-kapitalistischen Cypherpunks, hedonistische Raver, sozialkonservative Hightech-Denker, lebensästhetische Trendforscher – teilen eine Haltung, die Borsook «technolibertär» nennt.

Die Technolibertären sind nicht zu verwechseln mit den wohlfahrtsstaatlich orientierten amerikanischen liberals, vielmehr verherrlichen sie die Macht des Marktes, kennen kein gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein und neigen zu biologistischen Denkfiguren, reaktionäre Frauenbilder inbegriffen – ähnlich brandmarkte auch der Soziologe Richard Barbrook vor einigen Jahren bereits die «kalifornische Ideologie». Borsook vertei­digt demgegenüber die «nicht ganz so unsicht­bare und nicht ganz so schlechte Hand» des Staates. Ausbildung, Infrastruktur und Subven­t­ionen hätten den Hightech-Boom erst ermög-  ­licht, und so sei es an der Zeit, den «Cyber-Egoismus» zu beenden. Die Dotcom-Millionäre könnten die Gesellschaft ähnlich großzügig mit Spenden bedenken wie das ehrwür­dige Unternehmen Hewlett-Packard.

Paulina Borsook hat den Aufstieg der digitalen Elite Mitte der neunziger Jahre als Autorin der Cyberkultur-Zeitschrift «Wired» erlebt, an der publizistischen Front also. Sie ist vorzüglich informiert; umso mehr überrascht ihr defensiver Glaube an den starken Arm der Regierung. Denn es spricht denkbar wenig dafür, dass ausgerechnet vom Nationalstaat Rettung zu erwarten wäre, während eine Hand voll Großkonzerne technische Standards bestimmen – und damit auch Ein- und Ausschlussregeln für das World Wide Web festlegen.

Nein, Borsooks Erfahrung in Sili­con Valley äußert sich nicht in einer Kritik, die dem Netz als Medium gerecht würde, sie schlägt sich vielmehr in dem zweifelhaften Charme eines Aussteigerberichts nieder. Persönliche Betroffenheit quillt aus jedem Abschnitt, mühsam unterdrückte Verbitterung über die ehemaligen Kollegen von «Wired» oder Empörung im Namen der eigenen Schwes­ter, die im klassischen Dienstleistungssektor keinen Job mehr findet. Was bleibt, ist ein berechtigter, aber undifferenziert gellender Warnschrei.

Beobachter, die ohne ideologiekritischen Ballast auskommen, haben die digitale Elite längst als Beschreibungsobjekt entdeckt: Wirtschafts- und Gesellschaftsreporter portraitieren in aller Regelmäßigkeit die Fürsten des neuen Silizium-Adels. Einer, der dieses Handwerk beherrscht, ist der «Newsweek»-Mitarbeiter David A. Kaplan. Er hat ein knappes Jahr in Silicon Valley gelebt und berichtet jetzt auf 440 Seiten über die «digita­le Traumfabrik und ihre Helden». Die Apple-Gründer Steve Wonzniak und Steve Jobs, Jim Clark und Marc Andreessen von Netscape, Jerry Yang und David Filo von Yahoo: Kaplans Protagonisten treten vorzugsweise paarweise auf, offenbar lassen sich so die Rivalitäten und Glanztaten aus der männerbündischen Welt des Hightech am besten erzählen. Einzeln sind die Kapitel über Erfinder, Software-Architekten und Venture-Kapitalisten widerstandslos lesbar.

Gleichwohl bleibt das Buch insgesamt so einschläfernd wie zehn lange «Spiegel»-Titelgeschichten am Stück: Man begegnet lauter ähnlich tollen Hechten mit ähnlich menschlichen Abgründen. Und so offenbart Kaplan, ohne es zu wollen, ein Problem, das sein Buch mit Paulina Borsooks Streitschrift teilt: Geschichten von Helden, seien es gute oder böse, taugen kaum, um das Besondere der vernetzten Computer zu vermitteln.


Paradies für unsere Seelen

Die Physikerin Margaret Wertheim wählt einen anderen Weg. Sie verzichtet auf Glamour oder Gesinnungen der handelnden Personen als analytische Basiskategorien. Stattdessen nimmt sie William Gibsons Metapher vom Cyberspace beim Wort und erzählt eine Kulturgeschichte des Raums. Ausgangspunkt ist die Körper und Seele ganzheitlich umfassende Konzeption aus Dantes «Göttlicher Komödie». Es folgen das dreidimensionale Koordinatensystem des 17. Jahrhunderts und Newtons Kosmologie. Schließlich wird die völlige Verräumlichung des physikalischen Denkens im 20. Jahrhundert dargestellt, die mit der Integration der Zeit als vierter Dimension einsetzt. Erst dann bezieht Wert­heim diese Vorarbeiten, die gleichwohl über die Hälfte des Buches ausmachen, auf die gegenwärtigen Computerrealitäten. Und so ist es nicht ihr geringstes Verdienst, den zukunftstrunkenen Cyber-Utopisten, -Kritikern und -Hofberichterstattern eine Geschichte entgegenzuhalten.

Die kursierenden mythischen Zuschreibungen der «Schönen neuen Welt» führt Wertheim auf christliche Motive zurück: Der «Cyberspace wird uns, wie der Himmel, angekündigt als entkörperlichtes Paradies für unsere Seelen». Dabei erkennt auch Wertheim in den Computernetzen etwas grundsätzlich Neues, aber sie spricht davon, ohne in die Rhetorik des Neuen Jerusalem zu verfallen. Nachdem man die fremde Ganzheitlichkeit des Danteschen Raums und den elfdimensionalen Hyperraum der heutigen Physik nachvollzogen hat, leuchtet es ein, auch den Cyberspace als eigenes «Territorium» zu betrachten. Er wächst wie ein physikalischer Raum, gründet auf der Chemie des Siliziums – und ist als Phänomen doch mehr als die Summe seiner Teile: «Wenn ich in den Cyberspace ‹gehe›, lasse ich die Gesetze Newtons und Einsteins hinter mir.»

Auf dieses immaterielle Reich konzentriert sich Wertheim, wenn sie zum Beispiel MUDs («Multi-User Domains») beschreibt – jene elektronischen Fantasy-Welten, in denen zum Teil hunderte Nutzer gemeinsam in andere Rollen schlüpfen. Die MUDs seien ein Musterbeispiel für Gibsons «Konsens-Halluzination», so Wertheim, und ermöglichten den Beteiligten vielfältige Identitätsspiele – der jungen Versicherungsangestellten etwa das Vergnügen, den Feierabend als sprechendes Tier zu verbringen. Wertheim begrüßt diese Gruppenphantasien in dem Maße, wie sie soziales Verhalten einüben. Ihre Kritik setzt ein, wo sie Eskapismus erkennt, Weltflucht, die im Traum von der Unsterblichkeit einer «Cyber-Seele» kulminiert.

Am Ende des «Neuromancer» wird eine virtuelle Version von Case in die Matrix eingespeist, und auch seine ermordete Freundin Linda Lee lebt als Cyber-Kopie weiter. Paradiesische Visionen wie diese haben längst Eingang in die Phantasien von Wissenschaftlern gefunden. Wertheim benennt klar die Voraussetzung solcher Vorstellungen: dass der Mensch mit Hilfe elektrischer Daten, kodifiziert in Nullen und Einsen, reproduziert werden könne. Es gehört zu den stärksten Passagen ihres Buches, wie sie diese Unterstellung behutsam, aber deutlich auf die Vergöttlichung von Zahlen im pythagoreischen Denken zurückführt.

Dennoch unterlaufen Wertheim manch­mal folgenreiche Kurzschlüsse. Da erscheint die «Göttliche Komödie» als «echt mittelalterliches MUD» und Dantes Liebe zu Beatrice als «erste virtuelle Liebe» im Sinne der Online-Begegnungen. Aber tatsächlich lässt sich das Eintauchen in elektronische Fantasy-Welten nicht mit der linearen Logik des Lesens gleichsetzen. So entgleiten auch dem historisierenden Ansatz der Physikerin charakteristische Eigenheiten der Computernetze. Und das, obwohl der Blick in die Vergangenheit die Sensibilität für die komplexe Lage gerade schärfen müsste: neue Medien, verstrickt in historische Ungleichzeitigkeiten. Selbst dafür könnte William Gibson noch als Studienobjekt dienen: Den «Neuromancer» hat er auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt.

 

Erwähnte Bücher

Paulina Borsook
Schöne neue Cyberwelt. Mythen, Helden und Irrwege des Hightech
Aus dem Englischen von Hubert Beck.
dtv, München 2001. 340 S., 30 DM

William Gibson
Die Neuromancer-Trilogie
Aus dem Amerikanischen von Reinhard Heinz und Peter Robert.
Heyne, München 2000. 1004 S., 20 DM

David A. Kaplan
Silicon Valley. Die digitale Traumfabrik und ihre Helden
Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober.
Heyne, München 2000. 440 S., 39,90 DM

Margaret Wertheim
Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet
Aus dem Englischen von Ilse Strasmann.
Ammann, Zürich 2000. 360 S., 48 DM


Links

www.cyberselfish.com
(offizielle Website von P. Borsook)

www.transaction.net/people/paulina.html
(inoffizielle Website von P. Borsook)

www.activism.net/cypherpunk/manifesto.html
(A Cypherpunk’s Manifesto)

www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/1997.html bzw. www.telepolis.de
(Richard Barbrook u.a.: Die kalifornische Ideologie, dt. Übers.)

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